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»Die Terrasse des Lehrers Vullers«

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Vullers_Zei_Justi_340_hs_4c © Dagmar Klein

Seit Jahren kennt Dieter Hoffmeister die kleine Sandsteintafel über der Tür der einstigen Jugendherberge auf der Hardt. Jetzt hat er nach vielen Recherchen nicht nur die Inschrift entschlüsseln können....

Gießen. Dieter Hoffmeister forscht seit längerem zur Geschichte des Hardthofs. Im Januar erschien sein Buch zum Baron von Humbracht/von Heimbrachts, dem streitbaren ersten Besitzer des Oberen Hardthofs. Diese interessante Geschichte war ein Nebenprodukt seiner Recherche zur Geschichte der Brauerei. Nun hat er wieder Unerwartetes entdeckt.

Seit Jahren kennt Hoffmeister die kleine Sandsteintafel über der Tür der einstigen Jugendherberge auf der Hardt. Nun hat er weitergeforscht, um endlich die Frage zu beantworten, was die Zeichen darauf bedeuten. Eine Rundfrage bei der facebook-Gruppe Historische Mitte brachte den Hinweis, es handle sich um Sanskrit.

Für eine Übersetzung fragte Hoffmeister beim Institut für Indologie der Universität Marburg an. Von dort erhielt er eine ausführliche Antwort, zudem waren die Zuständigen, Dr. Stanislav Jager und Prof. Jürgen Hanneder, so interessiert, dass sie die Tafel persönlich in Augenschein nehmen wollten. Auch um zu klären, was das mittlere Wort bezeichnen könnte. Buchstabengemäß übersetzt heißt es »pragrivam« und das kann alle möglichen Teile an einem Gebäude meinen. Bei der Ortsbesichtigung im Sommer wurde klar, es handelt sich um die Terrasse. Insgesamt bedeutet die Inschrift also: »Das ist die Terrasse des Lehrers Vullers 1860«.

Wer damit gemeint war, das hatten die Marburger Wissenschaftler sofort richtig erfasst: Johann August Vullers (1803-1880), seit 1833 Professor für orientalische Sprachen an der großherzoglich-hessischen Ludwigs-Universität zu Gießen. Jager vermutet, dass die Sandsteintafel ein Geschenk zum Einzug in das neue Haus gewesen sein könnte.

Von der Terrasse muss man früher einen großartigen Weitblick gehabt haben, heute ist er nur noch zu erahnen. Hier lebte der Gelehrte in »fast ängstlich gehüteter Abgeschiedenheit auf der Hardt, einem etwa eine halbe Stunde von Gießen entfernten Gute«. Dies schrieb der Vullers-Biograf Dr. Franz Babinger in den Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 1919. Doch gibt Hoffmeister zu bedenken, dass am unteren Hardthof schon zu Vullers Zeiten (seit 1847) eine Brauerei mit Gaststätte und Biergarten war. »Das war ein beliebtes Ausflugsziel der Gießener. Ganz so abgeschieden und ruhig kann es, zumindest im Sommer, also nicht gewesen sein.«

Prof. Vullers dürfte den meisten, auch Historikern, unbekannt sein. Er hatte vier Jahre in seiner Geburtsstadt Bonn studiert (damals unter französischer Besetzung) und sich drei Jahre in Paris weitergebildet, bevor er 1830 in Halle seinen Doktortitel erhielt. Er bewarb sich für den freigewordenen Lehrstuhl an der Ludwigs-Universität Gießen und wurde 1833 berufen. Hier lehrte er bis zu seinem Tod 1880, also 47 Jahre lang. Zum Fach Orientalistik gehörten damals neben den Sprachen Arabisch und Hebräisch auch die orientalische Geschichte und die alttestamentliche Exegese.

Vullers war bewandert in vielen orientalischen Sprachen, die er auch in Vorlesungen und Seminaren vertrat. Publiziert hat er ausschließlich zur persischen Sprache. 1838 konnte er die Geschichte der Seldschuken publizieren, nachdem er in Gießen lange für die Anschaffung entsprechender Drucktypen gekämpft hatte. Seine Akte im Universitätsarchiv sei prall gefüllt mit den Briefwechseln, so der Biograf. Die Heyer’sche Buchdruckerei in Gießen wurde angewiesen, Sanskrit-Buchstaben anzuschaffen und die Zahl der arabischen Lettern zu vermehren. Das nötige Geld stellte das Ministerium zur Verfügung; nach diversen Eingaben, versteht sich. Das tragische Ende der so hart umkämpften Lettern: Vullers Nachfolger Bernhard Stade überließ sie dem Darmstädter Polytechnikum als »technisches Material«.

