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Kriminologie Wenn Fliegen Mörder überführen: So helfen Insekten Kriminalfälle aufzuklären

Leiche im Wald
Bestimmte Insekten legen ihre Eier auf tote Körper. Je nach Entwicklungsstadium der Larven lässt sich auf den Todeszeitpunkt eines Opfers schließen
© Jan H Andersen / Shutterstock
Um Mörder zu ermitteln, versuchen Kriminologen den Zeitpunkt und die Umstände einer Tat möglichst präzise aufzuklären. Besonders wertvolle Indizien liefern ihnen dabei ausgerechnet lebende Spuren: Insekten

Am Abend des 9. Juni 1959 radelte der 14-jährige Schüler Steven Truscott durch den Ort Clinton in der kanadischen Provinz Ontario. Auf der Lenkstange saß seine zwölfjährige Schulkameradin Lynne Harper. Es war das letzte Mal, dass Zeugen das Mädchen lebend sahen.

Zwei Tage später fand man Lynne erdrosselt an einem Feldweg in der Nähe des Ortes. Als Polizisten ihn verhörten, gab Truscott an, er habe das Mädchen an der Landstraße abgesetzt, wo sie in einen Chevrolet eingestiegen sei. Da er sich jedoch in Widersprüche verwickelte, wurde der Teenager des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt.

Angesichts seiner Jugend wurde die Strafe in lebenslängliche Haft umge­wandelt. Truscott selbst beteuerte stets seine Unschuld. Der Fall erregte großes Aufsehen und trug entscheidend zur Abschaffung der Todesstrafe in Kanada bei. 1969 wurde der junge Mann begnadigt, lebte aber mit dem Stigma weiter, ein verurteilter Mörder zu sein.

Erst 48 Jahre nach Lynne Harpers Tod wurde er für „nicht schuldig“ erklärt. Seine Rehabilitierung verdankt Truscott einigen winzigen, weißen Larven, die Gerichtsmediziner auf Lynnes totem Körper gefunden und genau doku­mentiert hatten: Maden einer Schmeißfliege.

Diese oft sehr hübschen, metallisch schimmernden Insekten kommen weltweit in mehr als 1000 Arten vor. Während die erwachsenen Fliegen sich von Blütenpollen und -nektar, zuckerhaltigen Lebensmitteln und diversen Ausscheidungen ernähren, benötigen ihre Larven eiweißreiche Kost. Die finden Schmeißfliegen im abgestorbenen Körpergewebe anderer Lebewesen. Sie gehören zu den wichtigsten Organismen, die in der Natur Aas zersetzen und tote Leiber so in den Stoffkreislauf der Erde zurückführen

Die Maden wachsen mit der Präzision eines Uhrwerks

Schmeißfliegen verfügen über einen so guten Geruchssinn, dass sie die frühesten Zersetzungsvorgänge in einem toten Körper wahrnehmen. Deshalb sind sie gewöhnlich die ersten Insekten, die frische Kadaver besiedeln. Bei günstiger Witterung können die Tiere schon Minuten nach dem Tod ihre Eier auf einer Leiche ablegen.

Abhängig von Temperatur und Luftfeuchtigkeit wachsen aus diesen Eiern mit der Präzision eines Uhrwerks Larven heran, die man bei Fliegen als Maden bezeichnet. Jede Art folgt dabei ihrem ei­genen, charakteristischen Entwicklungs­zyklus. So schlüpft die Made der Blauen Schmeißfliege bei einer Temperatur von 27 Grad Celsius 24 Stunden nach der Eiablage. Am folgenden Tag misst sie sechs Millimeter, nach einem weiteren Tag 13 Millimeter Länge. Noch einmal zwei bis drei Tage später verpuppt sie sich, um rund vier Wochen nach der Eiablage als fertige Fliege zu schlüpfen. Dann beginnt der Zyklus von Neuem.

Aufschlussreiche Insekten

Weniger als eine Stunde

Schmeißfliegen sind die ersten Insekten, die eine Leiche aufsuchen. Ihr Geruchssinn ist so präzise, dass sie schon Minuten nach dem Tod Zersetzungsvorgänge wittern und Eier auf der Leiche ablegen.

