Züge rattern. Menschen drängen sich entlang der Bahnsteige, ziehen Koffer hinter sich her. Am Münchner Hauptbahnhof ist es laut und voll. Wer sich nachmittags dort hindurchschlängeln möchte, braucht Geduld. Mitten in diesem Trubel bahnen sich Christian Schöpplein und Hündin Lacey ihren Weg: flott und geradlinig entlang der Bahnsteigkante, dann durch die Halle, vorbei an Pizzabuden und Bäckereien
Als die beiden eine Treppe erreichen, schiebt sich Lacey vor Christian Schöppleins Beine und bringt ihn so zum Stehen. "Brava", lobt der und tastet mit der rechten Hand nach dem Hundekopf. Dann steigen die beiden die Stufen hinab, ein bisschen vorsichtiger vielleicht als die Menschen rundherum.
Christian Schöpplein ist 36 Jahre alt und seit 21 Jahren blind. "Lacey sieht für mich. Ich vertraue ihr also mein Leben an", sagt er. Die Australian- Shepherd-Hündin ist seit gut fünf Jahren an seiner Seite. Jeden Morgen führt sie ihn über Zebrastreifen und Ampeln zum Bahnhof, lotst ihn zur Tür der S-Bahn und im Waggon zu einem freien Sitzplatz. Am Münchner Hauptbahnhof lenkt sie ihn durch die Menschenmenge, dann die Straßen entlang bis zu seinem Büro.
Und nachmittags denselben Weg zurück. Christian Schöpplein muss ihr nur befehlen: "Lampada", wenn sie eine Ampel suchen soll. "Banca", wenn er einen freien Sitzplatz braucht. "Scala", wenn er zu einer Treppe möchte. Er benutzt eine Spezialsprache, deren Begriffe meist aus dem Italienischen stammen. So wird Lacey nicht durch Gesprächsfetzen aus der Umgebung verwirrt - und versteht jedes Wort. Schließlich hat sie in ihrer Ausbildung zur Blindenhündin mehr als drei Dutzend Befehle gelernt, von ihrer "Lehrerin" Claudia Detzer aus Straubing.
Tipps für Sehende
Vier Regeln, wie man sich verhält, wenn man einem Gespann mit Blindenhund begegnet:
- Den Hund nicht ablenken, also weder ansprechen, streicheln oder gar füttern
- Blinde Personen nicht anfassen, das verunsichert den Hund. Wenn jemand hilf los wirkt, sollte man ihn direkt ansprechen
- Da Blindenhunde die Verkehrsampel nicht lesen können, ruhig sagen, wenn es grün wird
- Wenn eine blinde Person nach einer Treppe fragt, nicht zu einer Rolltreppe führen. Die Hunde dürfen keine Rolltreppen benutzen, weil sie sich dabei verletzen könnten
In diesem Städtchen geht es längst nicht so hektisch zu wie am Münchner Hauptbahnhof. Genügend Trainingsaufgaben findet die kleine, drahtige Führhunde-Ausbilderin mit den braunen Haaren dennoch: Ob Schranken oder Treppen, sämtliche Hindernisse müssen ihr die Schützlinge melden. Sie selbst hält beim Training die Augen geschlossen.
"Wenn ich einen Hund ausbilde, möchte ich mich möglichst so bewegen, wie es ein blinder Mensch tun würde", erklärt sie. "Auf diese Weise lernt der Hund am besten, welche Aufgaben er übernehmen muss." Seit 15 Jahren lehrt Claudia Detzer Hunde, wie sie blinde Menschen leiten. "Meist habe ich drei Tiere im Jahr, mehr schaffe ich nicht. Die Ausbildung ist viel Arbeit", sagt sie. 320 Stunden ist sie mit einem Hund unterwegs, bis er fertig ausgebildet ist. Deshalb kostet solch ein Tier auch etwa so viel wie ein Kleinwagen.
