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Wien

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Wien erlebt, kurz vor Jahresende, als 6. Abend der festlichen Wiedereröffnung des Burgtheaters, die Uraufführung des Stückes „Schafft den Narren fort“ (Take the Fool away) von J. B. Priest-ley, in der Uebertragung von Inge Maria Leddihn (diese sehr kluge Eindeutschung muß besonders gelobt werden, sie setzt die Akzente durch dialektische Einfärbungen einzelner Rollen scharf und richtig). „Das Stück spielt spät am Abend des 31. Dezember 1899 und sehr früh am Morgen des 1, Jänner 1900 — aber der größte Teil spielt in einer anderen Zeit, vielleicht schon in allernächster Zukunft.“ — Priestley ist Moralist, Geseüschaftskritiker, Schriftsteller und Theatermann in einem spezifisch englischen Sinne, wie ihn nur die englische Gesellschaft mit ihrem vielhundertjährigen Ringen um Selbsterhellung, Selbstkritik und Selbstüberwindung produzieren konnte. Seine Sache — und ihre Sache — ist nicht das „Poetische“, die Verdichtung in der innersten Dimension, die Vermählung des Aeußersten mit dem Innersten. Dieses eigentümlich Poetische wird im Englischen einigen Lyrikern überlassen, zumal den großen geistlichen Dichtern, herauf zu Hopkins. Im Raum der Bühne vertritt sie der eine und einzige: Shakespeare. Wer dieses Dichterische bei Priestley sucht, wird leer ausgehen. Und enttäuscht weggehen. Man soll aber bei jedem Autor das suchen, was er zu geben hat, was er geben will und geben kann. Priestley ist ein Moralist, der in klaren Gedanken und einfachen Bildern uns vorstellt: seine Sorge um den Menschen, um die Bedrohung des Menschen durch den inneren Feind, der in der eigenen Brust lauert und heute auf der ganzen Erde darangeht, die Menschen umzu-züchten, „umzuarbeiten“ in arbeitsame Ameisen und Bienen, die dem „Projekt“ dienen. Im Traum einer Silvesternacht an der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert läßt Priestley das schaurige Bild einer durch totale Industrie und Wissenschaft versklavten Menschheit erstehen. Man ist geneigt, zunächst an Orwell und andere politische Gegenwartsbezüge zu denken, sollte aber nicht die große Tradition vergessen, in der Priestley steht: Der Lordkanzler Thomas Morus hat erstmalig in seiner „Utopia“ von 1516 Europa, das sich damals anschickte, sich in Krieg und Bürgerkrieg zu Versklaven, ein warnendes Gemälde vorgestellt. Hundert Jahre später folgt ihm ein anderer Kanzler Englands, Francis Bacon, und seither ist in England bis zu Bernard Shaw und eben Priestley die Kette nicht abgerissen, die das Doppelgesicht der Utopie den Zeitgenossen vorstellt: Himmel, erträumter Himmel, in der Zukunft realisiert durch die perfekte Einung der Menschheit unter dem Stahldach eines ideologischen und politischen Systems, und reale Hölle, geschaffen von erbarmungslosen Fanatikern, welche die Menschheit von all dem „säubern“ wollen, was ihren Plan behindert oder zu behindern scheint. — Priestley verbindet mit seiner Darstellung und Kritik der Utopie ein altes, typisch englisches Anliegen: das Streben nach Entideologisierung. England hat, weder in seiner Politik noch in seinem Denken, den „Systemen“ der Systemphilosophen noch den „Heiligen Reichen“ getraut. Hinter beiden wittert der Engländer den Terror der Gleichschaltung. Leben, menschliches, menschenwürdiges Leben, ist nur in der Buntheit und Vielfarbigkeit des Einzelnen und Besonderen, des Persönlichen, gegeben. Die intimsten Schwächen dieses Persönlichen sind noch wertvoller und besser als die sichtbarste Stärke und Macht gleichschaltender Institutionen. Priestley prangert nun in seinem neuesten Stück das fast achtlose, fahrlässige Vergleiten vieler Menschen heute in den Bann der Gleichschaltungen hinein an. Sehr passend für Wien an dieser Jahreswende, für dieses Wien und Oesterreich, in dem das schleichende Gift der stillen Gleichschaltung unsere innere Freiheit zerfrißt, gestreut von listigen Auguren, von den kleinsinnigen Gestalten an den Hebeln der großen Apparate. Sehr beachtlich ist, in Priestleys Stück, welchen Berufen und Nationen dieser Engländer die Hut des Menschlichen anvertraut: dem Clown, dem Freudebringer, insonderheit dem Kasperle, der für die Kinder spielt. Gefährdete und gefährliche Berufe sind — ihm und uns — alle Ingenieurtypen, Aufseher, Aerzte-Me-chaniker, alle besessenen Forscher, Manager, dienstwilligen Beamten usw. Als Völker und Volkstypen, die das Menschliche über den „Plan“, über die totale Arbeit und das totale Projekt stellen, wählt Priestley Franzosen und Polen, während das Arbeitswütige, Kalt-Grausame,' durch anglo-amerikanische und deutschähnliche Typen vertreten wird.

Adolf Rott, als Regisseur, zeigt zum erstenmal, was die neue Bühne der Burg technisch leisten kann. Diese Möglichkeiten sollten nicht ungenutzt bleiben, und das heißt, gerade das Burgtheater sollte das Wagnis, Diskussionsstücke dieser Art vorzustellen, nicht bei einem einmaligen Versuch belassen. Hier gilt für alle das Wort aus Goethes „Prolog auf dem Theater“, das sinnvoll im Staatsakt der Eröffnung des Hauses gesprochen wurde. Rott gebraucht die großen und die kleinen Himmelslichter, und das heißt, die kalten, grellen Höllenlichter unserer Zeit und, was nicht zu überhören ist, ihre gräßlichen Geräusche. Diskret übrigens, um so eindringlicher. Die Bühnenbilder und Kostüme von Robert Kautsky unterstützen das Kalt-Gespenstische, zugleich sehr Gegenwartsnahe dieser Regie, die ja nichts anderes auf die Bühne zaubert als eine Mischung von modernem Labor, nächtlichem Flughafen, Atommeileranstalt, Büro, KZ und Tingeltangelbetrieb. Die Hauptrolle, der Clown Joey, fällt Ewald Baiser zu; einer seiner stärksten Leistungen. Neben ihm sind Heinz Moog. Josef Meinrad, Otto Schmöle, Fred Hennings als Radiostimme, Franz Böheim als Apparat und die Damen Susi Nicoletti, Vera Balser-Eberle und Lisi Kinast (ihre junge Arbeiterin ist ein Kabinettstück) zu nennen. Das Premierenpublikum dankte dem persönlich erschienenen Autor, der sichtlich ergriffen war von der Aufführung und Aufnahme seines Stückes in Wien.

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