Wehrhafte Demokratie

Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist immer wieder aufs Neue herausgefordert. Mit den Instrumenten einer wehrhaften Demokratie versucht der Staat, diese Ordnung zu verteidigen. Was bedeutet wehrhafte Demokratie konkret? Das Dossier gibt einen Überblick über das Thema und liefert Anwendungsbeispiele der wehrhaften Demokratie. Außerdem stellt es die Frage, ob die wehrhafte Demokratie ein Leitbild für die demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist.

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Autor: Felix Steinbrenner

Felix Steinbrenner ist Fachreferent und leitet die Stabsstelle „Demokratie stärken“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB).

Der Text ist als Einführung in der Zeitschrift „Wehrhafte Demokratie“ (Politik & Unterricht 2021) erschienen.

Das aktuelle Heft setzt sich mit extremistischen und demokratiefeindlichen Entwicklungen in Deutschland auseinander. Es zeigt auf, wie solche Tendenzen die Demokratie gefährden können und wie der Staat, aber auch jede und jeder Einzelne auf diese Herausforderungen reagieren kann. „Politik & Unterricht“ enthält neben einer Einführung eine Fülle von Texten und Materialien für den Unterricht in der Sekundarstufe I.

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Einführung: Wehrhafte Demokratie

Obwohl die Demokratie in Deutschland nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und der SED-Herrschaft mittlerweile als gefestigt gelten kann, steht sie immer wieder unter Druck. Antisemitisch und rassistisch motivierte Anschläge, wie die von Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 oder die Ermordung des Kasselers Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 1. Juni 2019 durch einen Rechtsextremisten, fordern die Demokratie genauso heraus wie der Versuch im Zusammenhang mit Protesten gegen die Corona-Politik im August 2020, das Reichstagsgebäude als Sitz des Bundestages gewaltsam zu „erstürmen“. Auch gewalttätige linksextremistisch motivierte Ausschreitungen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G-20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 stattfanden, und islamistisch motivierte Terroranschläge wie der auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 oder in einem Regionalzug in der Nähe von Würzburg im Juli 2016 zeugen von demokratiefeindlichen und extremistischen Tendenzen in Deutschland.

Obwohl diese Beispiele aus neuerer Zeit nicht miteinander zu vergleichen sind, zeugen sie doch davon, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung immer wieder aufs Neue herausgefordert ist. Mit den Instrumenten einer wehrhaften Demokratie versucht der Staat, diese Ordnung zu verteidigen.

Im November 2020 legte der Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus einen Katalog mit 89 Maßnahmen vor. Eine dieser Maßnahmen kündigte an, ein „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ erarbeiten zu wollen. Durch diese Ankündigung griff die Bundesregierung einerseits jahrelange Forderungen zivilgesellschaftlicher Träger der Extremismusprävention nach einem „Demokratiefördergesetz“ auf, das die Finanzierung durch den Bund auf Dauer sicherstellen soll.

Durch die darauffolgenden politischen Debatten und die Berichterstattung gelangt andererseits ein zentrales Strukturprinzip der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland wieder in den Blick der Öffentlichkeit, nämlich das der wehrhaften Demokratie. 

Elemente einer wehrhaften Demokratie gab es schon in der Weimarer Republik, wie zum Beispiel die Republikschutzgesetze. Überlegungen zu einer „wehrhaften“ Demokratie finden sich nach dem Scheitern der Weimarer Republik und anderer europäischer Demokratien in der Zwischenkriegszeit in der Exilliteratur während der Zeit des Nationalsozialismus unter den Stichworten „streitbare Demokratie“ (Karl Mannheim) oder „militant democracy“ (Karl Löwenstein).

Die Frage, wie ein politisches System und eine Verfassungsordnung gestaltet sein müssen, die einerseits demokratische Rechte und Freiheiten sowie die Gleichheit der Staatsbürger:innen garantieren und zugleich Instrumente vorhalten, welche die Abschaffung der Demokratie mit demokratischen Mitteln verhindern, war auch ein Thema während des verfassungsgebenden Prozesses vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Antwort des Grundgesetzes auf diese Frage lässt sich unter den Begriffen Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung zusammenfassen.

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Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung

Was ist damit gemeint und wie kommen diese Begriffe im Grundgesetz zum Ausdruck?

