Die Corona-Pandemie beeinflusst Lehre und Forschung an der Uni Jena.

GEDANKENAUSTAUSCH

Wie hat das Krisenjahr 2020 die Wissenschaft verändert?
Die Corona-Pandemie beeinflusst Lehre und Forschung an der Uni Jena.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Das Krisenjahr 2020 liegt bereits einige Monate zurück, doch die Corona-Pandemie hält weiter an. Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft – nahezu alle Lebensbereiche sind von der Pandemie betroffen. Auch an den Universitäten laufen Forschung und Lehre noch immer im »Corona-Modus«. Was bedeutet das für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Jena? Wie blicken sie auf das Jahr 2020 zurück und welche Erfahrungen nehmen sie daraus mit? Wir haben in allen zehn Fakultäten nachgefragt.


Umfrage: Vivien Busse

Anna Leisner-Egensperger
(Professorin für Öffentliches Recht und Steuerrecht​)

Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger.
Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger.
Foto: Peter Scheere/Uni Jena

Das Jahr 2020 hat die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Schlug im Frühjahr noch die Stunde der Exekutive, so galt es ab Sommer, die Bedeutung der parlamentarischen Demokratie in Erinnerung zu rufen. Derzeit bin ich als auswärtige Sachverständige in die Impfstrategie der Bundesregierung einbezogen, eine unerwartet spannende Aufgabe. Im Übrigen war das letzte Jahr für mich wissenschaftlich so produktiv und erfüllend, wie mir das sonst durch Pendeln in überfüllten Zügen und gleichstellungsorientierte Gremienarbeit verwehrt wird: von Grundgesetzkommentierungen über diverse Handbuchartikel bis zur digitalen Abnahme vieler Dissertationsverfahren.

Eine persönliche Herausforderung war es, dass unsere vier Kinder im Alter von 11 bis 15 Jahren phasenweise ganztägig zuhause waren. Weil ich mich intensiv auch um sie gekümmert habe, bekam ich manchmal kaum Schlaf. Die vollen Hörsäle fehlen mir, mitunter auch der persönliche Austausch mit Studierenden. Doch sind Zoom und Cisco keine schlechten Erfindungen.

Nikolaus Knoepffler
(Professor für Angewandte Ethik)

Prof. Dr. Nikolaus Knoepffler.
Prof. Dr. Nikolaus Knoepffler.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Seit ihren Anfängen in der platonischen Akademie lebt die Ethik vom persönlichen Austausch. Covid-19 hat darum Lehrende wie Studierende unseres Masterstudiengangs »Angewandte Ethik und Konfliktmanagement« und des Querschnittfachs »Ethik (mit Geschichte und Theorie) der Medizin« vor eine große Herausforderung gestellt.

Ethik bedeutet in der Universität eben nicht, eigene moralische Meinungen zu positionieren. Vielmehr bedeutet sie zu lernen, im Austausch mit dem jeweiligen Gegenüber dessen Perspektive und dessen Argumente nachzuvollziehen, aber auch die eigene Position infrage stellen zu lassen. Letztendlich soll das bestmögliche Argument überzeugen und eine angemessene wertebasierte Lösung für moralisch relevante Konflikte in einer bestimmten geschichtlichen Situation gefunden werden. Darum ist die persönliche Präsenz im Bereich Ethik so wichtig. Die digitale »Präsenz« erfahre ich deshalb als eine Verarmung, die aber in der Güterabwägung, Gesundheitsschutz versus echtem Präsenzunterricht, im Jahr 2020 wohl unvermeidbar war.

Anke Lindmeier
(Professorin für Mathematikdidaktik)

Prof. Dr. Anke Lindmeier
Prof. Dr. Anke Lindmeier
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Seit März 2020 haben wir mit der Corona-Pandemie ein Beispiel mehr, warum das Verständnis von mathematischen Konzepten für die Gesellschaft wichtig ist. Als Mathematikdidaktikerin weiß ich, dass einst genossener Mathe-Unterricht zur Exponentialfunktion nicht garantiert, dass man das Wachstum auch tatsächlich richtig einschätzen kann. Selbst in renommierten Medien dauerte es, bis geeignete Darstellungen der Pandemie-Entwicklung gefunden wurden. Manche haben kurzzeitig sogar mit logarithmischen Skalen experimentiert, das war vermutlich für viele Lesende mathematisch leider zu anspruchsvoll.

Welche Folgen die Corona-Pandemie langfristig für die mathematikbezogene Bildungsforschung hat, ist schwer abzuschätzen. Untersuchungen mit und an Schulen sind praktisch vollständig zum Erliegen gekommen. Mit Blick auf die Herausforderung des digitalen Unterrichts befürchte ich, dass die Forschungsbedingungen noch lange schwierig bleiben werden, etwa weil computerbasierte Erhebungen in Schulen schwer umzusetzen sind. Ich hoffe aber, dass wir in der Gesellschaft erkennen, dass Forschung zum Mathematiklernen wichtig ist.

