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Das geistige Klima hat sich durchgreifend verändert

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In einem Artikel zum 60. Geburtstag seines Freundes Theodor W. Adorno schrieb der marxistische Philosoph und Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, Max Horkhei- mer: „Einen unbedingten Sinn ohne Gott retten zu wollen, ist eitel.“ Dieser Satz hätte geradezu als Motto über den Salzburger Hochschulwochen 1977 stehen können. Gott wird verschwinden, ohne auch nur die Spur einer Frage hinterlassen zu haben, prophezeite bereits Auguste Comte im letzten Jahrhundert. Religion erschien in den Perspektiven der Psychoanalyse als Projektion des Unbewußten, als „kollektive Neurose“, und Gott als ein „überhöhter Vater“. Religion sollte in der sich emanzipierenden Gesellschaft überflüssig werden und das Versprechen auf ein sinnerfülltes Leben bereits hier im Diesseits seine Erfüllung finden.

Indessen hat die Entwicklung einen ganz anderen Verlauf genommen, als ihn die Propheten einer religionslosen Zukunft vorausgesagt hatten: Mit dem Bewußtsein von Gott ist auch jede Spur von Sinn aus unserer Welt verschwunden und dies bis zu dem Grade, daß selbst die Frage nach Sinn als sinnlos erklärt wird. „Den Sinn des Lebens gibt es nicht. Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, ist krank“, heißt es bei Sigmund Freud. Demgegenüber betonte der Wiener Psychoanalytiker Prof. Viktor Frankl, daß die Frage nach dem Sinn ein Zeichen geistiger Mündigkeit ist. Krankheit und Neurose resultieren keineswegs aus der Frage als solcher, als vielmehr aus ihrer permanenten Unterdrückung und Tabuisierung in unserer Gesellschaft.

In der Tat hat das „existentielle Vakuum“, das nach Frankl aus dem immer größer werdenden Sinndefizit resultiert, die Sinnfrage in bisher unge- kannter (besser: nichtgekannter!) Intensität aufbrechen lassen und dies unbeschadet’ des über sie verhängten offiziellen Frageverbotes. Das ist gewiß ein durchaus erfreuliches Zeichen geistiger Wachsamkeit. Immerhin gibt es aber auch ernstzunehmende Denker, die vor einer allzugroßen Sinneuphorie warnen. Zu ihnen gehört auch Prof. EugenBiser, Nachfolger Romano Guardinis auf dem Lehrstuhl für christliche Weltanschauungslehre an der Universität München. Prof. Biser leitete im Rahmen der Hochschulwochen ein Seminar über das Thema „Sinn und Begegnung“.

In der Tat versteht sich die Frage nach Sinn - zumindest in ihrer zugespitzten modernen Form - keineswegs von selbst, sie zählt also nicht zu jenen Fragen, die man gemeinhin als „allgemein-menschliche“ zu nennen pflegt. Zwar ist menschliches Dasein - und dies als individuelles wie als gesellschaftliches - immer schon auf Sinn hin ausgerichtet, „Nomisierung“ daher eine der zentralsten Leistungen in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, um mit dem amerikanischen Religionssoziologen Peter L. Berger zu sprechen. Im Sinn der Systemtheorie von Niclas Luhmann könnte man auch sagen, daß ohne erhebliche Reduktion der Komplexität unserer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sinnvolles Dasein nicht möglich ist. Beides, die „Nomisierung“ unserer stets vom Einbruch des Chaos bedrohten Welt, wie die da seinsstabilisierende Reduktion von Komplexität, war bislang eine der zentralsten Leistungen der Religion.

Auch der Freiburger Philosoph Max Müller kennzeichnete in seiner Vorlesung über „Weisen der Sinnerfahrung des Menschen von heute“ die Sinnfrage als eine typisch neuzeitliche Fragestellung, die, als historisch bedingte, eben nicht universal vorausgesagt werden dürfe. Vielmehr sei die Sinnfrage eine historische Krisenfrage, die daher auch nur eine geschichtliche Antwort erlaube.