Die sogenannte Ewigkeitsklausel in Artikel 79 Absatz 3 hält fest, dass einige Festlegungen im Grundgesetz nicht geändert werden dürfen: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Damit ist die Abschaffung der Grundrechte – ausgehend von der Menschenwürde in Artikel 1, des Föderalismus, des Sozialstaatsprinzips, des Republikprinzips, des Demokratieprinzips, der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt – im Rahmen des Grundgesetzes unmöglich. Die Verfassung setzt hier also aktiv Werte sowie Normen und signalisiert so die Bereitschaft, antidemokratische Angriffe abzuwehren.

Eine wichtige Rolle in der Abwehrbereitschaft des Grundgesetzes spielt auch der Artikel 21, der sogenannte Parteienartikel, der auch die Möglichkeit von Parteienverboten regelt. Er weist den Parteien im Absatz 1 eine wichtige Rolle im politischen Willensbildungsprozess zu, erklärt aber in Absatz 2 eindeutig: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“

Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Parteien trifft das Bundesverfassungsgericht. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind bisher drei Urteile in Verbotsverfahren ergangen: 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP), 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und zuletzt 2017 gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Während die beiden erstgenannten Parteien verboten wurden, urteilte das Gericht 2017 gegen die NPD: Die Partei vertritt einerseits ein politisches Konzept, das die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen will. Andererseits fehlt es (zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung) „an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt“. Die NPD wurde nicht verboten. Das Bundesverfassungsgericht setzt dieses Instrument der wehrhaften Demokratie also sehr zurückhaltend ein.

Neben der Möglichkeit der Parteienverbote kennt das Grundgesetz die Möglichkeit, sonstige Vereinigungen zu verbieten, wenn sie gegen die verfassungsgemäße Ordnung verstoßen (Artikel 9), und auch die individuelle Aberkennung von Grundrechten ist möglich, wenn sie zum Kampf gegen die freiheitliche und demokratische Grundordnung missbraucht werden (Artikel 18). Schließlich ist auch die Freiheit der Lehre an die Treue zur Verfassung gebunden (Artikel 5) und auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit darf nicht gegen die „verfassungsgemäße Ordnung“ verstoßen (Artikel 2).

Auch das Strafgesetzbuch enthält (mittlerweile) Normen, die den Instrumenten der wehrhaften Demokratie zugeordnet werden können: Die §§ 84 bis 91 beschreiben die Straftaten im Rahmen der „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats“. Des Weiteren gibt es Straftaten gegen Verfassungsorgane (§§ 105, 106 StGB), die Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129a StGB) und Volksverhetzung (§ 130 StGB), die als Instrumente der wehrhaften Demokratie gelten können.

Ausdruck und wichtiges Instrument der Vorverlagerung sind die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. Der Auftrag dieser Inlandsnachrichtendienste ist in den jeweiligen Verfassungsschutzgesetzen ausformuliert. Er besteht darin, Informationen über zielgerichtete sogenannte aktive Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu sammeln, auszuwerten und Behörden sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

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Freiheitliche demokratische Grundordnung

Eine wichtige Begrifflichkeit in der Ausgestaltung der wehrhaften Demokratie ist die Wortgruppe „freiheitliche demokratische Grundordnung“. Diese Wörter finden sich im Grundgesetz zum Beispiel in Artikel 18 und Artikel 21, sie werden dort aber nicht näher ausgeführt. Definitionen sind in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Parteiverbotsverfahren enthalten. 1952 definierte das Gericht im Verbot gegen die nationalsozialistische SRP (BVerfGE 2, 1) die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung,

„die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt“.

Als grundlegende Prinzipien einer solchen Ordnung wurden damals festgelegt:

  • die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung
  • die Volkssouveränität
  • die Gewaltenteilung
  • die Verantwortlichkeit der Regierung
  • die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
  • die Unabhängigkeit der Gerichte
  • das Mehrparteienprinzip
  • die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition

Diese Auflistung wurde in den folgenden Jahren immer wieder Gegenstand von staatsrechtlichen und politischen Diskussionen, beispielsweise über die hohe Bedeutung von Parteien. Das Bundesverfassungsschutzgesetz und die Verfassungsschutzgesetze der Länder orientieren sich in ihren jeweiligen Begriffsbestimmungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an dem Urteil von 1952.

