6611870-1955_05_03.jpg
Digital In Arbeit

Die zwei Leitartikel der Prawda

Werbung
Werbung
Werbung

Vor einigen Monaten gab die „Prawda“, und damit die Parteizentrale selbst, durch einen Leitartikel das Signal zu einem neuen antireligiösen Propagandafeldzug. Dieser Artikel der „Prawda“ war an sich interessant genug. Außer der Feststellung, daß die Kommunistische Partei weiterhin atheistisch und religionsfeindlich bleibe, wird in dem Artikel Klage darüber geführt, daß die religiösen Organisationen erhebliche Erfolge nicht nur unter der Bevölkerung im allgemeinen, sondern sogar unter den eingeschriebenen Mitgliedern der Kommunistischen Partei zu verzeichnen haben. Wenn auch eine Minderheit, so sei doch auch ein Teil der Jugend von religiösem „Vorurteil“ und „Aberglauben“ erfaßt. Auch zahlreiche Kommunisten besuchten Kirchen und ließen an ihren Kindern religiöse Handlungen vollziehen. Der Artikel verlangte also eine intensive „Aufklärungskampagne“. •

Es erschienen nun in der Sowjetpresse Aufsätze, die den Atheismus propagierten und die Religion zu bekämpfen suchten. Im Vergleich zu den früheren Zeiten intensiver antireligiöser Propaganda waren jedoch diese Artikel verhältnismäßig zurückhaltend. Allerdings wurde auch bekannt, daß in Versammlungen der Komsomolzen sowie in Parteiversammlungen, ja selbst in den Schulen antireligiöse Vorträge schärfere Töne angeschlagen hatten.

Die antireligiöse Kampagne dauerte erst etwas über einen Monat, da erschien in der „P rawda“ wieder ein Leitartikel, der eine direkte Sensation hervorrief. Zweifellos handelte es sich hier um einen direkten Befehl der Parteizentrale. Man war jedoch erstaunt, daß dieser Befehl öffentlich in Form eines Artikels allgemein zur Kenntnis gebracht wurde. Man hatte ja schon vorher das, was in dem Artikel stand, durch nicht publizierte Direktiven den Parteiorganisationen anbefohlen. Die Sensation bestand also nicht darin, daß durch diese Artikel der antireligiöse Feldzug abgeschlossen wurde — das war ja schon einmal im Jahre 1935 geschehen —, sondern eben, daß es in aller Oeffentlichkeit erfolgte. Der zweite Artikel in der „Prawda“ war nur darum veröffentlicht worden — das war aus dem Inhalt deutlich ersichtlich —, um der russischen pravo-slawen Kirche Genugtuung zu geben. Um das Gesicht zu wahren, verlangte zwar der Artikel die Fortsetzung der antireligiösen „Aufklärung“ auf „wissenschaftlicher“ Grundlage. Dann ging er aber mit den Parteiorganisationen und mit den Sowjetbehörden scharf“ ins Gericht. Die Parteiorganisationen hätten es bei diesem Feldzug an Takt fehlen lassen ... Die religiösen Gefühle dürften durch eine solche Propaganda nicht verletzt werden. Es dürfe auch nicht vorkommen, daß die Geistlichkeit beleidigt oder auch nur in ihren Gefühlen verletzt werden könnte. So etwas stand seit 37 Jahren das erste Mal im Presseorgan der Kommunistischen Partei. Die Sowjetbehörden in der Provinz wurden beschuldigt, durch administrative Maßnahmen sich nicht nur in das Leben der kirchlichen Organisationen eingemischt, sondern sogar religiöse Handlungen gestört zu haben. Das wurde scharf gerügt und streng verboten. Der antireligiöse Feldzug war zu Ende.

Bald darauf veröffentlichte der Patriarch Alexis einen Aufruf an „alle Christen der Welt“, die „Friedenspolitik“ Moskaus zu unterstützen, und demonstrierte damit den Willen der russischen Kirche, der Sowjetaußenpolitik weiterhin Gefolgschaft zu leisten. Auch damit war die Angelegenheit noch nicht erledigt. Denn einige Zeit darnach verkündete eine amtliche Bekanntmachung, daß der Ministerpräsident Malenkow den Patriarchen von ganz Rußland, Alexis, empfangen habe. Das zweite Mal in der Geschichte der Sowjets ist also der Patriarch vom sowjetischen Regierungschef empfangen worden. Das erste Mal von Stalin, knapp vor Eintritt der Sowjetunion in den Krieg, gleich nachdem die Sowjetregierung nach beinahe zwei Jahrzehnten die Wahl eines Patriarchen gestattet hat. Mit diesem hochotfiziellen Empfang wurde also demonstriert, daß Patriarch und Kirche zu respektieren seien.

