Rechtsphilosophie, zuletzt bearbeitet am: 28.08.2023 | Jetzt kommentieren| Jetzt bewerten
Das Wort Möglichkeit kann die Bedeutung von Machbarkeit, Wahl, Chance, Fähigkeit oder Mittel haben.
Wie oder was man denken, wie oder was man unter gegebenen Voraussetzungen theoretisch oder praktisch tun könnte, bezeichnet man als eine Möglichkeit des Denkens oder Handelns.
Auch meint der Begriff die Art und Weise, wie sich eine Situation verändern, eine Entwicklung fortschreiten (Evolution) oder wohin eine Dynamik steuern könnte.
Die Möglichkeit beschreibt immer nur, was in der Zukunft sein oder geschehen könnte, ohne dass hierüber bereits sicheres Wissen besteht.
In der Logik wird die Möglichkeit von der Unmöglichkeit, der Kontingenz und der Notwendigkeit unterschieden. Das Denken in Möglichkeiten, welche zur Lösung von bestehenden Problemen oder Schwierigkeiten führen könnten, ist ein wesentlicher Grundsatz des Positiven Denkens und konstruktiven Handelns.
In der Philosophie ist die Möglichkeit ein Grundbegriff zur Bezeichnung einer Seite von Entwicklungsprozessen. Im Unterschied zur Wirklichkeit und Notwendigkeit beschreibt der Begriff der Möglichkeit einerseits das, was unter bestimmten realisierbaren Bedingungen wirklich werden kann (objektive oder reale M.), andererseits auch die reine Denkbarkeit einer Sache und ihre Widerspruchsfreiheit in sich (Denk-M.).
Allgemein werden mit diesem Begriff also Systeme, Prozesse, Handlungen und/oder Zusammenhänge in der materiellen Welt oder im Denken gekennzeichnet, die in der Bewegung der Wirklichkeit unter bestimmten Bedingungen eintreten, zur Wirklichkeit werden können, oder subjektiv unter bestimmten Voraussetzungen als wirklich gedacht werden können.
Insofern ist die Möglichkeit eine noch nicht verwirklichte Wirklichkeit, eine Art Keim, welcher in der bestehenden Wirklichkeit latent vorhanden ist.
Bezüglich der Entwicklung eines Systems bestehen in aller Regel mehrere objektive Möglichkeiten (Möglichkeitsfeld). Als real (oder objektiv) bezeichnet man Möglichkeiten, für die bedeutsame Bedingungen bereits vorhanden oder im Entstehen begriffen sind. Maß der Realität einer Möglichkeit ist die Wahrscheinlichkeit. Möglichkeiten, für deren Umsetzung in Wirklichkeit unzureichende Bedingungen vorhanden sind oder die kaum Aussichten auf Herausbildung haben, nennt man abstrakte Möglichkeiten.
Die Kriterien für die reale Konkretheit oder Abstraktheit von Möglichkeiten liegen nicht im Bewusstsein, sondern in der Entwicklung der Wirklichkeit selbst. Ohne das Vorhandensein realer Möglichkeiten in der Wirklichkeit wäre sinnvolle menschliche Arbeit (im Sinne von Umwandlung natürlich vorkommender Stoffe in für den Menschen brauchbare Formen) nicht möglich. Das Funktionieren selbst hochkomplizierter Technik basiert u.a. darauf, dass der Mensch die in der Natur enthaltenen stofflichen und energetischen Möglichkeiten nutzt, wobei er die in seinen Erkenntnissen enthaltenen Denkmöglichkeiten zur Konstruktion von Neuem anwendet.
Alles für den Menschen Machbare gründet in realen Möglichkeiten. Doch eine sach- und bedürfnisgerechte Aneignung der in der Natur schlummernden Möglichkeiten ist nur auf der Grundlage einer ethisch-moralisch orientierten Erkentnis grundlegender menschlicher Bedürfnisse möglich (Ethik, Moral).