Kai Papenfort
(Professor für Allgemeine Mikrobiologie)

Prof. Dr. Kai Papenfort
Prof. Dr. Kai Papenfort
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Das Jahr 2020 war ein Wissenschaftsjahr wie kein anderes. Wie in vielen anderen Bereichen hat uns die Pandemie in Wissenschaft und Lehre vor bisher unbekannte Herausforderungen gestellt, die uns auch noch heute begleiten.

Im Gegensatz dazu hat die öffentliche Auseinandersetzung mit dem COVID-19-Erreger zu einem verstärkten Interesse an wissenschaftlichen Prozessen geführt und die Bedeutung der Infektionsforschung in einer globalisierten Lebenswelt unterstrichen. Dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch eine übergeordnete Rolle in der politischen Entscheidungsfindung haben sollten, ist eine der zentralen Lehren der Pandemie und es bleibt zu hoffen, dass sich dieses Prinzip auch in »post-COVID-19« Zeiten durchsetzen wird.

Corinna Dahlgrün
(Professorin für Praktische Theologie)

Prof. Dr. Corinna Dahlgrün
Prof. Dr. Corinna Dahlgrün
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Die wissenschaftliche Welt zeigt sich seit März 2020 meist nur in den kleinen Zoomausschnitten Bücher-bewehrter Arbeitszimmer. Die kirchliche Welt, mein Wissenschaftsfeld, versucht, bestmöglich auf die vielen akuten Nöte zu reagieren und entwickelt dabei einige Kreativität. Als Praktische Theologin habe ich solche aktuellen Entwicklungen zu reflektieren und Handlungsoptionen vorzuschlagen. Ein Versuch ist das Homiletik-Seminar »Predigen für das Internet«. In der ersten Hälfte sahen wir uns Gottesdienstformate aus verschiedenen deutschen und englischen Kirchen an, um Kriterien für eine gute Praxis zu finden. In der zweiten Hälfte folgten die Filme der Studierenden – für sie eine nicht immer schmerzfreie, doch höchst lehrreiche Erfahrung.

Solcherart gute Erfahrungen mit der Online-Lehre führen zu weitergehenden Ideen. So soll im nächsten Winter ein Seminar zu Jesus-Filmen stattfinden, in Kooperation mit dem Bonner Neuttestamentler Hermut Löhr – interdisziplinär, überregional und digital.

Martin Walter
(Professor für Psychiatrie und Psychotherapie​)

Prof. Dr. Martin Walter
Prof. Dr. Martin Walter
Foto: Michael Szabo/UKJ

Ein halbes Jahr nach Dienstantritt als Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie lernte ich meine neue Einrichtung mit all ihren Stärken und Schwächen dank Corona wie durch ein Brennglas kennen und machte auf der Suche nach praktischen Lösungen viele tolle menschliche Bekanntschaften. Statt Aufbau einer neuen wissenschaftlichen Abteilung hieß es Krisenmanagement und Verantwortung für besondere Beanspruchungen unserer Mitarbeiter und Patienten. Ich erlebte beeindruckt, wie Kollegen über sich hinaus- und wie Teams zusammenwuchsen. Neue technische Lösungen z. B. in der digitalen Psychotherapie wurden auf einmal möglich. Unsere MRT-Forschung am Menschen ist aktuell nicht möglich.

Ohne Ergebnisse eigener Experimente arbeiten wir daher international bei der Auswertung bestehender Datensätze zusammen und profitieren von unserer Erfahrung der Zusammenarbeit auf Distanz. Neue Probleme wie die »post-Covid fatigue« stimulierten konkrete Projekte und bahnten eine neue übergeordnete Zusammenarbeit zu Entzündung und psychischer Gesundheit in Jena an.

Silke Übelmesser
(Professorin für Allgemeine Volkswirtschaftslehre/Finanzwissenschaft)

Prof. Dr. Silke Übelmesser
Prof. Dr. Silke Übelmesser
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Die Corona-Pandemie bringt vielfältige Herausforderungen für uns alle, im Privaten wie im Beruflichen. Für mich als Wirtschaftswissenschaftlerin sind zudem viele wissenschaftliche Themen eng mit der Pandemie verbunden. Dazu gehören die Auswirkungen auf die Wirtschaft und insbesondere die Folgen für die öffentlichen Finanzen.

