Es ist passiert: mein erster unzufriedener Kunde.
So schlimm war's natürlich nicht! Foto: Andrea Piacquadio / Pexels

Es ist passiert: mein erster unzufriedener Kunde.

1995! Kaum zu glauben, aber in diesem Jahr habe ich tatsächlich den ersten Text für eine Verkaufsbroschüre verfasst. Print, klar. Und für Immobilien, weil die das tägliche Brot der damaligen Agentur waren. Seitdem hat sich vieles in meinem Beruf verändert, aber eines nicht: Ich bin immer prächtig mit meinen Kund:innen zurechtgekommen – und umgekehrt. Bis jetzt.

Der Auftrag war klar und erforderte vor allem solides Text- und SEO-Handwerk: Ich sollte eine Website betexten. Die Site an sich war neu, würde aber auf der (mittlerweile stillgelegten) Web-Präsenz eines bestehenden Business aufbauen. Der Kunde wollte alles in allem "eigentlich den gleichen Text wie vorher, nur anders" – und ich sollte Superlative sowie eine zu verspielte Sprache meiden. Das hört sich jetzt nach eher vagen und teilweise widersprüchlichen Vorgaben an, aber ich habe natürlich gelernt, aus solchen Angaben das rauszuziehen, was der Kunde erwartet.

Dachte ich zumindest.

Das Ganze war nicht sehr umfangreich, also ging bald ein erster Entwurf raus. Reaktion des Kunden: "Gefällt mir nicht." Das kann bei Neukunden schon mal vorkommen; wir müssen uns ja aneinander rantasten. Leider konnte ich nicht recht in Erfahrung bringen, was denn nicht gefällt, außer, dass der Text halt doch zu weit vom alten Inhalt entfernt war. Also habe ich den zweiten Entwurf so nah wie möglich an der Vorgabe verfasst – so sehr es eben ohne Plagiieren möglich war. Ergebnis: "Na ja, schon besser, da kann ich schon was verwenden." Nach einiger Zeit Funkstille entdeckte ich dann, dass die Site online war. Und zwar mit einem anderen Text. Hauptmerkmale: Sehr weit von der alten Vorgabe entfernt, sprachlich verziert und mit Superlativen geschmückt.

Also ganz anders als die Vorgabe.

Das hat mich dann doch zum Grübeln gebracht: Habe ich den Kunden nicht verstanden und seine Wünsche nicht richtig umsetzen können? Lag ich mit dem, was er möchte, völlig daneben? Das Ergebnis der Zusammenarbeit legt solche Schlüsse nahe; meine jahrzehntelange Erfahrung sagt aber: Nein, für gewöhnlich kann ich mich sehr genau in die Kund:innen hineinversetzen. Wenn vielleicht nicht beim ersten Versuch, dann aber auf jeden Fall in der weiteren Entwicklung des Projekts.

Was also ist schiefgelaufen?

Wenn ein/e Kundin mitten in der Kooperation die Zusammenarbeit abbricht und sich einen Text von anderer Stelle holt, gibt es dafür wohl vier mögliche Gründe:

  1. Ich habe an irgendeiner Stelle einen Beratungsfehler gemacht.
  2. Ich habe schlicht den falschen Stil und / oder unpassende Inhalte gewählt.
  3. Der Kunde hat sich in einen anderen Text instantverliebt und möchte nichts anderes.
  4. Die Chemie hat einfach nicht gepasst, und da redet man halt aneinander vorbei.

Punkt 4 wäre für mich der Bequemste; Lösung: Ich kann nichts für – anderen Kunden suchen – weitermachen. Aber zumindest aus Sicht des Kunden liegt das Problem wohl eher bei Punkt 1 oder 2. Unbequemer, aber etwas, womit ich umgehen muss.

Und wie gehe ich damit um?

Doofer Spruch und doch die Wahrheit: Auch schlechte Erfahrungen sind für etwas gut. Ich für meinen Teil werde versuchen, daraus zu lernen. Vielleicht sind jahrzehntelange Erfahrung und durchaus belegbare Empathie manchmal doch nicht genug. Man muss den Kund:innen eben nicht nur zuhören, sondern sollte auch nachfragen, nachhaken, nachbohren. So lange, bis auch wirklich unmissverständlich klar ist, wie die Erwartungshaltung ist. Denn einer Sache bin ich mir sicher: Ich hätte dem Kunden genauso gut – oder nach Möglichkeit besser – einen Text verfassen können, der dem schlussendlich gewählten Stil entspricht. Wenn ich erfolgreich in Erfahrung gebracht hätte, was er denn wirklich möchte.

Wenn ich Sie also in einem vorbereitenden Gespräch löchere; wenn ich immer wieder Fragen stelle; wenn ich versuche, so viel wie möglich über Ihre Motivation und Ihre Ziele in Erfahrung zu bringen – haben Sie das meinem ersten unzufriedenen Kunden zu verdanken. Und wenn dann dabei ein besonders gelungener Text herauskommt, gilt ein stückweit dasselbe.

Ruth Dudenhöffer

In partial retirement at Starkstrom-Gerätebau

2y

Wir haben selten einen Texter erlebt, der so offen auf alle Änderungswünsche eingeht - sofern überhaupt nötig 😀 . Machen Sie bitte so weiter!

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Sandra Scherm

Head of Compliance Siemens Digital Industries

2y

Alles Gute für den nächsten Versuch! Und ja, es passiert. Jeder/m. Irgendwann. Einmal ist m.E. nicht schlimm, sondern menschlich.

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