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  • AutorenbildHilge Kohler

Nicht perfekt - und deswegen top

Telekom Chef Tim Höttges stellt sich im Interview-Marathon den Fragen von Tilo Jung. Geht das gut?



Auf die erste Frage im Video hat er keine Antwort. Staatstrojaner? "Nie gehört", sagt er, "peinlich", aber so ist es.


Dann nestelt und fingert er an irgendetwas herum. Nervös?


Die ganze Zeit lässt er sich duzen. Seltsame Nähe zwischen zweien, die von Job, Rang und auch sonst weit auseinander sind.


Drei Dinge, die Chefs in Interviews nicht tun sollen. Drei Argumente für einen schlechten Auftritt?


Tim Höttges im Gespräch mit Tilo Jung. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom und der Journalist, der in seinem Format “Jung und Naiv” mächtigen Menschen mit naiven Kinderfragen auf den Zahn fühlt.


Ich las von dem Gespräch im PR Report. Dort ging es um eine Studie, in der Video-Auftritte von Deutschlands bekanntesten Vorstandsvorsitzenden bewertet wurden. Höttges hatte es mit seinem Auftritt auf den ersten Platz geschafft. Da ich selbst solche Auftritte analysiere, war ich neugierig. Und ich schaute mit das Gespräch an.


Hier mein Eindruck:


"Weiß ich nicht" - ist das eine gute Antwort?


Im Vorspann ein Ausschnitt aus dem Interview. Die Frage nach dem Staatstrojaner und die Antwort: "Weiß ich nicht; das ist mir jetzt peinlich, aber den Begriff habe ich noch nie gehört."


Sympathisch, authentisch, vertrauenswürdig. Alles was Höttges danach sagen wird, glaube ich ihm umso mehr. Denn ich weiß ja: Wenn er eine Antwort nicht weiß, dann sagt er das. Klassischer Fall von entwaffnend.


Herumnesteln - wie wirkt das?

Tim Höttges schaut nach unten

Die Kamera zoomt auf die schmalen Finger, die an etwas herumnesteln. In der Videoanalyse hatten Kollegen das kritisiert, denn nervöses Herumnesteln könne Glaubwürdigkeit kosten.


Ich kenne das, ich mache das auch. Manchmal unsicher, manchmal nervös, manchmal tief in Gedanken. Ich kenne jemanden, der zerrupft im Gespräch ganz Taschentücher; manchmal schaufelt er dann die Taschentuchfetzen zu einem akkuraten Haufen zusammen. Alles ohne es zu merken.


Höttges nestelt übrigens an einem magentafarbenen Mundschutz. Stört das? Mich nicht, im Gegenteil: Es macht den großen CEO menschlich, nahbar, zu einem wie wir.


Wann ist es ok, sich zu duzen?


Tilo Jung und Tim Höttges diskutieren am Tisch

Dann das Duzen. Befremdlich finde ich das im ersten Moment. Dann aber konsequent. Tilo Jung duzt aus Prinzip, das Duzen ist Teil der Rolle. Er mimt den jungen Ahnungslosen, dem keine Frage zu simpel ist.


Noch immer ist das Duzen und Siezen in Deutschland ein Thema für sich. Ein Thema, das viel über Autorität, Ranghöhe und Struktur in unserer Gesellschaft sagt. In manchen Konferenzen wird bewusst geduzt, um Gespräche auf Augenhöhe zu fördern.


Im Barcamp Weiterbildung zum Beispiel beharrt Karlheinz Pape auf dem Du als Regel, zumindest für die Dauer des Barcamps. Das ist anfangs befremdlich für manche, die sich im Alltag seit Jahrzehnten siezen. Aber nach einigen Barcamps ist die Regel akzeptiert und sorgt für inspirierende Gespräche.


Warum sollte es in Interviews anders sein?


Gute Interviews folgen zwei Dramaturgien: Dem Auftritt, in dem beide Seiten ihre Rollen ausfüllen, um dem Publikum etwas Sehenswertes zu bieten. Und dem Dialog, in dem zwei sich an einem Thema abarbeiten und dabei lernen, miteinander umzugehen.


Wenn es gut läuft, erleben wir als Zaungäste einen Dialog, der eine Eigendynamik entfaltet und die Gesprächspartner in Bewegung bringt. Dann, und eigentlich nur dann, ist ein Interview vor laufender Kamera spannend. Und wenn dazu gehört, dass eventuelle Rangdifferenzen den Prozess nicht stören, dann finde ich es schlüssig, zum Du überzugehen.



Zurück zu Tim und Tilo, dem Vorstand und dem jungen Fragensteller


Zwei Stunden lang haben die beiden sich unterhalten. Der Fragende hat konsequent geführt, der Befragte hat sich willig führen lassen. Und inhaltlich? Die ganze Palette, von Höttges’ Werdegang über Corona, das US-Geschäft und die Frage: “Womit verdient ihr eigentlich euer Geld?” Alles, was sich in zwei Stunden (!) abhandeln lässt.


Interessant fand ich:

  • Bedachte Antworten auf schwierige Fragen zu Trump und USA (ab Min 43)

  • Über die Corona-Warn-App und warum sie nicht flächendeckend im Einsatz ist (ab Min 50)

  • Über Home Office und Büros in der Pandemie (ab Min 1:05)


Mein Fazit:


Ein langes Interview, das sich wohl Viele nicht ganz anhören werden. Zwei Stunden, die von spitzeren Fragen, härterem Nachfassen und persönlicheren Einblicken profitiert hätten.


Trotzdem ein Auftritt, der sich lohnt. Denn er zeigt, was ein DAX40 CEO heute kommunikativ leisten kann. Und welche Symbolkraft von seiner Kommunikation ausgehen kann. Vor allem wenn sie anders ist als gewohnt.


Ich wünsche mir, dass wir so etwas öfter sehen:


Dass ein Vorstand sich auf Bühnen begibt, die nicht in seinem eigenen Kosmos liegen. Dass er sich Fragen stellt, die naiv klingen mögen, weil sie allgemeiner Natur sind. Fragen, die gerade deshalb die Kluft zwischen Konzernwelt und Alltagsleben überbrücken können. Wer würde das nicht wollen?



Übrigens: Auch im #Rhetorikcheck 2021 landete Tim Höttges auf Platz 1


Im Rhetorikcheck bewerten wir die Reden der Vorstände von Deutschlands börsenstärksten Unternehmen auf ihren Hauptversammlungen. Die diesjährige Hauptversammlungs-Saison hat begonnen. Wir werden sehen, welche Vorstände uns in diesem Jahr überzeugen.


Mehr zum Rhetorikcheck gibt es hier



Das Interview ist in voller Länge hier zu sehen

Zum Artikel im PR Report geht es hier




Bilder: Jung & Naiv (Standbilder Youtube)






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