Im Urteil gegen die KPD im Jahr 1956 (BVerfGE 5, 85) wertet das Bundesverfassungsgericht den Artikel 21, Absatz 2 als „Niederschlag der Erfahrungen eines Verfassungsgebers, der in einer bestimmten historischen Situation das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber den politischen Parteien nicht mehr rein verwirklichen zu dürfen glaubte, Bekenntnis zu einer in diesem Sinne ‚streitbaren Demokratie‘“. Das Gericht benannte hier die streitbare Demokratie und stellte spätestens mit diesem Urteil die Weiche für eine Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die sich gegen Links- und Rechtsextremismus gleichermaßen richtet.

Mehr als 60 Jahre nach den ersten Urteilen ändert das Gericht im Januar 2017 im NDP-Urteil (BVerfGE 144, 20 – 367) seine Auslegung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Begriff „umfasst nur jene zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“. Das Urteil nennt die Menschenwürde, das Demokratieprinzip sowie die Rechtsstaatlichkeit. Somit wird der Begriff enger gefasst, auch um zum Ausdruck zu bringen, dass ein Parteienverbot „die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde“ ist. Die Möglichkeit, eine Partei zu verbieten, soll kein „Weltanschauungsverbot“ sein, sondern den Kern der Demokratie schützen.

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Anwendungsbeispiele der wehrhaften Demokratie

Extremismus

Obwohl kein gesetzlicher Ausdruck ist  „Extremismus“ eine zentrale amtliche, wissenschaftliche und politische Kategorie der wehrhaften Demokratie in der Bundespublik Deutschland. Die Verfassungsschutzbehörden prägten den Begriff Mitte der 1970er-Jahre im Rahmen ihrer oben skizzierten Aufgaben. Aktive und zielgerichtete Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung werden im Rahmen der jährlichen Berichte als Extremismus in unterschiedlichen Phänomenbereichen ausgewiesen. 

Die wissenschaftliche Extremismusforschung, die sich in den 1980er-Jahren etablierte, griff diesen Ansatz auf und verstand wie Uwe Backes Extremismus als „Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat“. Die Extremismusforschung ist mittlerweile sehr ausdifferenziert und versucht unterschiedliche Phänomenbereiche (Rechtsextremismus/ Linksextremismus/ Islamistischen Extremismus etc.) zu vergleichen.

Sie unterscheidet zum Beispiel trotz großer inhaltlicher Unterschiede der Phänomene zwischen parlamentsorientiertem, diskursorientiertem und aktionsorientiertem Extremismus. Auch die wissenschaftliche Kritik an der Extremismusforschung ist vielstimmig: So wird beispielsweise kritisiert, dass die scharfe und eindeutige Trennung zwischen extremistisch und demokratisch in der empirischen gesellschaftlichen Realität in der Regel nicht vorzufinden ist. Ein Beispiel für eine empirische Forschung, die nicht die Ablehnung des Verfassungsstaats zum erkenntnisleitenden Interesse hat, sondern das Ausmaß von abwertenden Einstellungen und Gewaltakzeptanz in der Gesellschaft erfassen will, sind die Forschungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Der demokratische Gehalt der Gesellschaft bemisst sich darin, inwieweit Personen und Gruppen als gleichwertig anerkannt sind.

Die wissenschaftliche Forschung zu GMF in Deutschland wurde und wird maßgeblich geprägt durch das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Ausgehend vom Phänomen des Rechtsextremismus untersucht das IKG seit 2002 in repräsentativen Umfragen die Verbreitung von GMF in der Gesellschaft. Bei den Untersuchungen wird die Zustimmung oder Ablehnung zu vorurteilslastigen Aussagen (Items) erfragt, die sozialen Vorurteilen gegenüber einzelnen Gruppen (z. B. Antisemitismus oder Sexismus) zugeordnet sind.