Im Mittelpunkt unseres ersten Berichtes über die Salzburger Hochschulwochen 1977 stand jene seit Beginn der siebziger Jahre immer deutlicher in Erscheinung tretende Veränderung des geistigen Klimas, die auf der einen Seite im Aufbrechen der Sinnfrage, auf der anderen aber auch in der noch vor wenigen Jahren völlig undenkbaren Wiederentdeckung des Religiösen zum Ausdruck kommt. Diese Wiederentdeckung des Religiösen manifestiert sich heute in so verschiedenartigen Erscheinungen, wie dem wachsenden Interesse für Methoden und Techniken der Besinnung und Meditation, in der Popularität der Gestalt Jesu, weit über die eigentliche Bewegung der „Jesus-People“ hinaus, in der Faszination, die von charismatischen Gruppen ausgeht, aber auch in der höchst fragwürdigen, ja gefährlichen Vorliebe für Astrologie, Parapsychologie, Spiritismus, Satanskulte, ja Mordrituale.

Karl Lehmann warnte vor dem weitverbreiteten Irrtum, daß die fernöstlichen Techniken und Methoden religiös und weltanschaulich völlig neutral seien, und eben darum auch vorbehaltlos als Mittel zur Steigerung des physischen und psychischen Wohlbefindens, zur Erlangung de’S inneren Gleichgewichts und zur Herbeiführung ästhetischer Erlebnisse verwendet werden könnten. Schon rein phänomenologisch zeige sich ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen asiatischen Erfahrungen und dem biblisch-westlichen Glauben - von der jeweils kultur- und religionsspezifisch bedingten Deutung und Interpretation dieser Erfahrungen, ganz zu schweigen.

Angesichts all dieser selbst unter Fachleuten immer noch umstrittenen Fragen wird man einem so hervorragenden Kenner fernöstlicher Geistigkeit wie Prof. Heinrich Dumoulin von der Katholischen Sophia-Universität in Tokio dafür danken müssen, daß er im Rahmen dieser Hochschulwochen in seiner behutsamen und nüchternen Art zu einem besseren Verständnis sowohl des Gemeinsamen als auch des Trennenden von biblisch-christlichem Glauben einerseits und außerchristlicher Meditation anderseits hinführte. Entgegen einer im Westen immer noch weitverbreiteten Ansicht, geht es in der fernöstlichen Meditation nicht um die Erzeugung subjektiver Gefühlszustände und Erlebnisse, sondern um die Erfahrung von Wirklichkeit, sagte Prof. Dumoulin.

Zur Frage nach einem grundlegenden Lebenssinn und der weitverbreiteten Erfahrung seines vollständigen Fehlens war es vor allem Viktor Frankl, der die entscheidenden Akzente setzte. Er wandte sich vor allem gegen das modische Gerede vom „Leistungsdruck“. Schon von seiner physischen und und psychischen Konstitution her sei der Mensch ein Wesen, das ein gewisses Maß an Spannung und Gefordertsein braucht, um nicht zu verkümmern.

Heute steht nicht mehr die sexuelle Frage im Mittelpunkt des Interesses, sondern die existentielle. Doch ist kaum zu übersehen, daß die Sinnfrage heute genauso tabuisiert und verdrängt werde wie seinerzeit die sexuelle Frage.- Durch nichts sei der

Mensch so sehr gekennzeichnet als durch seinen unbedingten Willen zum Sinn.

Frankl forderte, daß die Humanwissenschaften endlich damit beginnen sollten, sich mit dem wirklichen Menschen und seinen Bedürfnissen zu beschäftigen. Was heute am dringendsten nötig wäre, sei eine realistische Anthropologie, die im Menschen mehr zu sehen vermag als eine auf Reize reagierende oder sich ab reagierende Marionette.

Es ergibt sich als Fazit: Der Aufbruch der Sinnfrage läßt sich heute ebensowenig mehr unterdrücken wie die Wiederentdeckung des Religiösen, die alle entgegenlautenden Prognosen vom unvermeidlichen Absterben der Religion Lügen straft. Gerade die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen mit ihren rund 1500 Teilnehmern haben diesen geistigen Klimawechsel sehr eindrucksvoll dokumentiert.

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