Montagsinterview
Entführungsopfer Natascha Kampusch: «Jetzt steige ich wie ein Phönix aus der Asche»

Vor zehn Jahren hat sich Natascha Kampusch aus ihrer Gefangenschaft selbst erlöst. Statt Ruhe brachten ihr die Jahre in Freiheit massive öffentliche Anfeindungen.

Anne-Sophie Scholl, Berlin
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Natascha Kampusch im selbst geschneiderten Kleid, mit passendem Schmuck und viel Durchsetzungswillen.Steffens/ddp images

Natascha Kampusch im selbst geschneiderten Kleid, mit passendem Schmuck und viel Durchsetzungswillen.Steffens/ddp images

ddp images/Steffens

In den Räumlichkeiten ihres Berliner Verlages lächelt uns von Zeitungsausschnitten an den Wänden das Gesicht einer jungen Frau entgegen.

Es ist ihres: Noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin des neuen Buches von Natascha Kampusch ist sie wieder in allen Medien. Das ORF sendete ein nahezu einstündiges Porträt. Wird das Leben der heute 28-Jährigen ein weiteres Mal unter dem Brennglas der Öffentlichkeit zerpflückt?

Natascha Kampusch hat an diesem Tag bereits einen «Interviewmarathon» mit vier Gesprächen hinter sich. Sie tupft sich das Gesicht ab und legt das Taschentuch beiseite, «für die Tränen». Dann dreht sie sich ab und rückt einen Talisman im Ausschnitt zurecht.

Ist das symptomatisch? Natascha Kampusch gibt prägnant formulierte Antworten. Während sie spricht, senkt sie meist den Blick. Wenn sie mit ihrer Aussage fertig ist, schaut sie auf und lächelt häufig.

Aber immer wieder schweift sie ab. Mal sorgt sie sich, ob sie Sommersprossen erwischt hat, mal, ob ein Glied ihres Armbandes fehlt, mal fragt sie interessiert nach der Schweiz.

Der Verdacht liegt nahe: Das ist keine Konzentrationsschwäche, eher Schutz — um nicht über die dunklen Zeiten zu reden. Lieber über lebensfrohe Dinge.

Frau Kampusch, Ihr neues Buch heisst «10 Jahre Freiheit». Mit was für einem Gefühl blicken Sie auf diese 10 Jahre zurück?

Natascha Kampusch: Es war nicht wirklich immer Freiheit. Ich war oft Sachzwängen unterworfen, aber auch oft der Missgunst anderer Menschen.

Gab es Momente, in denen Sie sich frei gefühlt haben?

Kleine Momente gabs natürlich schon.

Wie fühlten sie sich an?

Für mich ist Freiheit etwas, was man nicht erfassen kann. Man kann es nur im Moment verspüren und deshalb kann es ohne die äusseren Umstände bestehen. Trotzdem, toll fand ich zum Beispiel diese Reise 2007 nach Barcelona, wo ich interviewt wurde. Da sass ich mit dem Journalisten auf dem Katamaran und habe Freiheit gespürt.

In Ihrem Buch geht es um die Ablehnung, die Sie durch die Gesellschaft erfahren haben – Sie nennen es «soziale Mauern». Wann kippte die anfängliche Anteilnahme?

Das muss wohl schon Anfang 2007 gewesen sein. Also vielleicht ein halbes Jahr nach meiner Befreiung.

Und wie erklären Sie sich das?

Ich denke, es hat etwas mit dem Hass der Menschen zu tun. Vielleicht auch mit Selbsthass, weil sie mit ihrem eigenen Leben nicht klarkommen. Und mit der Verzweiflung, mit der sie nicht umgehen können. Sie würden selbst auch gerne sagen, ich habs geschafft, ich habs überstanden. Oder sie hätten selbst gerne Hilfe oder Aufmerksamkeit. Viele glauben, ich sei reich.

Zehn Jahre nach ihrer Flucht hat Natascha Kampusch ein zweites Buch geschrieben. Im Bild ist die heute 28-Jährige bei der Premiere der Verfilmung ihres ersten Buches "3096 Tage" zu sehen. (Archivbild)

Zehn Jahre nach ihrer Flucht hat Natascha Kampusch ein zweites Buch geschrieben. Im Bild ist die heute 28-Jährige bei der Premiere der Verfilmung ihres ersten Buches "3096 Tage" zu sehen. (Archivbild)

Keystone/EPA/HERBERT NEUBAUER

Also Neid?