Eine weitere Besonderheit in Vullers Lebensweg war seine Entscheidung, an der Ludoviciana Medizin zu studieren. Hintergrund war sein Interesse an der altindischen Medizinliteratur, die er über das Studium besser verstehen lernen wollte. Vier Jahre lang besuchte er alle Praktika und Seminare, legte mit Vorträgen seine Kenntnis ab und erhielt den medizinischen Doktortitel. Eine Publikation über die Kunst der Geburtshilfe der alten Inder folgte, das war’s. Danach widmete er sich über Jahre dem persisch-lateinischen Wörterbuch, das zu seinem Hauptwerk werden sollte (1854). Er hatte schon diverse Orden bekommen, als ihn 1872 der Großherzog zum »Geheimen Studienrat« ernannte. Bis zuletzt kündigte Vullers im Uni-Vorlesungsverzeichnis seine Themen an.

Der Biograf notiert am Ende seiner wissenschaftlichen Biografie, dass nicht viel über den Privatmann Vullers herauszubekommen war. Dieser habe zurückgezogen mit Frau und Tochter gelebt, keinen gesellschaftlichen Verkehr unterhalten und wurde als Sonderling betrachtet. Gut 20 Jahre lang lebte seine ledige Schwester Margareta bei ihnen. Prof. Vullers starb laut amtlicher Todesanzeige im Januar 1880 in Gießen. Er wurde dem Biografen Babinger zufolge »auf dem Friedhof am Nahrungsberg beigesetzt.« Leider ist sein Grab auf dem Alten Friedhof nicht mehr zu verifizieren. Seine Witwe Henriette, geb. Fohr, hat Gießen offenbar bald nach Vullers Tod verlassen.

An zwei Punkten konnte Dieter Hoffmeister noch mehr herausfinden. Dem Brandkataster im Stadtarchiv zufolge hat Vullers das große Haus in den 1850er Jahren selbst erbauen lassen, neben Wirtschaftsgebäuden und Ställen. Aus einem Gartenhäuschen wurde demnach ein Wohnhaus. Vullers war durch den Tod seiner ersten Frau Klara Elisabeth, geb. Karth, zu einigem Vermögen gekommen.

Außerdem fand sich im Staatsarchiv Darmstadt eine Nachlassakte mit Testament (1874) und Vermögensliste. Demnach vermachte Vullers alles seiner Adoptivtochter Laura, geb. Knös, die den Stadtbaumeister Groß aus Gießen geheiratet hatte und mit diesem in Frankfurt lebte. Vullers verpflichtete Laura, seiner Gattin die Hälfte der gemeinsam erworbenen Güter zu überlassen und bis zu deren Lebensende für sie zu sorgen. Die Gebäude auf der Hardt wurden bald verkauft, an das Ehepaar Weidig. 1888 erwarb Friedrich Textor die Gebäude, verlegte im Jahr darauf den Biergarten und baute den Saal mit der breit gefensterten Fachwerkfassade an.

Dieter Hoffmeister Erstaunen darüber, dass diese Sandsteintafel noch nie das Interesse von Forschenden geweckt hat, erfuhr durch das Uniarchiv eine Ergänzung. Es gab schon mal jemand, den Studienrat Dr. Theodor Duseberg, der einen Artikel im Gießener Anzeiger veröffentlicht hat (17.7.1941). Mitten im Krieg war das wohl kaum ein Thema, das die Menschen weiter beschäftigte. Doch auch ein Brief des Lehrers 40 Jahre später an Zuständige in Stadt und Universität brachte keine weitergehende, jedenfalls keine öffentlich wahrnehmbare Reaktion. Immerhin legte Prof. Hans-Georg Gundel Artikel und Anschreiben in der Akte Vullers ab. So konnte es jetzt gefunden werden.

Dieter Hoffmeister plädiert dafür, dass dieses Gebäude mit seiner besonderen Geschichte unter Denkmalschutz gestellt wird und samt Terrasse erhalten bleibt. Der neue Eigentümer ist seit 2021 das EV, die diversen Räume werden als Büros und Lager für den Krankenhausbetrieb gebraucht. Für zukünftige Nutzungen müssen die Gebäude saniert werden, so die Auskunft. Ein Vorschlag wäre eine Informationstafel im Rahmen des Gießen-historisch-Informationssystems, damit die Geschichte nicht wieder 40 Jahre schlummert, bevor sie erneut neuentdeckt wird.

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Dieter Hoffmeister © Dagmar Klein

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