Dabei ist nicht jeder Hund geeignet, blinde Menschen zu führen. "Ich teste die Tiere schon als Welpen", erklärt die 44-Jährige. "Ich gucke, ob sie entspannt sind, also auch mal auf dem Rücken liegen bleiben. Oder ob sie mutig Treppen steigen und ob es ihnen Spaß macht, Bälle oder Stöckchen zu holen, also zu apportieren."
Selbstbewusst müssen die Hunde sein, vorangehen können. Die ersten anderthalb Lebensjahre verbringen die auserwählten Welpen bei Patenfamilien. Diese müssen den Tieren einiges bieten: "Gerade in ihrer Kindheit sollen die Hunde möglichst viel kennenlernen, also Autos, Fußgängerzonen, Züge. Dann haben sie später keine Angst vor Getümmel", erklärt Claudia Detzer. Später ziehen die Hunde zu ihr. Wie Sunny, die heute trainieren soll.
Die wuschelige Labradoodle Hündin lässt sich brav das Führhunde-Geschirr überstreifen und schmiegt sich eng an die linke Seite ihrer Aus- bilderin. Das Geschirr ist für die Hunde ein Zeichen. Sie wissen: Jetzt beginnt ein Spiel mit festen Regeln. Claudia Detzer erklärt das so: "Das Spiel heißt im Hundekopf etwa ‚Ampeln, Zebrastreifen und Treppen jagen‘. Und die Regeln lauten: Ich darf jetzt nicht einfach stehen bleiben, kein Geschäft machen, nicht andere Hunde beschnüffeln."
Sunny und Claudia Detzer schlendern über einen großen Parkplatz, vorbei an Dutzenden Autos und einer lärmenden Baustelle bis zu einer Straße. Am Bordstein schiebt sich Sunny vor Claudia Detzers Beine und blickt zu ihrem Frauchen auf. "Brava", lobt die Ausbilderin. Erst als diese "Vai" sagt, gibt Sunny den Weg frei, und die beiden überqueren die Straße. "Wäre nun ein Auto gekommen, hätte Sunny meinen Befehl verweigert und wäre stehen geblieben", erklärt die Ausbilderin. Das nennt sich "intelligenter Ungehorsam" und ist für Hund und Herrchen überlebenswichtig.
Sunny beherrscht diesen ungehorsam, ihre Ausbildung ist fast beendet. In wenigen Tagen beginnt ihre "Einschulung" bei ihrem zukünftigen Herrchen. Drei Wochen werden die neuen Partner miteinander verbringen und lernen, ihre Bewegungen, Laute und Gerüche zu deuten. "Am schwersten ist diese Zeit für Menschen, die schon von Geburt an blind sind. Sie haben manchmal gar keine Idee davon, was ein Hund ist, wie er sich so bewegt", sagt Claudia Detzer. Doch irgendwie wächst jedes Duo zusammen, genau wie Christian Schöpplein und Lacey vor mehr als fünf Jahren. Die Gespannprüfung meistern die Pärchen oft mit links. "Wie die zwei dann zusammenhalten, darüber staune ich jedes Mal wieder", sagt Claudia Detzer.
Kommandos für Blindenführunde: Verstanden?
Was die Befehle bedeuten:
SED = Sitz!
A TERRA = Platz!, hinlegen
BRAVA = brav, ein Lob
AVANTI = los, gerade voran
VAI = einen Weg finden, einen Ort suchen
TEMPO = schneller laufen
PIANO = langsamer laufen
SINI = links
DESTRA = rechts DI LATO = am linken Straßenrand laufen
DA PARTE = am rechten Straßenrand laufen
PASSARE = überqueren
AL FINO = Bordsteinkante anzeigen
PORTA = Tür anzeigen
EXTRA = einsteigen
FUORI = Ausgang anzeigen
STAZIONI = Bushaltestelle anzeigen
BANCA = Sitzgelegenheit anzeigen
LAMPADA = Ampelpfosten anzeigen
CASSETTA = Briefkasten anzeigen