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»Erster Bürger« mit Radiostimme

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»Es war mein Traum, ein echter Radio-DJ zu werden«, sagt Lollars Stadtverordnetenvorsteher Bertin Geißler. Zeitweise hat er ihn sich erfüllt. © Jonas Wissner

Als Ex-Radiomoderator, ausgebildeter Sprecher und DJ ist Bertin Geißler breit aufgestellt. Nun kommt ein Ehrenamt am Mikrofon hinzu, das viel Verantwortung bedeutet: Geißler leitet als Stadtverordnetenvorsteher die Lollarer Parlamentssitzungen. Inwieweit hilft ihm die berufliche Erfahrung dabei?

Seine Stimme mag vielen bekannt vorkommen, ohne ihn zu kennen. »Warm, freundlich, ein bisschen wunderhaft, glaubwürdig und charmant«, beschreibt Bertin Geißler seinen eigenen Sound. Das sei vielleicht etwas dick aufgetragen, sagt er und lacht, »aber Klappern gehört zum Handwerk«.

Seit März ist der 48-Jährige Stadtverordnetenvorsteher in Lollar und als »Erster Bürger« noch ein »Greenhorn«, wie er einräumt. Vor anderen am Mikrofon zu sprechen und zu moderieren - darin ist er dagegen seit vielen Jahren geübt: Geißler ist ausgebildeter Studio- und Radiosprecher. »Es ist ein hart umkämpfter Markt«, sagt er, während er auf einem bequem aussehenden Bürostuhl in seinem Homeoffice-Studio sitzt. Kleine Radio-Werbespots, wie kürzlich für die Fahrradmesse »Velo Frankfurt«, machen ihm zufolge sein Tagesgeschäft aus, da könne er auf einen »langjährigen Kundenstamm« zurückgreifen. Doch er spricht beispielsweise auch Telefonansagen von Unternehmen, heißt etwa Anrufer bei einer Reederei oder der Tageszeitung HNA »herzlich willkommen«. Dieses Standbein habe ihm gerade während der Pandemie geholfen, erzählt Geißler - da hätten viele neue Öffnungszeiten aufgesprochen werden müssen.

Neben solchen Spots ist der in Reiskirchen und Gießen aufgewachsene Sprecher auch als Moderator unterwegs, kürzlich etwa bei einer Firmentagung für Marketing-Mitarbeiter. Nicht zuletzt bietet er Coachings an, zum Beispiel »ein Moderationstraining für eine Flusskreuzfahrtreederei«. Häufig, sagt Geißler, könne er aber von zu Hause arbeiten, sich die Zeit frei einteilen. »Man muss schon am Ball bleiben«, doch er schätze gerade die Vielfältigkeit seines Berufs.

Sprechen kann fast jeder - doch worauf kommt es an, wenn man Sprecher ist? »Es geht um Gestik und Mimik, auch wenn man mich nicht sieht. Das hört man.« Wenn er etwa Erstaunen ausdrücke, reiße er die Augen weit auf. »Meistens ist der Text vorgegeben, dann mache ich drei Durchläufe«, verrät Geißler. Das abgemischte Ergebnis stehe dann nach zwei Stunden. »Manchmal habe ich Express-Aufträge, dann muss es auch mal in einer halben Stunde gehen.«

Dass er einmal gern mit seiner Stimme Geld verdienen würde, habe sich schon in jungen Jahren abgezeichnet, so der Lollarer. Er schwelgt in Erinnerungen an die HR3-Hitparade, »da wurden die aktuellen Songs gespielt«, er habe auf Kassetten mitgeschnitten. »Die Moderatoren waren für mich Helden, die hatten die Platten!« Als seine Schwester ihren 18. Geburtstag in der Garage gefeiert habe, »war ich 15 und durfte Kassetten mit aktuellen Hits auflegen«. Es war der Grundstein seiner eigenen DJ-Laufbahn: Seit Anfang der 90er, so Geißler, sei er dann selbst durch die Festzelte auf den Dörfern getingelt - mit Musik »von NDW bis Hardrock«. Schließlich machte sich der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann als DJ selbstständig, stieg einst auch bei einem Verleih für Licht- und Tontechnik ein und baute dort einen Agenturzweig auf. Auch Mallorca- und »Schaumparties« seien damals angesagt gewesen, »ich war jedes Wochenede unterwegs«.