Ja, aber auch die Tatsache, dass ich überlebt habe. Viele denken, ich müsste etwas gemacht haben, was vielleicht nicht rechtschaffen war.

Für viele Leute ist es schwierig, dass Sie selber sich nicht nur als Opfer sehen?

Das irritiert die Menschen, ja. Sie hätten lieber ein gebrochenes, verletztes Opfer, das Unterstützung braucht und sich nicht mehr selbstständig bewegen kann. Vielleicht wäre es besser, ich wäre alkoholkrank, würde Antidepressiva schlucken und rauchen.

Irritiert hat auch, wie differenziert Sie den Täter und die Situation
Ihrer Gefangenschaft beschrieben haben.

Viele Leute wollen einfach Gut und Böse – so à la Silvester Stallone auf der einen und die Bösewichte auf der anderen Seite. Das gibt es in dem Fall eben nicht.

Sie zeigen grosse Beharrlichkeit und Stärke darin, Ihre eigene Geschichte zu erzählen. Weshalb?

Es ist mir wichtig, dass ich nicht falsch verstanden werde. Es ist eine Art Durchsetzungswille. Ich möchte mich nicht von anderen Leuten instrumentalisieren lassen. Ja, das ist es.

Woher kommt dieser Wille?

Vielleicht hat sich das in der Gefangenschaft stärker entwickelt. Aber ich war immer schon so. Es ist einfach ein Teil meiner Persönlichkeit.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich weiss noch, wie ich mir als Kind selbst das Schwimmen beigebracht habe. Ich ging immer und immer wieder ins Wasser und tauchte, bis ich halbwegs schwimmen konnte. Mir war schon übel und schwindlig, aber ich war nicht davon abzubringen.

Trotzdem, wäre es nicht einfacher, Anfeindungen und Verschwörungstheorien zu ignorieren?

Das habe ich auch immer wieder gemacht. Aber manchmal gab es Situationen, in denen ich doch reagieren musste. Es spitzte sich so zu, dass ich auf offener Strasse von fremden Leuten angefeindet wurde. Auch in gerichtlichen Prozessen konnte ich nicht anders, als Stellung zu beziehen.

Natascha Kampusch war 1998 zehnjährig entführt worden. (Archivbild)

Natascha Kampusch war 1998 zehnjährig entführt worden. (Archivbild)

KEYSTONE/AP/RONALD ZAK

Während Ihrer Gefangenschaft haben Sie Strategien entwickelt, mit den Erwartungen des Täters umzugehen und sich minimalen Freiraum zu bewahren. Was für Strategien haben Sie entwickelt, um mit dem gesellschaftlichen Druck umzugehen?

Ich hab mir eine Gelassenheit angeeignet, indem ich mir einfach denke, jeder ist ein Mensch, jeder hat seine Vorstellungen vom Leben. Auch wenn das manchmal divergiert und auch ethisch und moralisch nicht zu vertreten ist, was diese Menschen machen. Ich sehe das eher buddhistisch, wenn Sie so wollen.

Für wen haben Sie Ihr Buch geschrieben?

Für mich, und auch für die anderen, die es vielleicht interessiert, wie die Dinge wirklich abgelaufen sind. Das Buch ist keine komplette Innenschau, aber eine Abrundung, um die zehn Jahre schriftlich zu fixieren.

Mehr für sich oder mehr für die anderen?

Manchmal war es während des Schreibprozesses für die anderen, manchmal war es aber auch für mich, um zu sagen, o.k., so war es, und jetzt steige ich noch einmal wie ein Phönix aus der Asche und habe noch mal ein schönes Leben.

Das Buch wird noch einmal viel Aufmerksamkeit bringen, es wird aktuelle Bilder von Ihnen geben, es kommen Fragen wie jetzt von mir. Haben Sie davor nicht Angst?

(zögert) Nein, in dem Sinn nicht. Ich habe mich damit arrangiert, beziehungsweise ich finde es interessant. Sonst sässe ich vielleicht an Ihrer Stelle und würde Interviews machen und einen Fotografen dabei haben, der meine Interviewpartner fotografiert.

Das haben Sie ja schon gemacht – Sie hatten ja eine Talk-Show im Fernsehen.

Ja, mit Nicki Lauda und mit Veronika Ferres. Es war sogar damals Maximilian Schell im Gespräch, aber dazu kam es nicht mehr.

Was hat Ihnen an der journalistischen Arbeit gefallen?

Ich bin sehr an Menschen interessiert. Es ist spannend, Fragen zu deren Leben zu stellen. Ich mag das Zuhören. Aber da bin ich mit einem Psychologiestudium auch nicht falsch bedient, wenn ich es denn beginnen sollte.

