Auf den eindrucksvollen Monolog Escher Meedchen folgt mit Escher Bouf kein ebenbürtiger Perspektivwechsel

Und überall Leere

Max Thommes in der Rolle des Gilles
Photo: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land du 05.01.2024

Nach außen hin führt Gilles ein geregeltes Leben. Der Staatsbeamte ist verheiratet, hat mit seiner Frau zwei Kinder und führt eine gesicherte (klein-)bürgerliche Existenz. Doch mit den Jahren bröckelt die Fassade. Unverarbeitete Traumata sitzen bei ihm tief und treiben ihn um.

Auf der Bühne des Escher Theaters steht ein wütendes Nervenbündel, das Misere ausstrahlt. Gilles (Max Thommes) rauft sich die nicht vorhandenen Haare und tigert im Kreis wie in einem Käfig. Diesem männlichen Wutbündel will Frau tatsächlich nicht begegnen.

Auf das Escher Meedchen, das den Missbrauch in der Familie aus der Sicht der Betroffenen thematisierte, folgt fünf Jahre später der Escher Bouf, in dem die Autorin Mandy Thiery die Perspektive des Bruders Gilles und damit eines indirekt betroffenen Familienmitglieds beleuchtet. In diesem zweiten Teil, der laut Programm an die Tradition des Volkstheaters anknüpfe, steht ein männlicher Beteiligter, Opfer, aber auch irgendwie schuldiger Mitwisser, im Mittelpunkt; die Spätfolgen kämen zum Vorschein, wenn am eigenen Lebensmodell der Putz bröckele.

Die Zuschauer/innen blicken im Escher Theater in die Innenräume: ein Wohnzimmer, ein Büro oder eine Party-Gesellschaft. Wie schon beim „Meedchen“ ist auch beim „Bouf“ das wandelbare Bühnenbild (Peggy Wurth) gelungen, denn es spiegelt das Innenleben der Figuren wider, mäandert zwischen schöner heiler Welt, Langeweile und glitzernder Party. Blickt man hinter die blinkende Fassade, erahnt man verwundete Gestalten.

Gilles diskutiert anfangs in Rage mit seiner Partnerin Monique und wirft ihr vor, im Leben drehe sich nicht alles nur um Sex. – Es hagelt gegenseitige Vorwürfe. Er wolle doch nur abspritzen und sei beziehungsunfähig, wirft ihm etwa seine Frau (Rahel Jankowski) vor. Seit Monaten hätten sie keinen Sex gehabt. Eine intakte Beziehung sieht in ihren Augen anders aus. Dabei scheint das ungleiche Paar überhaupt nicht zusammenzupassen. Der Freiheitsdrang der Künstlerin wird durch den Staatsbeamten Gilles erstickt. Oder ist es Gilles, der langsam an seinen nichtverarbeiteten Kindheitserlebnissen zu ersticken droht?

Dagegen wirken Gilles und seine Schwester Mona wie eine eingeschworene Gemeinschaft.

Noch ein Grund mehr, um den Argwohn seiner Frau zu wecken: „Du bass e Vull a deng Schwester eng hannerhälteg Fotz“, wirft sie ihm vulgär an den Kopf. Zwischen allen Stühlen stellt sich die pubertierende Tochter Diane (Clara Hertz) Fragen, getrieben vom Drang, das Leben zu genießen. Die Rolle füllt Hertz offen, neugierig und naiv. – Sie erinnert in der Zeichnung etwas an die Figur, die sie vor Kurzem in Martin Crimps La campagne im Théâtre Ouvert Luxembourg darstellte, allerdings ist letzteres Bühnenstück eindrucksvoller.

Marc Baum gibt mitunter grotesk, doch witzig einen Freund von Gilles, einen schnöseligen Schwerenöter, der versucht, seinen Kumpel mit sexistischen Sprüchen aufzuheitern. Eine Party soll helfen, Gilles zu zerstreuen und auf andere Gedanken zu bringen. Sie lockt glitzernd mit anonymen Gästen als mondäner Maskenball. Es ist der Höhepunkt dieses von Carole Lorang inszenierten kurzweiligen Stücks. Die Musik und eine Choreografie (Claudia Urhausen) von neun Statist/innen, darunter auch professionelle Tänzer wie Gianfranco Celestino, schaffen es für wenige Minuten, das Publikum anzustecken. – Ein kurzer, Laune machender Moment!

Doch Gilles selbst wirkt auf der Party verloren. Er stellt sich Fragen: „Ich hab mich doch immer an Regeln gehalten. – Bin ich nicht normal?“ Indes reißt sein Freund (Marc Baum), Pflaster in der Tasche, Stiefel mit Leopardenmuster, fast die Tochter Diane auf. Man brauche immer einen Plan B, feixt er, während der Teenie sich übergibt.

Wenn sich Tochter Diane und Vater Gilles am Ende begegnen und sie der Gedanke beschleicht, dass sie vielleicht das Resultat einer inzestuösen, geschwisterlichen Verbindung ist: „Den Escher Bouf mam Escher Meedchen?“, versandet das an sich vielversprechende Stück trotz dieser beklemmenden Perspektive in seichter Unterhaltung und fasert ohne ein richtiges Ende aus. Nach siebzig Minuten fällt der Vorhang abrupt, und als Zuschauer/in liest man auf einem Banner, das hierauf noch ein dritter Teil folgen werde.

Als Gilles Handy bimmelt und man die Stimme des Escher Meedchens (Brigitte Urhausen) hört, ist eine Verbindung zum ersten Teil geschaffen, den man ansonsten im zweiten Teil der Trilogie gänzlich misst. So ist der „Bouf“ kaum ohne den Kontext des „Meedchen“ zu verstehen, Gilles aggressive Verzweiflung wirkt nebulös.

Während die Einzel-Performance von Brigitte Urhausen aufrüttelt und die Zuschauerin berührt, ist die leicht schräge Inszenierung des Escher Bouf in Teilen überdreht mit wenig Tiefe. Die Figuren berühren nur in seltenen Momenten und lassen einen recht unbeteiligt zurück.

Anina Valle Thiele
© 2024 d’Lëtzebuerger Land