Das Medium Radio habe da noch einen anderen Stellenwert als heute gehabt: »Da hat man noch bewusst das Radio eingeschaltet, heute ist es ein Begleitmedium«, so Geißlers Einschätzung. Mit Leuchten in den Augen blickt er zurück: »Spannend verpackte Geschichten, die zur Musik erzählt wurden, haben mich interessiert. Es war mein Traum, ein echter Radio-DJ zu werden«, berichtet er - und das sei schließlich gelungen: Zeitweise war Geißler beim einstigen Privatsender Energy Rhein-Main »on air«, wie er sagt, später bei einem Internetradio der HNA. »Da hatte ich eine eigene Sendung mit einem Kollegen, wir konnten uns Themen aussuchen, zum Beispiel Brit-pop oder die Farbe blau.«

Jahrelang hat der 48-Jährige dann auf hoher See für Unterhaltung gesorgt - als DJ auf der »Aida«. »Ich war auf dem Schiff jeden Abend in der Disko«, er wurde dann »Teamleiter Animation« und zeichnete somit für das Entertainment an Bord insgesamt verantwortlich. »Ich war auf der Aida ein ranghoher Offizier mit drei Streifen auf der Uniform!« Auf einer Aida-Fahrt habe er schließlich auch seine heutige Ehefrau kennengelernt, sie wurden in Lollar sesshaft.

Als DJ hat sich Geißler inzwischen wieder auf Events auf dem Festland verlegt, bringt von Firmenfesten bis Hochzeiten zu Gehör, »was die Gäste wollen«. Unter dem Titel »Lifestyle Entertainment« ist er als Sprecher, Moderator, Coach und DJ nun wieder selbstständig tätig - und verweist stolz auch auf Kurzgeschichten auf Manisch, die er geschrieben und gesprochen hat.

In der Kommunalpolitik ist Geißler erst seit ein paar Jahren aktiv. Sein Vater, erzählt er, habe sich in Gießen lange für die SPD engagiert, auch er selbst sei schon länger Genosse. In Lollar sei er dann letztlich über Horst Klinkel, seinen langjährigen Vorgänger, als Stadtverordnetenvorsteher zur SPD gekommen, übernahm unter anderem den stellvertretenden Vorsitz in einem Ausschuss - und setzte sich im März nun als neuer »Erster Bürger« in einer Kampfabstimmung gegen Sabine Schiller (CDU) durch.

Er traue sich zu, eine Versammlung neutral zu leiten, fühle sich auch anderen Parteien verbunden, betont Geißler. Musik wird er im Stadtparlament wohl nicht auflegen. Doch inwieweit hilft ihm seine breite berufliche Erfahrung am Mikrofon nun in diesem wichtigen Ehrenamt? »Eine Stadtverordnetensitzung ist kein Unterhaltungsprogramm«, sagt er. »Sidekicks« oder kleine »Eisbrecher«-Sprüche wie als Moderator wolle er als Stadtverordnetenvorsteher eher nicht einstreuen, versichert Geißler, sondern »Seriosität mitbringen«. Auch die Übung in klarer Artikulation werde vielleicht helfen - und als Moderator von Diskussionen sei er gewohnt, darauf zu achten, »dass das Gespräch nicht aus dem Ruder läuft«.

Sein Vorgänger war für eine zackige Sitzungsleitung bekannt. »Horst Klinkel soll mir ein gutes Beispiel sein«, sagt Geißler. »Disziplin sorgt dafür, dass die Sitzung keinem wehtut«. Er will auch noch Lehrgänge besuchen, »damit man das Handwerk richtig versteht«, und sich weiter in die Geschäftsordnung einarbeiten. Denn auch der Profi-Sprecher weiß: Ein »Erster Bürger« braucht mehr als eine starke Stimme.

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