Von der objektiven oder realen Möglichkeit wird, wie schon oben erwähnt, die Denk-Möglichkeit unterschieden. Man kann sagen: Alles, was real möglich ist, ist auch denkbar, aber nicht unbedingt schon bedacht. Dagegen ist nicht alles, was denk-möglich erscheint, auch real möglich. Auf diesem Unterschied beruht zu einem guten Teil der Wert künstlerischer Aneignung von Wirklichkeit (Kunst) und das „Geheimnis“ manchen ästhetischen Genusses.
Die Existenz der denkbaren Möglichkeit ist ein Stimulans realistischer Phantasie in der wissenschaftlichen Arbeit, z.B. in der Grundlagenforschung (Wissenschaft). Das Zu-Tage-Fördern neuer theoretischer Prinzipienlösungen für bekannte Probleme erscheint zunächst meist paradox. So sprach zum Beispiel Niels Bohr (1885-1962) bezüglich neuer Einsichten auf dem Gebiet der Atomphysik von „einer ganz verrückten Idee“. Die Frage war nur, ob die Idee verrückt genug sei, um wahr zu sein. Freilich ist nicht jede „verrückte Idee“ Ausdruck auf realer Erkenntnis beruhender Denk-Möglichkeiten.
An das Vorhandensein verschiedener Möglichkeiten knüpft sich auch die Bildung von Alternativen zu Handlungsentscheidungen. Auch in dem Punkt ist die Konkretheit der Analyse wirklicher Zusammenhänge und Prozesse sowie die Wahl der Kriterien ausschlaggebend für den realistischen Charakter der Alternative. Fatale Folgen können die Umkehrung von Möglichkeit und Wirklichkeit im Denken nach sich ziehen.
So ist für den kritisch denkenden, verantwortungs- und pflichtbewussten Menschen (Pflicht, Verantwortung) insbesondere im Bezug auf den gesellschaftspolitischen und sozialen Rahmen seines Handelns das Bedenken aller Möglichkeiten und der eventuellen Folgen (Verantwortungsethik) zwingend.
Der Begriff der Möglichkeit wurde in der Antike bereits bei Sokrates (469-399 v.Chr.) erörtert. Sein Schüler Platon (427-347 v.Chr.) bekämpfte den Begriff vom Standpunkt der Ideenlehre. Aristoteles (384-322 v.Chr.) bezeichnete das ontologische Möglichsein als Potenzialität (dynamis), die Wirklichkeit in sich zu gestalten (Materialursache), im Gegensatz zur Wirklichkeit als Aktualität (energeia).
In der Neuzeit haben sich vor allem Immanuel Kant (1724-1804) und Martin Heidegger (1889-1976) mit dem Begriff der Möglichkeit befasst.
Literatur: Bohr, Niels: Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Vorträge 1930-1961. Braunschweig und Wiesbaden 1985. Brockhaus: Die Enzyklopädie. 20. Aufl. Leipzig und Mannheim 1999. Freede, Jochen: Problem oder Chance? Neustadt 1998. Ders.: Natur und Verantwortung. In: Die Spur des Rades. Neustadt 2001. Hartmann, Nicolai: Möglichkeit und Wirklichkeit. Berlin 1938. Ders.: Einführung in die Philosophie. Berlin 1954. Hörz, Herbert / Wessel, Karl-Friedrich: Philosophische Entwicklungstheorie. Berlin 1983. Kant, Immanuel: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. EA Königsberg 1763. Korch, Helmut: Das Problem der Kausalität. Berlin 1965. Klaus, Georg / Buhr, Manfred (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 10. Aufl. Leipzig 1974. Meinong, Alexius: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie. Leipzig 1904. Ders.: Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit. Leipzig 1915. Schischkoff, Georgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 22. Aufl. Stuttgart 1991.
Autor: Hans-Günter Eschke / Jochen Freede
Quelle: Erstveröffentlichung im Lexikon freien Denkens, Angelika Lenz Verlag 2002
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