Sinti und Roma - Antiziganismus

Definition und Stereotype

Bis heute sind viele Vorurteile in unseren Köpfen, wenn der Begriff "Zigeuner" fällt. Der Begriff "Antiziganismus" ist der Fachbegriff für diese "Zigeunerfeindlichkeit". Er wurde in Analogie zu dem Begriff „Antisemitismus“ (Judenfeindlichkeit) gebildet.

Antiziganismus umfasst sowohl die von Vorurteilen und Abneigungen geprägten Einstellungen gegenüber den als „Zigeuner“ wahrgenommenen Menschen wie auch die darauf basierende Ausgrenzung, Diskriminierung oder Verfolgung – bis zum Völkermord in der NS-Zeit.

Definition: Antiziganismus

 

Diese Definition stammt aus dem Grundlagenpapier der Allianz gegen Antiziganismus. In diesem Papier steht auch folgende ausführlichere Definition des Begriffs:

„Antiziganismus ist ein historisch hergestellter stabiler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber sozialen Gruppen, die mit dem Stigma ‚Zigeuner‘ oder anderen verwandten Bezeichnungen identifiziert werden. Er umfasst

  1. eine homogenisierende und essentialisierende Wahrnehmung und Darstellung dieser Gruppen;
  2. die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften an diese;
  3. vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewalttätige Praxen, die herabsetzend und ausschließend wirken und strukturelle Ungleichheit reproduzieren.“

Weitere Informationen über den Begriff "Antiziganismus" und die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die dahinter steht, liefert dieser Artikel der bpb.

Hintergrund: Warum ist der Begriff Antiziganismus umstritten?

In der Wissenschaft wird der Begriff "Antiziganismus" kritisch diskutiert, da er den Wortbaustein „zigan“ enthält, sich also auf das mit rassistischen Zuschreibungen behaftete Wort „Zigeuner“ bezieht.

Daniel Strauß, Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbands der Deutschen Sinti und Roma,  kommentiert die Debatte um den Begriff wie folgt:

„So umstritten der Begriff ist, so treffend ist er in der Sache.“

Denn Antiziganismus sage nicht in erster Linie etwas über die davon betroffene Gruppe aus (Sinti, Roma oder solche, die dem vermeintlichen Bild des „Zigeuners“ entsprechen), sondern vielmehr über die Mehrheitsgesellschaft selbst. Im Antiziganismus-Begriff spiegelt sich der „projektive Charakter“ wider: Die Mehrheitsgesellschaft nimmt Personen als „Zigeuner“ war, doch ob sie einer Minderheit angehören, ist für sie zweitrangig.

Dennoch bleibe das Problem bestehen, dass mit dem Begriff auch der stigmatisierende Wortbaustein weiter verwendet und Betroffene dadurch verletzt werden könnten. „Deshalb muss der Begriff weiter diskutiert werden“, findet Markus End. Eine viel versprechende Alternative ist nach Ends Aussagen der von der Aktivistin Elsa Fernandez geprägte Begriff „Gadjé-Rassismus“. Als „Gadjé“ werden in der Sprache Romanes Nicht-Roma bezeichnet. Damit werde deutlich, dass der Rassismus mehr mit den „Tätern“ zu tun habe als mit den „Opfern“.

Literatur:
Studie „Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit“ von Dr. Markus End
 

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Das Stereotyp des „Zigeuners“

Bilder wie dieses vermittelten die Stereotypen, die man mit dem Begriff "Zigeuner" verbindet. Oft wurden Bilder so aufgenommen, dass das Bild zu den Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft passte. Wie das Zigeunerbild in der Fotografie in den vergangenen Jahrzehnten konstruiert wurde, erfahren Sie hier.

Das Bild des reisenden „Zigeuners“ im Wohnwagen steht unter anderem für einen Menschen ohne festen Wohnsitz, ohne Zugehörigkeit zu einer Religion oder Nation. Ein weiteres Vorurteil ist, "Zigeuner" würden sorglos in den Tag hinein leben auf Kosten anderer.

Solche Vorurteile oder Klischees werden auch als Stereotype bezeichnet. Wendet man diese Stereotype auf eine Person an, stigmatisiert man sie. Stereotype sind weit verbreitete, alltägliche Vorstellungsbilder von Personen oder Gruppen. Diesen werden in vereinfachender Weise angeblich typische Merkmale zugeordnet. Häufig geschieht das unbewusst und automatisch.

Häufig werden Sinti und Roma als "Zigeuner" stigmatisiert. Antiziganismus umfasst jedoch mehr, er richtet sich gegen alle Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft als „Zigeuner“ wahrgenommen werden – unabhängig davon, ob sie der Minderheit der Sinti und Roma angehören oder nicht. Stereotype Sichtweisen sind in verschiedenen Bereichen des Alltags vorhanden, zum Beispiel in der Medienberichterstattung oder im Bildungswesen.