Mindestens einen Tag

Je nach Witterung schlüpfen aus den Eiern der Schmeiß fliegen nach einem Tag Maden, die sich vom toten Fleisch ernähren. Jede Art hat einen typischen Entwicklungszyklus.

Zwei bis drei Tage

Kurzflügelkäfer treten nach zwei bis drei Tagen in Erscheinung. Sie ernähren sich vom verwesenden Gewebe und haben es vor allem auf die bereits vorhandenen Insekten abgesehen.

Ein paar Wochen

Schmeißfliegen dominieren die ersten Tage des Zerfalls, es finden sich zunächst wenig andere Arten. Spüren Forensiker Schwingfliegen auf, verwest die Leiche bereits längere Zeit.

Einige Monate

Speckkäfer sind aufgrund ihrer Mundwerkzeuge in der Lage, auch Haut- und Knorpelreste zu vertilgen – und befallen eine Leiche sehr spät.

Die Länge der Maden entlastet Steven Truscott

Als Forensiker im Jahr 2007 die Beweismittel im Fall Harper erneut prüften, stellten sie fest, dass die auf dem Körper des Mädchens sichergestellten Maden nicht zu dem angenommenen Todeszeitpunkt passten: Wäre Lynne wirklich am Abend des 9. Juni gestorben, als sie mit Truscott gesehen wurde, hätten die weißen Larven einige Millimeter länger sein müssen. Die Experten folgerten, dass das Kind erst am Morgen des 10. Juni ermordet worden war. Damit kam Steven Truscott nicht mehr als Täter infrage. Er erhielt später eine Entschädigung von 6,5 Millionen Dollar.

Truscott hatte das Pech, dass Insekten als Indizien in den 1950er Jahren vor Gericht noch nicht üblich waren. Erst seit den 1970er Jahren entwickelte sich die „forensische Entomologie“, also die gerichtsmedizinisch-kriminalistische Insektenkunde zu einer anerkannten Disziplin.

Dabei wurde Überlieferungen zufolge schon im 13. Jahrhundert ein Mörder mithilfe von Insekten entlarvt: Bewohner eines chinesischen Dorfes hatten einen Toten aufgefunden, der mit mehreren Hieben einer Sichel umgebracht worden war. Daraufhin ließ der Rechtsgelehrte Sòng Cí alle Bauern der Umgebung mit ihren Erntemessern antreten. Nach kurzer Wartezeit ließen sich auf der Klinge eines Mannes Fliegen nieder – für das bloße Auge unsichtbare Blutspuren lockten sie an. So überführt, brach der Täter zusammen und gestand den Mord.

Buckelfliegen graben sich sogar zu verscharrten Leichen vor

Und bereits im 19. Jahrhundert studierten europäische Wissenschaftler genauestens die Insektenfauna auf Leichen und dokumentierten die entdeckten Spezies. Heute gibt es in den USA sogar sogenannte „Body Farms“, wo Forscher Tote verwesen lassen, um den Verfalls­prozess und eben auch die Insektenbesiedlung der Leichen unter wechselnden Umweltbedingungen zu untersuchen.

Denn Schmeißfliegen sind zwar die ersten, mitnichten aber die einzigen Kostgänger, die sich an Aas gütlich tun. Ein toter Körper, gleich ob Tierkadaver oder menschliches Mordopfer, ist ein regelrechtes Ökosystem, das sich im Laufe der Zeit verändert und Dutzenden Arten Nahrung und Lebensraum bietet.

Kurz nach den Schmeißfliegen stellen sich Stuben- und Fleischfliegen ein, später die Buckelfliegen. Vertreter dieser Gruppe sind besonders aufschlussreich, weil sie graben können und damit auch zu verscharrten Leichen vordringen.

In späteren Stadien der Fäulnis treten Käsefliegen sowie Aas- und Mistkäfer auf, darunter der Gemeine Totengräber, ein auffällig schwarz-orangefarben gemustertes Tierchen. Wenn der Kadaver nach Wochen allmählich austrocknet und die Schmeißfliegen sich nach frischerer Kost um­sehen, schlägt die Stunde der Speckkäfer. Sie bevorzugen ledrig-zähes organisches Material und sind als Museumsschädlinge berüchtigt, da sie auch gern an uralten Mumien und Tierpräparaten knabbern.

