Laut Weltmigrationsbericht 2022 gibt es rund 87 Millionen internationale Migrantinnen und Migranten in Europa. Knapp zehn Millionen „Wanderarbeiter“ sind dabei Nicht-EU-Bürger, von denen viele als „essenziell wichtige“ Arbeitskräfte gelten. Zahlreiche Menschen sind mit dem Plan nach Europa gekommen, dort Arbeit zu finden. Allerdings gibt es ebenso eine große Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft seitens der europäischen Unternehmen. Wie in so vielen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Konstellationen ist diese Beziehung jedoch alles andere als rosig.

In Europa und Zentralasien gibt es insgesamt 4,1 Millionen Menschen, die als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt werden. In Serbien organisierten indische Arbeiter öffentliche Protestaktionen, um ausbleibende Lohnzahlungen einzufordern (Menschen aus dem Balkanstaat werden ihrerseits des Öfteren diskriminiert, wenn sie in Westeuropa arbeiten wollen). In Italien begehen Landarbeiter Selbstmord. In Spanien wurden migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter in Unterkünften untergebracht, die weitaus schlimmere Bedingungen aufwiesen, als sie in Flüchtlingslagern herrschen – es gab weder fließendes Wasser noch Strom oder sanitäre Anlagen. Frauen, die als Hausangestellte von Diplomatinnen und Diplomaten in der Schweiz arbeiteten, haben Klagen gegen ihre Chefs wegen Nötigung und Menschenhandel eingereicht.

Diese Unterdrückungsstruktur existiert nicht nur in herkömmlichen Fabriken und in landwirtschaftlichen Betrieben, sondern zunehmend in der Online-Welt, auf Plattformen und in der sogenannten Gig Economy. In Deutschland kann beispielsweise ein Unternehmen, das Reinigungsdienste über eine Plattform anbietet, die Konkurrenz im Preiskampf unterbieten und so von den (teils informellen) Arbeitskräften profitieren, die es anzieht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter agieren dagegen isoliert voneinander – was zu wenig beziehungsweise nahezu gar keiner Durchschlagskraft in Gehaltsverhandlungen führt.

Warum kommen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Globalen Süden angesichts solcher Zustände trotzdem nach Europa?

Warum kommen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Globalen Süden angesichts solcher Zustände trotzdem nach Europa? Für viele ist dies keine freie und gern getroffene Entscheidung, sondern durch Klimakatastrophen, politische Unruhen, durch die Verfolgung von Minderheiten sowie Arbeitslosigkeit in ihren Herkunftsländern erzwungen. In Indien beispielsweise war die Arbeitslosenquote schon vor der Pandemie auf einem 45-Jahres-Hoch. Korrupte Regierungen spielen sicherlich eine Rolle bei der schlechten wirtschaftlichen Lage vieler Länder, aber auch die koloniale Geschichte inklusive Plünderung der natürlichen Ressourcen sowie die heute fortgeführte Ausbeutung solcher Ressourcen durch bereits privilegierte Nationen darf nicht ignoriert werden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle von politischer Instabilität, die aufgrund der Taten und Interessen des Globalen Nordens entstanden sind, man denke nur an das anhaltende Chaos im Irak.

Diejenigen im Globalen Süden, die mit einem heimischen Einkommen überleben könnten, sich aber dennoch entscheiden, zu emigrieren, werden meist vom Traum eines besseren Lebens angelockt: gute Löhne, würdige Arbeits- und Lebensbedingungen, gleiche Rechte. Einige Migrantinnen aus Indien, mit denen ich sprach, räumten ein, dass das Leben im Ausland zwar nicht einfach sei, ihre Familien daheim sie aber dadurch (zähneknirschend) als Versorgerinnen respektierten – und nicht als Belastung betrachten, die möglichst schnell verheiratet werden muss. Auch Männer berichteten, dass sie in ihren Herkunftsländern ein höheres Ansehen genießen, wenn Familienmitglieder im Ausland arbeiten. Für diejenigen, die mit Klassen-, Kasten- und religiöser Diskriminierung zu kämpfen haben, macht eine solche soziale Akzeptanz durch die lokale Gemeinschaft einen großen Unterschied. Wie der indische Dichter Nissim Ezekiel es einst ausdrückte: „Zuhause ist der Ort, an dem wir Anerkennung finden müssen.“

Die komplizierten Visumsprozesse der Zielländer schreien nach einer Überarbeitung.