Warum die Leitung der Kommunistischen Partei gerade jetzt die erstere Tat gesetzt, also den antireligiösen Feldzug angeordnet hat, ist leicht zu verstehen. Im Grunde genommen, war es eine schon längst fällige Routineangelegenheit. Wie heute die innere Lage in der Sowjetunion ist, mußte die Parteileitung demonstrieren, daß die Grundsätze der Parteileitung erhalten bleiben. Das Entgegenkommen in der

Wirtschaftspolitik an die „Eigentumsinstinkte der Bauern“, der immer bürgerlicher erscheinende Lebensstil der Funktionärklasse, das alles muß in der Partei einen radikalen Flügel schaffen, der daran zweifelt, daß die Kommunistische Partei der Sowjetunion noch die alte geblieben sei. Die Religion war nun das einzige Gebiet, auf dem die Partei demonstrieren konnte, daß sie eben doch alten Grundsätzen treu geblieben war.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat aber in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel an Einfluß gewonnen. Noch im Jahre 1933, schon gegen Ende des Kirchensturmes, hatte die kirchliche Organisation einen kläglichen Eindruck gemacht. Die vernichtenden Streiche der Verfolgung schienen sie ins Mark getroffen zu haben: gesperrte oder zerstörte Kirchen, bettelnde Geistliche, keine zuständige Obrigkeit ...

Und heute? Die russische Kirche ist eine mächtige Organisation. An ihrer Spitze stehen keine Kommunisten. Das Kloster der Dreifaltigkeit des heiligen Sergius ist heute mit seinen Kathedralen und Palästen eine prachtvolle Residenz des Patriarchen. Beinahe ein Dutzend Priesterseminare und mindestens zehn theologische Hochschulen bilden den Priesternachwuchs- heran. Damit hat die russische Kirche eigentlich jenes Schulsystem, das sie verlangt. Denn sie hat immer nur auf Schulen reflektiert, die den Priesternachwuchs vorbereiten. Das Niveau der heutigen Schulen ist weit höher als zur Zeit des Kaiserreiches. Die russische Geistlichkeit, obwohl sie äußerlich genau so aussieht wie einst, ist doch eine ganz andere. Es sind nicht mehr die gedrückten, oft armseligen Typen, die nur darum Geistliche geworden sind, weil sie Söhne des Klerus waren und gar keine andere Berufswahl hatten. In der blutigen Hölle der religiösen Verfolgungen sind sie geistig stark geworden. Und es gibt keinen Mangel an jungen Leuten, die in die Seminare und geistlichen Akademien eintreten wollen. Es ist auch nicht richtig, wie man im Westen auf Grund mancher Aeußerlichkeiten annimmt, daß die russische Kirche vor dem kommunistischen Staat unterwürfig kriecht. Sie hat wohl auf die Güter und Schätze verzichtet, die ihr der Staat enteignet hat, aber auf geistigem Gebiet keine Konzessionen gemacht. Daß die russische Kirche die Sowjetregierung in ihr Gebet aufgenommen hat, so wie einst den Zaren und seine Regierung, widerspricht nicht dem Wesen und der Tradition der russischen Kirche. Schon Patriarch Tichon hat das 1923 angeordnet. Daß die Pfarrer die Gläubigen ermahnen, besser zu arbeiten und Patrioten zu sein, auch das ist selbstverständlich. Denn die heutige sowjetische Politik ist ja russisch-nationalistisch. Wer jedoch die dicke Zeitschrift „Journal des Moskauer Patriarchates“ liest, wird erstaunt sein. Die vielen historischen und theologischen Aufsätze sind streng kirchlich und religiös. Es gibt in ihnen auch nicht einen einzigen Hauch marxistischer Weltanschauung.

Im Innern hat die Kirche hohes Ansehen erlangt. Die Kirchenfürsten werden mit Orden ausgezeichnet und sind Ehrengäste bei nationalen Festlichkeiten. Reisen sie ins Ausland, so muß die Sowjetdiplomatie ihnen die größte Ehrerbietung bezeigen. Die Geistlichkeit in ihrer Gesamtheit gehört zur „Intelligentsia“ und genießt deren Privilegien. Die außenpolitische Bundesgenossenschaft mit der Sowjetregierung hat sich für die russische Kirche gelohnt. Die Erfüllung des Traumes von Moskau als dem „dritten Rom“ ist nahe herangerückt ... Der Moskauer Patriarch hat den historischen ökumenischen Patriarchen in Istanbul in den Schatten gestellt. Seine geistige Autorität erstreckt sich auf mehr als drei Viertel der pravoslawen Welt. Nur die Kirche von Griechenland ist noch moskaufeindlich. Sonst nur noch einige Bistümer der russischen antibolschewistischen Emigration. Der zweite ökumenische Patriarch der Pravoslawie, der von Initschin, neigt zu Moskau. Mit Hilfe des Sowjetstaates hat die russische Kirche gewaltsam die kirchliche Union rückgängig gemacht. Die griechisch-katholische Kirche, die Kirche, die zwar den griechischen Ritus benutzt, jedoch Rom unterstellt ist, ist so gut wie vernichtet. Umgekehrt ist es der russischen Kirche gelungen, den ersten Keil in die katholische Welt des Slawentums zu treiben. In Polen und in der Tschechoslowakei begründete sie die polnische bzw. tschechische autokephalen Kirchen. Das hatte sie sich früher auch nicht träumen lassen. Denn die ersten Versuche dieser Art unter dem Zarismus sind fehlgeschlagen. Das Moskauer Patriarchat zeigt deutlich sein nächstes Ziel — die Vereinigung aller slawischen Völker auf Grund einer einzigen Religion. Der Sowjetstaat hat der russischen Kirche noch einen anderen Gefallen getan. Die vielen Sekten, die von alters her in Rußland bestanden und die die russische Kirche am meisten bedrohten, sind vernichtet oder weit zurückgedrängt worden.