Das ist Ihre Idee für Ihre Zukunft?

Ich möchte mich in dem psychologischen Bereich bewegen, aber nicht therapeutisch tätig sein.

Noch zu dem Buch ...

... haben Sie Psychologie studiert? Manche machen das ja im Vorfeld und werden dann Journalist.

Ich interessiere mich dafür, aber ich habe Soziologie und Sprachen studiert. Wollen Sie mit Ihrem Buch auch ein Stück weit die Gesellschaft verändern?

Ich möchte gerne etwas mitverändern innerhalb der Gesellschaft. Das ist mir ein sehr grosses Anliegen. Aber Sie kennen ja die aktuelle Lage. Man weiss nie, was aus Leuten wird, die sich zu weit aus dem Fenster lehnen.

Haben Sie Vorkehrungen getroffen, falls Sie negative Zuschriften bekommen?

Ich lese sie einfach nicht mehr oder ich lese im Schnellleseverfahren drüber. Es ist deren Entscheidung, mir das zu schreiben, aber es ist auch meine Entscheidung, das abzulehnen.

Nach Ihrer Flucht haben Sie sich bewusst entschieden, mit Ihrem Namen an die Öffentlichkeit zu treten, haben Sie das jemals bereut?

Im Prinzip nicht. Weil es auch kompliziert gewesen wäre, eine andere Identität zu haben. Für mich kam das von Anfang an eher nicht infrage.

Es gab damals einen enormen Druck. Sie haben als Antwort darauf offensiv kommuniziert. Würden Sie das rückblickend anders machen?

Auch nur zum Teil. Es war wichtig, dass das nicht alles verfälscht dargestellt wird und dass meine Eltern rehabilitiert sind.

Ihr erstes Interview nach Ihrer Flucht erweckt den Eindruck, dass Sie Ihre Situation damals schon gut erfasst und eigentlich auch weitgehend bewältigt hatten.

Ich seh das schon so. In meinem Land sehen die Leute oder die Journalisten das aber anders. Vielleicht auch absichtlich, um Skandale zu erzeugen.

Was haben Ihnen die Therapien in den letzten Jahren gebracht?

Ich habe gelernt, mehr auf mich selbst zu hören. Am Anfang habe ich alles neu und spannend empfunden und habe versucht, mich auch an anderen Leuten zu orientieren, die mich eher belächelten oder auch ausnutzen wollten. Es war wichtig, zu sagen, ich bin in Ordnung, so wie ich bin. Durch das öffentliche Mobbing war es sehr schwer, nach draussen zu gehen.

In den Therapien ging es also um Ihre Bedrängung in der Freiheit.

Das war viel wichtiger, als eine alte Wunde nochmals aufzureissen.

Haben Sie Mühe damit, anderen Leuten gegenüber Vertrauen zu haben oder Nähe zu finden?

Ich habe Mühe, weil manche Leute einfach nicht vertrauenswürdig sind. Ich würde ja gerne vertrauen, aber manche Leute – Sie wissen schon. Da gibt es ja diesen Spruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Nach Ihrer Flucht haben Sie davon gesprochen, später vielleicht einmal eine Familie zu gründen.

Das war nur damals. Jetzt möchte ich das nicht mehr. Jetzt habe ich damit abgeschlossen.

Entführungsopfer Natascha Kampusch. (Archivbild)

Entführungsopfer Natascha Kampusch. (Archivbild)

Keystone

Aber eine Beziehung können Sie sich vorstellen?

Kann ich mir vorstellen. Ich finde die Idee ganz gut und – aber ich möchte über diese privaten Dinge nicht reden.

Sie schreiben, der Täter habe Sie wie Modelliermasse behandelt. Macht und Autorität ist ja überall. Wie reagieren Sie auf Macht?

Manchmal umgehe ich sie, manchmal versuche ich, Autonomie zu bewahren, so wie jeder Mensch.

Es ist kein spezielles Thema für Sie?

Doch auch. Aber Macht ist auch etwas Gutes. Macht kann auch etwas bewirken. Ich sehe das zweischneidig. Sie kommen ja aus einem Land, wo man Werte hat und den Werten wiederum Wert beimisst.

Wie meinen Sie das?

Die direkte Demokratie ist zum Beispiel ein Wert. Gleichzeitig gibts auch viel Geld und Gold, das sind auch Werte. Auch die Uhren und Präzisionsgeräte sind wertvolle Dinge. Es ist auch ein Wert, Dinge so präzise herzustellen. Die Sprache ist auch ein kultureller Wert. Die Schweiz legt sehr viel Wert auf Werte.