Die komplizierten Visumsprozesse der Zielländer schreien nach einer Überarbeitung. Ein abstruses System, über das Arbeiterinnen und Arbeiter eigentlich angeworben werden sollen, macht sie nicht selten zu Opfern illegal agierender „Vermittler“, sowohl in den Heimat- als auch in den Zielländern. Diese verlangen „Gebühren“, die sich die Arbeiterinnen und Arbeiter oftmals nicht leisten können. Sie werden somit in eine Schuldenfalle getrieben, die später noch durch Lohndiebstahl verschlimmert werden kann, da ihnen oft nicht der volle, ihnen zustehende Lohn ausgezahlt wird. Da sie meist die Sprache des Ziellandes nicht beherrschen, sind diese Menschen besonders anfällig für ausbeuterische Mittelsmänner und -frauen. Die Sprachbarriere hindert sie zudem, Beratung und Unterstützung zu finden. Viele halten sich auch bewusst bedeckt, weil sie befürchten, dass sie nicht die erforderlichen Dokumente besitzen, um in Europa zu arbeiten. Sie können Missstände nur dann melden, wenn sie mit absoluter Sicherheit wissen, dass ihr aktueller Migrantenstatus keine negativen Auswirkungen für sie haben wird. Diese Angst kann Arbeitsmigrantinnen und -migranten sogar davon abhalten, notwendige medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Um eine gute Integration in die Gesellschaft der Zielländer zu gewährleisten, sollte es mehr Initiativen auf staatlicher und lokaler Ebene geben – einschließlich Sprachkursen und Programmen zur Sensibilisierung der Arbeiter bezüglich ihrer Rechte. Das hatte der Europarat im Jahr 2022 empfohlen. In den bereits 2004 vereinbarten „Gemeinsamen Grundprinzipien“ erkennt die Europäische Union ihrerseits die Integration als einen „zweiseitigen Prozess“ an. Man könne migrantischen Arbeitern nicht die alleinige Bürde auferlegen, selbstständig und ohne Entgegenkommen ihren Weg zu finden.

Staatliche Eingriffe sind wichtig, damit Unternehmerinnen und Landwirte sich nicht allein auf die Kostensenkung fokussieren – damit also die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht entmenschlicht und letztlich nur als „Werkzeuge im Produktionsprozess“ betrachtet werden – wie in den berühmten Szenen in Charlie Chaplins Moderne Zeiten. Schon für die Registrierung von Arbeitern muss es für die Unternehmen strenge Regeln geben, regelmäßige Kontrollen müssen deren Einhaltung sicherstellen. Gerade im Bereich der „Gig“- und der informellen Arbeit in der Digitalwirtschaft müssen dringend entsprechende Regelungen eingeführt werden. Einige Plattformen leisten allerdings bereits harte Lobbyarbeit gegen solche Gesetzesentwürfe.

Viele Migrantinnen und Migranten arbeiten weiterhin in einer Atmosphäre der Angst.

Viele Migrantinnen und Migranten arbeiten weiterhin in einer Atmosphäre der Angst. Es ist unwahrscheinlich, dass sie diejenigen namentlich nennen, die sie ausbeuten, und Befragungen der migrantischen Arbeiterschaft werden niemals alle Vorgänge ans Licht bringen. Häufigere unangekündigte Kontrollbesuche können hingegen helfen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen besser zu erfassen und zu beurteilen. Inspektoren müssen sich dabei als Personen präsentieren, an die man sich in Notlagen wenden kann, um die Situation zu verbessern – und nicht als Personen, vor denen man am besten davonläuft. Gewerkschaften könnten als Mittler zwischen der (migrantischen) Arbeiterschaft und den Beamten agieren.

Für migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter ist oft eine Vermittlerin oder ein Subunternehmer die unmittelbare Kontaktperson. Wenn Missstände entdeckt werden, darf sich der „offizielle“ Hauptarbeitgeber aber nicht auf Unwissenheit berufen können und muss ebenso zur Rechenschaft gezogen werden wie der möglicherweise illegal agierende Vermittler. Dabei können die internationalen Unternehmensverflechtungen ein Problem darstellen: Firmen sind gegebenenfalls in einem Land tätig, aber in einem anderen registriert. Es gibt bereits heute viele Diskussionen um die Verantwortung des Arbeitgeberlandes und die Frage, wann das Zielland der Arbeitsmigranten die Interessen dieser Arbeiter schützen muss. Weiter verkompliziert wird die Situation dadurch, dass ein Konzern möglicherweise in einer Region ansässig und aktiv ist, seinen Hauptsitz aber in einer anderen hat, und mit diversen anderen internationalen Unternehmen verbunden ist. Für Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich zur Wehr setzen wollen, ist es daher nicht einfach, die tatsächlich zuständige Behörde zu finden, die sich um ihre Anliegen kümmert. Insbesondere prekär Beschäftigte, die vor allem damit zu kämpfen haben, einen ausreichenden Tageslohn zu verdienen, können sich nicht allein mit derartigen Rechtsfragen auseinandersetzen: Sie benötigen kostenlosen oder zumindest kostengünstigen Rechtsbeistand.

Warsan Shires Gedicht Home beginnt mit den Worten:

no one leaves home unless
home is the mouth of a shark

[niemand verlässt sein Zuhause
außer es ist ein Haifischbecken]

Internationale Arbeitskräfte, die aufgrund zahlreicher Probleme ihre Heimat verließen, haben bereits viele der freien Stellen in Europa besetzt. Der Arbeitskräftemangel auf dem Kontinent könnte jedoch steigen, wenn die  Arbeiter schlicht keinen Arbeitsplatz finden, an dem faire und pünktliche Bezahlung, Sicherheit, Gesundheit und Arbeiterrechte nicht nur versprochen, sondern auch wirklich umgesetzt werden.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Tim Steins