Die Vorurteile können nicht direkt miteinander verglichen werden, weil sie auf unterschiedlich „harten“ Aussagen fußen. Aber die Verbindung zwischen den Vorurteilen kann gemessen werden und zeigt einen Zusammenhang: Die Vorurteile werden zusammengehalten durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit. „Die Zuschreibung der Ungleichwertigkeit einer Gruppe geht dabei mit der Zuschreibung der Ungleichwertigkeit anderer Gruppen einher und verbindet verschiedenste Formen der Abwertung miteinander. Eine Gruppe oder Person, die negative Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe äußert, wertet mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch andere Gruppen ab. Die verschiedenen Vorurteile sind also Elemente eines GMF-Syndroms.“ (Zick u. a. 2019, 56)

Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Mehrheit der Befragten stimmt über den Zeitverlauf den Aussagen nicht zu. Das Ausmaß dieser Ablehnung steigt im Laufe der Jahre seit 2002. Allerdings finden sich in Teilen der Bevölkerung breite Zustimmungen zu den Vorurteilen. Zudem zeigt der Anstieg im Bereich Antisemitismus in der aktuellen Studie, die 2021 veröffentlicht wurde, eine Art Vorurteilslatenz, die in Krisenzeiten und Gelegenheitsfenstern wie der Corona-Pandemie abrufbar ist. Schließlich korrelieren Vorurteile, Demokratieablehnung und Gewaltakzeptanz (zur Methode und den Befunden Zick u. a. 2021, 181-212): So lassen die Daten selbstverständlich keinen Rückschluss auf einzelne Menschen zu, weisen aber auf die demokratische Notwendigkeit hin, sozial verankerte Vorurteile nicht nur nicht zu teilen, sondern aktiv zurückzuweisen.

Will man die Frage diskutieren oder beantworten, wie weit verschiedene Formen von Extremismus in der Gesellschaft verbreitet sind, gibt es neben den Ergebnissen der Einstellungsforschung noch andere empirische Zugänge: das Personenpotential, die Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) sowie das Wahlverhalten.

Die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern erfassen das sogenannte extremistische Personenpotential. In den jährlichen Berichten werden die Zahlen veröffentlicht (z. B. beim Verfassungsschutz BW und Verfassungsschutz Bund). Zentrale Entwicklungen der letzten Jahre sind das Aufkommen neuer Phänomenbereiche, wie die so genannten Reichsbürger und Selbstverwalter, und die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. 

Die PMK werden seit 2001 von den Landeskriminalämtern nach einem einheitlichen Definitionssystem erfasst und dem Bundeskriminalamt zur Auswertung und jährlichen Veröffentlichung übermittelt. Wie der Name nahelegt, handelt es sich bei der PMK um Straftaten, die aus einer politischen Motivation heraus begangen werden. Sie werden in der Statistik nach ideologischem Hintergrund, Themenfeldern und Deliktfeldern differenziert. In die PMK fallen auch Straftaten, die als extremistisch bewertet werden, wenn sie Verfassungsgrundsätze beseitigen wollen (was 2019 und 2020 bei ca. 75 Prozent der Straftaten zutraf).

Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Form der Kriminalität ist die PMK eine sogenannte Eingangsstatistik. Sie bildet den Beginn der polizeilichen Ermittlungen anhand des Anfangsverdachts ab – abweichende Beurteilungen der Staatsanwaltschaften oder der Gerichte sind in der Regel nicht berücksichtigt. Entgegen des allgemeinen Trends in Deutschland (Sinken des Gesamtaufkommens der Straftaten) haben sich die PMK-Zahlen von 2003 bis 2016 verdoppelt, um sich nach einem Rückgang 2017 und 2018 ab 2019 wieder zu stabilisieren bzw. wieder zu steigen. 

Bei Wahlen treten „klassische“ linksextreme Parteien wie die MLPD oder rechtsextreme Parteien wie die NPD regelmäßig an – mittlerweile allerdings sehr erfolglos. Jeweils im Bundestag und in vielen bzw. allen Landtagen vertreten sind die „Die Linke“ und die AfD. Sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz als auch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachten Teilorganisationen bzw. Strömungen der beiden Parteien und schätzen sie als extremistisch ein. Die Gesamtparteien sind kein Beobachtungsgegenstand des Verfassungsschutzes. Die Entwicklungen der beiden Parteien legen nach den Befunden durch die Beobachtung seitens der Verfassungsschutzbehörden nahe, dass „Die Linke“ sich in einem Prozess der Mäßigung befindet und die AfD in einem Prozess der Radikalisierung. 