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Stereotype in der Medienberichterstattung

„Die Roma kommen. Raubzüge in der Schweiz“ titelt im April 2012 die Schweizer Zeitschrift „Weltwoche“. Auf dem Cover ist das Bild eines Kindes zu sehen, das mit einer Pistole auf den Leser zielt. Diese Geschichte sei ein besonders krasses Beispiel für rassistische Berichterstattung, die Roma eine quasi abstammungsbedingte Kriminalität unterstelle, sagt der Politikwissenschaftler Dr. Uwe Wenzel.

Auch in Deutschland folgt einige Jahre später eine Reihe von Artikeln, die unter dem Schlagwort „Armutszuwanderung“ oder „Einbrecherbanden“ Stereotype aktiviere, die noch immer äußerst wirkmächtig seien. „Obwohl meist von Rumänen und Bulgaren die Rede ist, wird der Diskurs doch unterschwellig über Roma geführt, denen Kriminalität, Faulheit und das Leben auf anderer Leute Kosten unterstellt wird“, so Wenzel.

Eine solche Form der Berichterstattung greife nicht nur auf vorherrschende „Zigeuner“-Bilder zurück, sie verstärke diese sogar. So stimmten im Jahr 2011 bei einer Umfrage 40,1 Prozent der Aussage zu: „Ich hätte ein Problem, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“. Vier Jahre – und viele Artikel über die „Armutsmigration“ später – stimmten der Aussage sogar 55,4 Prozent zu (Quelle: Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler: Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014). Damit die Stereotype nicht weiter verbreitet würden, sei es wichtig, zu lernen, quellenkritisch mit Zeitungsartikeln umzugehen, so Wenzel. Wie mit Fotografien quellenkritisch umgegangen werden kann, ist hier anschaulich erklärt.

Weitere Quellen: Studie Antiziganismus

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Rassismus im Bildungswesen und in Roma-Projekten

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht – so könnte man die Kritik der Aktivistin und Empowerment-Trainerin Hajdi Barz an zahlreichen, auch aktuellen Unterrichtsmaterialien zum Thema Sinti und Roma zusammenfassen.

Als Beispiel nennt Barz die häufig als Schullektüre dienende, auf einer wahren Begebenheit beruhende Erzählung „Abschied von Sidonie“. Darin beschreibt der Autor Erich Hackl, wie eine ganze Dorfgemeinschaft zum Tod des Roma-Mädchens Sidonie in Auschwitz beiträgt. Trotz des aufrüttelnden und aufklärerischen Inhalts wiederhole der Autor Klischees und rassistische Stereotype  – etwa, indem Sidonie als wild, herzlich und phantasievoll, aber wenig intelligent und ehrgeizig beschrieben werde. Auch die lieblose und desinteressierte Mutter entspreche dem Klischee der schlechten Roma-Mutter. Zudem würden in der Erzählung unkritisch die Fremdbezeichnungen für die Minderheit verwendet.

Dieser von Sinti- und-Roma-Selbstorganisationen erarbeiteter Kriterienkatalog für rassismuskritische didaktische Materialien zeigt, wie man es besser macht.
 

Stereotype Sichtweisen in Roma-Projekten

„Die leben nur im Hier und Heute.“ Oder: „Bildung war für Roma nie ein Wert, weil sie stets umherreisten.“ – Wenn Roma-Projekte scheitern, wird zur Erklärung häufig auf die bekannten Roma-Stereotype zurückgegriffen. Doch was ist tatsächlich der Grund dafür, dass viele Roma-Projekte scheitern?

Dr. Sabrina Steindl-Kopf, die am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien lehrt und forscht, nennt das Beispiel von Kursen zur Integration in den Arbeitsmarkt in Österreich und in der Slowakei. Zunächst habe es Schwierigkeiten gegeben, die Zielgruppe überhaupt zu erreichen und zu mobilisieren – und dann hätten viele Teilnehmenden den Kurs vorzeitig abgebrochen.

Ein Grund sei, dass Roma-Projekte häufig nur für einen sehr kurzen Zeitraum eine Förderung erhielten. Eine langfristige Arbeit mit Roma-Gemeinschaften sei damit nicht möglich. Eine Förderung erhielten zudem vor allem solche Organisationen, die über finanzielle Eigenmittel und enge Kontakte zu Fördergebern verfügten – für Roma-Vereine sei dies häufig schon ein Ausschlusskriterium. So werde die Gruppe, um die es gehe, nicht in die Planung der Projekte einbezogen, was zu Misstrauen und unrealistischen Vorstellungen auf beiden Seiten führe.

Steindl-Kopf nennt noch einen weiteren Grund: „Viele Projekte blenden aus, dass die schlechte soziale Situation der Roma vor allem mit Diskriminierung zusammenhängt. Die Projekte bekämpfen dann die Auswirkungen ihrer Marginalisierung, aber nicht die eigentlichen Ursachen.“

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Stereotype Sichtweisen in Polizeibehörden

Auch nach 1945 geht die Sondererfassung von „Zigeunern“ durch deutsche Polizeibehörden weiter: Man führt so genannte Landfahrerkarteien, die womöglich direkt aus den NS-Akten übernommen wurden, so der Antiziganismusforscher Dr. Markus End.