Was sind Ihre Werte?

Das muss ich noch rausfinden. Auf jeden Fall ist es so, dass ich Dinge wertschätzen möchte, wie ich selbst wertgeschätzt werden möchte. Ich möchte Menschen wertschätzen und ja ... (nestelt an ihrem Armband) wie Sie’s vielleicht beobachtet haben: Ich schau die ganze Zeit mein Werk an und denk mir, super, toll hast Du das gemacht.

Ihr Armband haben Sie selber gemacht?

Ja. Und die Kette auch.

Sie haben ja einmal eine Lehre bei einem Goldschmied angefangen.

Ich habe auch vor, weiter Gold zu schmieden. Aber wenn ich mit Halbedelsteinen oder mit facettiertem Glas arbeite, kann man einfach so staunen wie ein Kind. Ich liebe das. Wenn man Gold schmiedet, ist das eher ein Prozess wie bei einem Bildhauer.

Beim Modeschmuck sind Sie freier?

Genau. Da sag ich einfach, ich möchte eine Kette, die zu dem Kleid passen soll. Oder: Ich möchte etwas Buntes, das mich an Obstsalat erinnert, und dann kann ich das so zaubern.

Machen Sie den Schmuck für sich selber?

Ich werde später, sogar bald, eine Kollektion herausbringen.

Apropos Zukunftspläne: Ihnen wurde das Haus zugesprochen, in dem Sie gefangen waren. Ist das für Sie eine Form, die Vergangenheit zu verarbeiten?

Momentan ist es eine Last, aber es war auch gut, dass ich es hatte und dass es nicht in falsche Hände gelangen konnte.

Sie wollten es ja für soziale Projekte nutzen.

Für eine Flüchtlingsfamilie oder zwei.

Ist das noch aktuell?

Nein. Wenn ich es für mehrere Flüchtlinge nutzen würde, müsste ich die Sanitäranlagen ändern. Es ist eine Frage, ob die Gemeinde das genehmigt. Und für die Familien müsste ich die Haftung übernehmen. Das ist alles schwierig. Ich möchte mich schon weiter für Flüchtlinge engagieren. Aber wenn es nicht in dem Haus sein soll, dann eben nicht.

In Sri Lanka haben Sie eine Kinderklinik gestiftet. Was bewegt Sie zum sozialen Engagement?

Wenn ich glücklich bin, möchte ich das mit anderen teilen. Oder generell anderen Menschen helfen. Es gibt so viele, die einfach zur Seite schauen und gar nichts tun. Zu denen möchte ich nicht gehören.

Sie haben das ja selber erlebt.

Ja. Ich wurde einmal gefragt, ob ich das aus einem Schuldgefühl heraus mache, weil ich überlebt habe. Aber nein, ich habe keine Schuldgefühle. Ich finds prima. (strahlt)

Wieso sollten Sie Schuldgefühle haben?

Viele Holocaustopfer haben Schuldgefühle, weil sie denken, warum hab ich überlebt und nicht meine Oma oder der Nachbar oder andere. So könnte ich auch ein Schuldgefühl haben, weil viele kleine Kinder und auch ältere Vermisste tot aufgefunden werden.

Empfinden Sie es als Glück, dass Sie überlebt haben?

Vielleicht ist es Zufall. Ich empfinde es schon positiv, aber ich weiss nicht, ob man es als Glück bezeichnen kann. Dann müsste ich ja ein Glückspilz sein. Darauf will ich mich nicht verlassen.

Sie empfinden Ihre Selbstbefreiung nicht als Ihre Leistung?

Auch, aber die äusseren Umstände spielen mit. Wären sie anders gewesen, hätte mir meine Persönlichkeit gar nichts gebracht. Es hat einfach für diese Situation gereicht, zu überleben.

Der Tag Ihrer Befreiung jährt sich jetzt zum 10. Mal — wissen Sie, was Sie an dem Tag machen?

Ganz normal, so wie jeden anderen Tag verleben. Vielleicht gebe ich aber auch ein Interview, das weiss ich jetzt noch nicht. Und sonst — es steht ja jetzt in den Medien. Meist bleibe ich an dem Tag zu Hause, um nicht angesprochen zu werden. Und dann bekomme ich von zwei Menschen immer auch Geburtstagsglückwünsche, weil das mein zweiter Geburtstag ist.