In der öffentlichen und politischen Debatte ist Extremismus eine Fremdbezeichung: Auch hier geht es selbstverständlich um die Beschreibung von Phänomenen, wie zum Beispiel von Parteien, die von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet werden. Daneben wird der Begriff auch unabhängig von amtlichen oder wissenschaftlichen Einordnungen genutzt, um politische Gegner:innen aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen, indem man ihnen vorwirft, extremistisch zu sein. 

Freiheitliche demokratische Grundordnung und Schule

Die freiheitliche demokratische Grundordnung wirkt auch auf das Schulleben in Deutschland und BadenWürttemberg: Für verbeamtete Lehrkräfte gehört es zu den gesetzlichen Grundpflichten, sich durch ihr „gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes [zu] bekennen und für deren Erhaltung ein[zu]treten“. Auch im Leitfaden Demokratiebildung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg von 2019 findet sich das Konzept: als Anforderung an Lehrkräfte, es als Rahmen gegenüber Schüler:innen zu verstehen (19), sowie als unabdingbares Wissen für Schüler:innen für die „Bildung von Demokraten“ (34). In den Bildungsplänen des Landes findet sich der Begriff im Gemeinschaftskundeunterricht in der Auseinandersetzung mit Extremismus, aber auch in den Fächern Ethik und Alevitische Religionslehre. Auch die Kultusministerkonferenz nimmt in ihrem Beschluss von 2018 „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ Bezug, indem sie vom „nicht verhandelbaren Kernbestand“ der Grundordnung spricht und so auf die normative Rahmung des Beutelsbacher Konsenses hinweist.

Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst

Ein bekanntes Anwendungsbeispiel der wehrhaften Demokratie der Bundesrepublik ist die Frage, ob und wie „Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst“ (nicht) beschäftigt werden können. Schon 1950 listete ein Beschluss der Bundesregierung, umgangssprachlich auch „Adenauer-Erlass“ genannt, 13 Organisationen auf, deren Mitgliedschaft „mit den Dienstpflichten unvereinbar“ ist. Mitglieder sollten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. 1972 griff ein Ministerpräsidentenbeschluss die Thematik wieder auf.

Aufgrund dieses Beschlusses zur „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“ wurden von 1972 bis 1991 (als Bayern als letztes Land die Praxis beendete) etwa 3,5 Millionen Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst geprüft: Die Einstellungsbehörden fragten die Verfassungsschutzbehörden an, ob dort Erkenntnisse über die sich bewerbende Person vorliegen. Konnten die sich bewerbende Personen beim Vorliegen von Erkenntnissen in Anhörungen Zweifel an ihrer Verfassungstreue nicht ausräumen, erfolgte in der Regel keine Anstellung. Zwar konnte – auch erfolgreich – der Rechtsweg bestritten werden, allerdings zogen sich die Verfahren teilweise über Jahre ohne Anstellung.

Die Umsetzung dieses je nach Perspektive „Radikalenerlass“, „Extremistenbeschluss“ oder „Berufsverbot“ genannten Beschlusses war von Beginn an zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen umstritten. 

  • Argumente der Befürworter:innen

    Argumente der Befürworter:innen

    Die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus zeigt, dass eine wehrhafte Demokratie ihren Gegner:innen keine Entfaltung im Staatsdienst gestatten darf. Die Beamtengesetze von Bund und Ländern sahen auch schon vorher das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor. Der Beschluss sorge nun für ein einheitliches Vorgehen. Die Ausweitung des Bildungssektors (in den 1970erJahren) bedeutet, dass insbesondere dort demokratiefeindliche (in den 1970er- Jahren marxistische) Indoktrination verhindert werden muss. Die geringe Zahl von tatsächlichen Ablehnungen zeigt die Rechtsstaatlichkeit und Großzügigkeit des Verfahrens.

  • Argumente der Gegner:innen

    Argumente der Gegner:innen

    Nur das Bundesverfassungsgericht kann die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststellen, keine Behörde. Der Erlass verletzt das Grundrecht nach Art. 3 GG, wonach niemand wegen seiner politischen Anschauungen diskriminiert werden darf. Eine Demokratie sollte auch auf grundsätzliche Kritik nicht mit Verboten reagieren. Die Nichtanstellung für Lehrkräfte, Post- und Bahnbeamt:innen kommt einem „Berufsverbot“ gleich, weil es außerhalb des öffentlichen Dienstes keine Berufsmöglichkeiten gibt.

Die kritische Diskussion um diesen Ministerpräsidentenbeschluss weist auf den dynamischen Charakter des Konzepts der „wehrhaften Demokratie“ hin: Seine Anwendung ist immer strittig und abhängig von der historischen Situation, den politischen Herausforderungen, den politischen Interessen und Machtverhältnissen und nicht zuletzt der sich weiter entwickelnden Rechtsprechung.

So hielt die Regelung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, bei Veranstaltungen im Vorfeld vor Wahlen keine vom Verfassungsschutz beobachteten Parteien bzw. Kandidierende dieser Parteien zu berücksichtigen, vor Gericht im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 nicht stand. Das Verwaltungsgericht Stuttgart gab einem Kandidaten Recht, der in einer vom Landesverfassungsschutz Baden-Württemberg beobachteten und als rechtsextremistisch eingestuften Strömung Mitglied ist: Das Gericht fasste das Recht der Parteien auf Chancengleichheit so weitgehend, dass es die Nichtberücksichtigung des Kandidaten für nicht gerechtfertigt erachtete. Hier wurde das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ also sehr eng ausgelegt.

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Wehrhafte Demokratie: Ein Leitbild für die demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts?

Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ entsprang Überlegungen und Erfahrungen aus den 1940er- und 1950er-Jahren. Über 60 Jahre später stellt sich die Frage: Ist dieses Konzept ein geeignetes Leitbild für demokratische Gesellschaften des 21. Jahrhunderts? 

Benedikt Widmaier, der Leiter des „Haus am Maiberg“, der Akademie für politische und soziale Bildung der Diözese Mainz in Heppenheim, rät in seinem Aufsatz „Wehrhaft statt neutral“ aus dem Jahr 2021 zumindest der politischen Bildung eindeutig davon ab (Widmaier 2021, 142):

„Durch die demokratische ‚partizipatorische Revolution‘ der 1970erJahre in der Bundesrepublik, als auch durch die friedliche Revolution in der DDR 1989, haben die Bürger*innen […] ihre demokratische Reife unter Beweis gestellt. Warum sollte sich eine der Zukunft zugewandte politische Bildung deshalb dem staatlichen Diktat einer die bürgerliche Freiheit einschränkenden ‚wehrhaften Demokratie‘ unterstellen?“

Anders argumentiert der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, seit 2020 Antisemitismus-Beauftragter des Landes Berlin. In seinem Buch „Angriff der Antidemokraten“ von 2017 fordert er den „Demokratieschutz durch Ausgrenzung rechter Parolen“ (Salzborn 2017, 189):

„Das heißt aber auch, dass eine Demokratie, die sich wie die bundesdeutsche als ‚wehrhaft‘ versteht, nicht so naiv sein darf zu glauben, man müsste rechte Forderungen allein, weil sie existieren, Gehör schenken – geschweige denn ihnen folgen. Denn nicht, wer am lautesten schreit, darf sich durchsetzen, sondern nur, wer auf repräsentativem Weg Mehrheiten erlangt. Genau deshalb muss eine wehrhafte Demokratie antidemokratische Positionen ausgrenzen, weil diese gegen den substanziellen Kern der Demokratie verstoßen und sie faktisch abschaffen wollen – in ihrer Substanz.“

Das zu Beginn erwähnte „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ wurde in der 19. Legislaturperiode des Bundestags nicht mehr verabschiedet. Zwar hat die Bundesregierung Eckpunkte erarbeitet, strittig unter den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD blieb die Frage, ob überhaupt und wie zivilgesellschaftliche Zuwendungsempfänger:innen im Rahmen des Gesetzes auf die freiheitliche demokratische Grundordnung verpflichtet werden können oder müssen. Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, der nach der Bundestagswahl 2021 erarbeitet wurde, sieht die Einführung eines Demokratiefördergesetzes ausdrücklich vor. Die Debatte und der Streit über die „wehrhafte Demokratie“ und ihre Ausgestaltung wird die Bundesrepublik Deutschland auch im 21. Jahrhundert weiter begleiten.

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Demokratie in der Krise?

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Autor: Felix Steinbrenner (LpB), Stand der Aktualisierung: Oktober 2023, aufbereitet durch die Internetredaktion LpB BW.

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