Schritt für Schritt erobert die russische Kirche eine Position nach der andern. Nicht nur residiert der Patriarch imponierend in seiner großen und prachtvollen Residenz, nicht nur sind eine Anzahl der einst geschlossenen Kirchen wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt, nicht nur besitzt die Kirche wieder ein Netz geistlicher Schulen. Die Glocken läuten wieder, kirchliche Prozessionen, wenn auch nicht so oft wie früher, finden wieder öffentlich statt. Es ist bezeichnend, daß der Patriarch der Lehrerschaft der geistlichen Akademien auch die staatlich geschützten Titel „Professor“ und „Dozent“ verleihen darf, womit der öffentliche Hochschul-

Charakter dieser Schulen für russische Begriffe anerkannt wird.

So ist es eigentlich nicht verwunderlich, daß das nur zum Schein angefachte Feuerlein der antireligiösen Kampagne wieder ausgetreten werden mußte. Die radikalen und antiklerikalen Kreise der Partei hatten zuerst in dem Befehl Morgenluft gewittert. In der Provinz nahm die antireligiöse Kampagne alte Formen an: Beschimpfung der Religion und des Klerus; die lokalen Sowjets begannen religiöse Prozessionen und Versammlungen zu verbieten. Die Kifche reagierte darauf zwar ruhig, jedoch sehr fest. Sie ist jetzt straff organisiert. Jeder solche Fall wurde von der Geistlichkeit dem Patriarchat gemeldet. Und in jedem solchen Fall protestierte das Patriarchat beim staatlichen ,,Rat für die russische Kirche“. Dieser Rat ist das während des Krieges geschaffene Sowjetorgan, das theoretisch das Kircheneigentum verwaltet und den Gebrauch dieses Eigentums durch die Kirche regelt. Er ist jedoch schon längst zu einer Verbindungsstelle zwischen Kirche und Staat geworden. Durch ihn werden die Wünsche der Kirche an den Staat und auch umgekehrt geleitet. Bei jedem Protest erklärte die Kirche, daß die Sowjetverfassung und das Sowjetgesetz verletzt sei und drohte, die im Sowjetstaat doch vorhandenen Rechtswege zu beschreiten. Das genügte. Im Kreml verstand man sofort, daß man einen Kampf mit der heutigen mächtigen Organisation der Kirche nicht riskieren konnte. Es zeigte sich auch, daß beide einander brauchen. Zu eng ist heute bereits die Bundesgenossenschaft zwischen Sowjetimperialismus und russischer Kirche. Als Stalin 1935 den Frieden mit der russischen Kirche beschloß,-begnügte sich diese damit, stillschweigend das Aufhören der Verfolgungen anzunehmen. Obwohl sie damals Siegerin war, unternahm sie nichts, um diesen Sieg öffentlich zu demonstrieren. Wie war das damals? Stalin schloß

1934 seinen Frieden mit den Bauern. In der Bevölkerung fühlte man ein Nachlassen des Terrors. Und bereits die Osternacht des Jahres

1935 wurde von der Bevölkerung zu einer gewaltigen Demonstration für die Religion benutzt. Stalin hielt damals seine wirklich historische Rede, in der er die Einstellung des Kampfes gegen die Religion befahl und begründete. Ueber Nacht wurden die vielen antireligiösen Museen geschlossen. Innerhalb weniger Wochen wurden die antireligiösen Zeitschriften und Zeitungen eingestellt. Es dauerte jedoch noch fünf Jahre, bis die Sowjetregierung es gestattete, daß ein Patriarch gewählt wurde. Und dann noch einige Zeit, bis Stalin den Patriarchen empfing. Heute schweigt die Kirche nicht. Die Parteileitung mußte ihren eigenen Organisationen in Form eines Leitartikels im Zentralorgan eine scharfe Rüge erteilen. Eigentlich sich selbst. Und bald darauf empfing der Ministerpräsident den Patriarchen hochoffiziell. Dieser Empfang macht den Eindruck einer Verbeugung vor der Kirche.

Der ganze Vorgang zeigt sehr deutlich zwei wichtige politische Tatsachen. Die eine ist, daß Staat und Kirche im heutigen Rußland bereits so aufeinander angewiesen sind, daß sie keinen ernsteren und dauernden Zwiespalt aufkommen lassen können. Es zeigt aber auch, daß bereits in der Sowjetunion starke Kräfte außerhalb der Kommunistischen Partei vorhanden sind, mit denen der Sowjetstaat nicht mehr beliebig umspringen kann. Eine davon, und die stärkste, ist die russische Kirche.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung