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Hohe Dunkelziffer: Vogelsberger Außenstellenleiter des Weißen Rings hilft Stalking-Opfern

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Edwin Noll ist seit diesem Jahr Leiter der Außenstelle des Weißen Rings für den Vogelsbergkreis. Auch mit Stalking-Fällen hatte er schon zu tun.
Edwin Noll ist seit diesem Jahr Leiter der Außenstelle des Weißen Rings für den Vogelsbergkreis. Auch mit Stalking-Fällen hatte er schon zu tun. © pm

Der Opferschutzverein »Der Weiße Ring« geht davon aus, dass es in Deutschland jedes Jahr zu mehreren Hunderttausend Fällen von Stalking kommt. Doch nur ein Bruchteil der Opfer holt sich Hilfe - und bislang führen nur die wenigsten Anzeigen zu Verurteilungen. Der Vogelsberger Außenstellenleiter Edwin Noll hofft, dass sich das dank einer Gesetzesänderung bessert. Außerdem erklärt er, an wen sich Betroffene wenden können.

Angst, Kontrollverlust, Ohnmacht: all das sind Gefühle, mit denen Opfer von Stalking zu kämpfen haben. Das kann erhebliche psychische Folgen haben, das Leben auf den Kopf stellen. Deswegen bietet der Opferschutzverein »Der Weiße Ring« den Betroffenen kostenlos Unterstützung und Beratung - auch im Vogelsberg, wo Edwin Noll seit April die Außenstelle des Opferschutzvereins leitet.

»Häusliche Gewalt und Stalking sind das, womit wir am häufigsten zu tun haben, wobei die Übergänge zum Teil auch fließend sind«, sagt der 61-Jährige und verweist auf gewalttätige Männer, die ihren Frauen nachstellen, um sie zu kontrollieren. Allerdings, so Noll, haben sich in diesem Jahr auch Opfer »reiner Stalkingfälle« bei der Vogelsberger Außenstelle gemeldet.

Fälle aus dem Vogelsberg: Wo fängt Stalking überhaupt an?

Doch wo fängt Stalking überhaupt an? Diese Frage ist laut Noll nicht so leicht zu beantworten. Schließlich handelt es sich laut einer Statistik des Weißen Rings bei fast der Hälfte aller Stalker um ehemalige Partner. Doch nicht jeder Ex-Freund, der nach der Trennung nicht gleich Ruhe gibt, gehört vor Gericht. Und nicht jeder aufdringliche Liebesbrief von Arbeitskollegen, Bekannten oder auch Fremden taugt zur Strafanzeige.

Einer jungen Frau, die in der ersten Woche nach der Trennung ständig von ihrem Ex-Freund angerufen wurde, hat Noll daher kürzlich dazu geraten, noch etwas abzuwarten, ob sich die Lage wieder beruhigt. Bei der Dame, deren Nachbar über Monate unerwünscht in ihr soziales Umfeld eindrang und sogar Kontakt zu ihrem Arbeitgeber aufnahmen, um ihrem Ruf zu schaden, war die Lage hingegen klarer. Generell rät der Weiße Ring Betroffenen jedoch dazu, sich möglichst schnell Hilfe zu suchen.

In der Praxis sieht das allerdings leider oftmals anders aus. So wurden im Jahr 2019 deutschlandweit rund 19 000 Stalking-Fälle bei der Polizei angezeigt, während der Weiße Ring von einer Dunkelziffer von 600 000 Opfern ausgeht. Dass die Opfer, die zu 80 Prozent weiblich sind, die Täter, die zu 80 Prozent männlich sind, nicht anzeigen, hängt laut Weißem Ring häufig mit Scham zusammen.

Dabei kann Stalking jeden treffen. Der Weiße Ring geht gar davon aus, dass 15 Prozent der Frauen und 5 Prozent der Männer im Laufe ihres Lebens einmal Opfer von Stalking werden.

Stalking: Scham und Hürden bei Verurteilung führen zu hoher Dunkelziffer

Dass Stalking oftmals nicht angezeigt wird, könnte möglicherweise jedoch noch einen weiteren Grund haben: das deutsche Rechtssystem. Denn Stalking nachzuweisen ist alles andere als einfach, weil es ganz unterschiedlich aussehen kann. Zudem sind die Einzelhandlungen an sich oftmals nicht strafbar, sofern es es nicht um Beleidigungen, offene Drohungen oder Schlimmeres handelt. Der Straftatbestand ergibt sich dann erst aus ihrer Anzahl, Intensität, Art, Kombination und Dauer. Vieles bleibt dabei vor Gericht Auslegungssache.

Grundsätzlich ist das Nachstellen in Deutschland auch erst seit 2007 eine Straftat - und zunächst waren die Hürden für eine Verurteilung enorm hoch. So musste nachgewiesen werden, dass das Stalking zu einer »schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung« des Opfers geführt hatte. Ohne Umzug oder Arbeitsplatzwechsel war das kaum zu belegen, deswegen wurde 2017 eine Änderung vorgenommen.

Nun ist Stalking strafbar, wenn »objektiv geeignet« ist, die Lebensgestaltung schwerwiegend zu beeinträchtigen. Dennoch kam es im Jahr 2018 in nur etwa einem Prozent der angezeigten Fälle zu einer Verurteilung des Täters.

Stalking ist strafbar: Voraussetzungen für eine Verurteilung sind niedriger geworden

Jüngst wurde nun noch einmal nachgeschärft: Zum einen werden nun auch die zunehmenden Fälle von Cyberstalking erfasst, bei denen die Betroffenen durch Stalking-Apps beziehungsweise Stalkingware ausgespäht werden. Zum anderen soll die Strafbarkeitsschwelle durch begriffliche Änderungen gesenkt werden: Statt einer »schwerwiegenden« Beeinträchtigung für das Opfer, reicht seit Oktober eine »nicht unerhebliche«. Zudem muss das Nachstellungsverhalten des Täters ab sofort nicht mehr als »beharrlich« eingestuft werden, sondern als »wiederholt«.

Wie die Richter die neuen Begriffe interpretieren werden, bleibt abzuwarten. Noll ist jedoch vorsichtig optimistisch. »Die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung sind etwas niedriger geworden«, sagt er. »Das lässt hoffen, dass es für die Opfer ein bisschen leichter wird.«

Was bereits jetzt in vielen Fällen Erfolg zeigt, ist indes eine sogenannte »Gefährderansprache«, bei der die Polizei dem Täter klarmacht, welche Grenzen er überschreitet und welche Folgen das haben kann. Laut Weißem Ring führt das in 80 Prozent der Fälle zum Erfolg.

Zudem können Opfer zivilrechtlich oder strafrechtlich gegen den Täter vorgehen. So lässt sich auf zivilrechtlichem Weg nach dem Gewaltschutzgesetz eine gerichtliche Anordnung erwirken, die dem Täter etwa die Kontaktaufnahme oder den Aufenthalt an bestimmen Orten untersagt. Hält er sich nicht daran, drohen Ordnungsgelder oder sogar Ordnungshaft. Zudem können Opfer Strafanzeige erstatten.

Vogelsberg: Weißer Ring als erste Anlaufstelle für Stalking-Opfer

Obwohl Noll selbst Jurist ist, darf er als Mitarbeiter des Weißen Ringes keine Rechtsberatung anbieten. Dennoch scheint der Opferschutzverein eine gute Anlaufstelle für Betroffene. »Unsere Ersthelfer sind wie Lotsen im Hilfesystem«, beschreibt der ehemalige Familienrichter die Arbeit des Weißen Rings.

So werden Opfer an entsprechende Stellen vermittelt und können neben Verhaltenstipps beispielsweise Coupons für eine anwaltliche Erstberatung oder psychologische Hilfe bekommen. Zudem begleiten die Ehrenamtlichen Betroffene bei Bedarf zu Terminen, können bei Anträgen zur Opferentschädigung behilflich sein und in bestimmten Fällen sind finanzielle Hilfen möglich.

Das A und O ist jedoch oftmals die Dokumentation der Vorfälle. »Das ist sowohl für zivilrechtliche als auch für strafrechtliche Schritte unheimlich wichtig«, sagt Noll. Deshalb hat der Weiße Ring eine App herausgebracht, die wie ein Stalking-Tagebuch funktioniert. Audio-, Video- oder Bildaufnahmen werden auf einem Server gespeichert und sind somit vor Verlust geschützt, können gleichzeitig jedoch nur von dem Betroffenen abgerufen werden. Da sie in der App nicht bearbeitet werden können, gelten sie außerdem als beweissicher.

Außenstelle Vogelsbergkreis: Ehrenamtliche Mitarbeit möglich

Nachdem der langjährige Leiter der Außenstelle des Weißen Rings im Vogelsberg, Eckhard Kömpf, Anfang des Jahres verstorben ist, hat Edwin Noll den ehrenamtlichen Posten zum 1. April 2021 übernommen.

Der 61-Jährige Pensionär war von 1989 bis 2016 Richter, davon 24 Jahre am Amtsgericht Alsfeld. 2019 hat er beim Weißen Ring hospitiert und anschließend die entsprechenden Kurse und Seminare absolviert. Zu seinem Team gehören fünf weitere ehrenamtliche Mitarbeiter der Vogelsberger Außenstelle.

Wer an einer ehrenamtlichen Mitarbeit interessiert ist, kann sich unter Telefon 0151/55164753 oder per Mail an vogelsbergkreis@mail.weisser-ring.de melden. Gleiches gilt für Ratsuchende und Betroffene, die einen Ansprechpartner in Sachen Kriminalprävention und Opferhilfe benötigen.

Die Beratung ist kostenlos. Weitere Infos zum Opferschutzverein gibt es unter www. weisser-ring.de.

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