Die Corona-Pandemie lässt sich jedoch aus der Perspektive einer Disziplin nur sehr unzureichend erfassen. Vielmehr ist eine interdisziplinäre Perspektive hilfreich. Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Thüringer Landesregierung zum Pandemiemanagement habe ich die Gelegenheit, im interdisziplinären Austausch mit den anderen Mitgliedern die Komplexität des Pandemiemanagements zu diskutieren und Empfehlungen für die politische Entscheidungsfindung abzuleiten. Hoffen wir, dass wir es gemeinsam schaffen, im Jahr 2021 die Pandemie schrittweise zu überwinden und wieder zu etwas mehr Normalität zurückkehren zu können.

 

Andreas Tünnermann
(Professor für Angewandte Physik)

Prof. Dr. Andreas Tünnermann
Prof. Dr. Andreas Tünnermann
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

2020 war auch eine Möglichkeit, neue Wege für Forschung und Lehre der Zukunft zu finden: In Jena hat die Universität gemeinsam mit der Max Planck School of Photonics und dem Fraunhofer IOF ein »Digital Teaching Lab« eingeweiht. Hier können mittels Augmented Reality virtuelle Experimente, z. B. ein Fourier Optik-Versuch für Studierende, durchgeführt werden. Damit schaffen wir auch über Corona hinaus neue Rahmenbedingungen, unter denen Lehre forschungsnah gestaltet werden kann.

Wir sind 2020 insgesamt digital näher zusammengerückt: Im Rahmen von »Lecture Series« gab z. B. Nobelpreisträger Stefan Hell eine virtuelle Vorlesung für unsere Promovierenden. In öffentlichen »Coffeebreaks« konnten sich darüber hinaus Interessierte aus aller Welt über ihre Forschung austauschen. Für die Wissenschaft ist das eine große Chance! Den persönlichen Umgang ersetzen virtuelle Meetings auf Dauer aber nicht. Ich freue mich darauf, demnächst wieder Präsenzveranstaltungen durchführen zu können.

Jürgen Bolten 
(Professor für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation)

Prof. Dr. Jürgen Bolten
Prof. Dr. Jürgen Bolten
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Eine zentrale Fragestellung interkultureller Forschung fokussiert den konstruktiven Umgang mit unvertrauten und in diesem Sinn unsicheren und disruptiven Situationen. Aus diesem Blickwinkel sind Analysen des öffentlichen Kommunikationsverhaltens in der Corona-Pandemie äußerst erkenntnisreich. Beispielsweise um die Entstehung gesellschaftlicher bzw. »kultureller« Polarisierungen besser zu verstehen und Handlungsvorschläge zu erarbeiten, die auf »Weltoffenheit« und »Miteinander« zielen.

Die besonderen Umstände der Pandemie gaben Impulse in Bezug auf die Lehre: Gerade im interkulturellen Kontext ist weltweite virtuelle Zusammenarbeit herausfordernd. Die forcierte Entwicklung digitaler Handlungsszenarien im Rahmen von Videokonferenzsystemen hat technologisch deutliche Qualitätssprünge hervorgebracht: beispielsweise bei der Durchführung interkultureller Planspiele im Projekt IVAC oder bei der Umsetzung grenzüberschreitender virtueller Zusammenarbeit in der Lehre auf glocal-campus.org. Erfreulich ist vor allem die deutlich zunehmende Akzeptanz virtueller Zusammenarbeit.

Mirka Dickel
(Professorin für Didaktik der Geographie)

Prof. Dr. Mirka Dickel
Prof. Dr. Mirka Dickel
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Angesichts des staatlich verordneten Lockdowns, der Kontaktbeschränkungen, der Ungewissheiten und Unvorhersehbarkeiten, die mit der gesellschaftspolitischen weltweiten Corona-Krise verbunden sind, wurden Fragen nach der menschlichen Selbstvergewisserung in der Moderne drängend. Wir leben in einer Zeit, in der menschliches Leben durch »transzendentale Obdachlosigkeit« (Georg Lukács) gekennzeichnet ist.

Meine Fragen rückten mir buchstäblich auf den Leib, ließen mir keine Ruhe, trieben mich zur Forschung. Konkret ging es mir um die Frage, was es 2020 heißt, von wissenschaftlicher Verantwortung zu sprechen. Was bedeutet es für mich und für uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Verantwortung für das Leben und Überleben auf unserer Erde zu tragen? Welches Mensch-Natur-Verhältnis ist es wert, dass wir es im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs stark machen? Für welches Mensch-Natur-Verhältnis können wir wahrhaft eintreten? Kurz: Welche guten Gründe gibt es für unsere Forschung und wie lassen sie sich argumentieren? Gute Gründe sind philosophisch gesehen Gründe, die einer argumentativen Prüfung standhalten und somit auf Reflexion verweisen. In 2020 befragte ich die Voraussetzungen der Forschung in der Moderne und befasste mich mit der Verhältnisbestimmung von Epistemologie (Erkenntnistheorie) und Ontologie (Logos) im Hinblick auf wissenschaftliche Verantwortung.