Auch heute werden – oder wurden bis vor kurzem – in den Polizeibehörden Sachsens und Baden-Württembergs das Kürzel „WHAO“ („wechselt häufig Aufenthaltsort“) vergeben. Es werde nicht weiter erklärt, welcher Personenkreis darunter gefasst werde, doch liege die Vermutung nahe, dass dies eine Fortschreibung des alten Merkmals „Landfahrer“ sei. Diese Kategorisierungen führen dem Politikwissenschaftler zufolge vor Augen, dass in vielen Polizeibehörden noch immer ein bestimmtes „Zigeuner“-Bild vorherrscht: „Zigeuner“ seien als solche zu erkennen, sie seien kriminell und bestimmte Deliktformen wie Taschendiebstahl oder der so genannte Enkeltrick seien für sie typisch.

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Warum nutzen wir Stereotype?

Funktion des Antiziganismus

Antiziganistische Bilder und Stereotype haben mit der Realität der Sinti und Roma kaum etwas zu tun – dafür aber umso mehr mit der Realität der Mehrheitsgesellschaft. Dr. Markus End, Lehrbeauftragter an der Universität Hannover und Vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung, sagt dazu:

„Antiziganistische Bilder und Stereotype dienen dazu, bestehende Werte und Normen abzusichern."

Gemeint ist damit, dass mithilfe des "Zigeuner"-Bilds eine Abgrenzung stattfindet: Vor diesem Hintergrund schärft sich das Bild des „Deutschen“, der über eine feste und stabile Identität verfügt, in Abgrenzung zu den Sinti und Roma.

Die Stereotypen des sorglosen, in den Tag hinein lebenden „Zigeuners“, der auf die Kosten anderer lebe – und die in der aktuellen Debatte um die „Armutszuwanderung“ oder den „Sozialtourismus“ wieder auflebten – dienten als Kontrast zu den „deutschen“ Werten: harte Arbeit, gute Vorsorge und eine geregelte Lebensführung. Das Stereotyp des "Zigeuners" wird also als Gegenteil der "deutschen Werte" wahrgenommen.

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Quellen

Antiziganismus-Tagung 2017

Das Dossier basiert auf Inhalten der Tagung „Erscheinungsformen des Antiziganismus“ am 13. November 2017.


Programm der Fachtagung:

"Nichts oder fast nichts hat die Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde sie heute verantwortungsvoller mit uns umgehen."

Mit diesen Worten erinnerte Zoni Weisz am 27. Januar 2011 im Deutschen Bundestag an den "vergessenen Holocaust", den Völkermord an den Sinti und Roma. Der Niederländer, selbst ein Auschwitz-Überlebender, sprach dort als erster Vertreter seiner Minderheit anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus.

Jahrzehnte hat es gedauert, bis der Völkermord an den Sinti und Roma in das öffentliche Gedenken einbezogen worden ist. Mit etwa 100.000 Bürgerinnen und Bürgern bilden Sinti und Roma in Deutschland heute eine historisch gewachsene, seit 1997 offiziell anerkannte nationale Minderheit.

An diese Ausgangslage knüpft der Vertrag an, den das Land Baden-Württemberg und der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg e. V. im Dezember 2013 geschlossen haben. Darin verschreiben sich beide Partner auch angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands dem gemeinsamen Ziel, "jeglichen Diskriminierungen von Angehörigen der Minderheit entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Antiziganismus wirksam zu bekämpfen".

Die Tagung wurde in Kooperation mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma e.V. Landesverband Baden-Württemberg (VDSR) und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) im November 2017 in Bad Urach durchgeführt.

Sie ging der Frage nach, wo und in welcher Form sich Stigmatisierung und Diskriminierung in der Gegenwart zeigen und thematisiert die historischen Entwicklungslinien. Forschungsergebnisse wurden vorgestellt, Handlungsfelder vermessen und pädagogische Handlungsoptionen aufgezeigt.

  • Vortrag: „Antiziganismus – Definition, Erscheinungsformen, Funktionen“ und Arbeitsgruppe „Stereotype Sichtweisen in Polizeibehörden“ von Dr. Markus End.
    Dr. Markus End ist Lehrbeauftragter an der Universität Hannover und Vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung.
  • Arbeitsgruppe: „Stereotype Sichtweisen in der Medienberichterstattung“ von Dr. Uwe Wenzel.
    Dr. Uwe Wenzel ist Politologe und Referatsleiter für Migrations- und Integrationsprojekte der Otto-Benecke-Stiftung in Bonn.
  • Arbeitsgruppe „Gadjé-Rassismus im Bildungswesen“ von Hajdi Barz.
    Hajdi Barz ist Empowerment-Trainerin und in der IniRromnja aktiv.
  • Arbeitsgruppe „Stereotype Sichtweisen in Roma-Projekten“ von Dr. Sabrina Steindl-Kopf.
    Dr. Sabrina Steindl-Kopf lehrt und forscht am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.

Programm Fachtagung:"Nichts oder fast nichts hat die Gesellschaft daraus gelernt…" Erscheinungsformen des Antiziganismus" (Download als PDF)

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