Zu all diesen Arten gesellen sich nach gewisser Zeit Raubinsekten, die weniger am verwesenden Fleisch als an den Aasfressern selbst interessiert sind. So sammeln Ameisen Fliegeneier ein, während flinke, oft nur wenige Millimeter kleine Kurzflügelkäfer im Kadaver auf Madenjagd gehen.

Diese typische Abfolge von Insekten, die auf Leichen in verschiedenen Zerfallsstadien vorkommen, ermöglicht es zu ermitteln, wie lange der Körper schon verwest. Oft ist die entomologische Datierung selbst nach langer Zeit, wenn ein Arzt längst passen muss, noch verblüffend genau. Die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist somit der wichtigste Einsatzbereich der forensischen Entomologie.

Maden erzählen auch, wo das Opfer gestorben ist

Aber das wimmelnde Leben auf einem Toten kann noch weitere Hinweise geben: Anhand der Madenspezies lässt sich zum Beispiel feststellen, ob ein Mordopfer nach der Tat an einen anderen Ort geschafft wurde. Findet der Gerichtsmediziner etwa Larven der Stubenfliege auf einer Leiche, die im Wald lag, kann er davon ausgehen, dass das Opfer nicht dort, sondern in einem Haus zu Tode kam. Denn Stubenfliegen leben gewöhnlich in Gebäuden oder deren Umgebung.

Manche Fliegenarten, wie die Blaue Schmeißfliege Calliphora vicina, sind Stadtbewohner, während die nahe verwandte Art Calliphora vomitoria meist auf dem Land zu finden ist. Einige Fliegen tummeln sich im Sonnenschein, andere lieben den Schatten. So erlaubt die Besiedelung einer Leiche Rückschlüsse darauf, in welcher Art Umgebung sie die ersten Stunden nach dem Tod verbracht hat.

Aus diesem Grund – und weil sich die Entwicklungszeiten selbst eng verwandter Arten unterscheiden –, müssen Forensiker ihre Insektenfunde zweifelsfrei bestimmen. Bei Fliegenmaden ist das nicht gerade einfach, handelt es sich doch um ziemlich minimalistische, wurm­ar­tige Kreaturen. Experten können zwar anhand von ein paar Borsten oder Körper­anhängseln die Gattung feststellen. Um aber die genaue Art zu bestimmen, musste man noch vor einigen Jahren lebende Maden einsammeln und heranziehen.

Heute vereinfachen Erbgutanalysen, die in den letzten Jahren immer schneller und billiger geworden sind, die Arbeit der Forensiker. Die Gensequenzen der wichtigsten Leichenbewohner stehen in Datenbanken zur Verfügung.

Die Insekten-Forensiker haben einen Feind: die Kälte

Zunehmend interessieren sich Ermittler überdies für den Mageninhalt der Insekten. Denn mit dem Körpergewebe des Toten nehmen die Tiere auch Drogen oder Gifte auf, die sich das Opfer kurz vor dem Ableben womöglich einverleibt hat. Da Maden solche Schadstoffe nicht abbauen können, reichern sie sich in ihrem Körper an und werden bei der Verpuppung in die Hülle eingelagert. So können Gerichtsmediziner noch nach geraumer Zeit, wenn sich von dem Toten längst keine Probe mehr gewinnen lässt, Giftspuren in leeren Puppenhüllen nachweisen.

Sogar über Mordopfer, deren Leiche nie gefunden wird, können Insekten etwas verraten: Entdecken Ermittler zum Beispiel Maden im Kofferraum eines Verdächtigen, können sie aus dem Verdauungstrakt der Tiere die DNS des Toten isolieren und ihn anhand seines Erbguts identifizieren. Damit wäre bewiesen, dass sich der Verschollene im Auto befunden hat – und dass er bereits tot war.

So vermag die forensische Entomologie Mordfälle aufzuklären, bei denen die herkömmlichen Verfahren der Kriminalistik versagen. Eine Schwäche hat sie allerdings, die selbst modernste molekularbiologische Methoden nicht wettmachen können: Sie ist und bleibt hauptsächlich ein Saisongeschäft. Sinken die Tem­pe­raturen, stellen Schmeißfliegen und Käfer ab einem gewissen, artspezifischen Schwellenwert irgendwann die Fortpflanzung ein.

In strengen Wintern stört kein Insekt die Ruhe der Toten.

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