Für das richtige Mass bei den Wachstumskurven braucht es andere Daten

Wachsen Kinder langsamer oder schneller als Gleichaltrige, sind Eltern besorgt. Wachstumskurven geben zwar die Norm vor, doch nicht immer sind sie verlässlich. Regionale Kurven sollen es bald richten .

Angela Bernetta
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Grösse ist relativ, und die Wachstumskurven beim Kinderarzt müssen mit Verstand interpretiert werden. (Bild: Getty)
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Die heute gültigen Perzentilen, Wachstumskurven. (Bild: PD)

Grösse ist relativ, und die Wachstumskurven beim Kinderarzt müssen mit Verstand interpretiert werden. (Bild: Getty)

Nicht wenige Eltern sorgen sich, dass ihr Kind als Erwachsener zu gross oder zu klein gerät und dar­unter leiden könnte. Der Kinderarzt misst nach der Geburt zunächst alle paar Monate und später in regelmässigen Abständen Grösse, Gewicht und Kopfumfang der Kleinen. Diese Daten werden mit jenen von Gleichaltrigen verglichen. Anhand von Perzentilen (Wachstumskurven) lässt sich so erkennen, ob ein Kind eher zu gross oder zu klein ist. Wächst der Spross beispielsweise entlang der 25. Perzentile, sind 25 Prozent der gleichaltrigen, gesunden Kinder kleiner und 75 Prozent grösser. Entwickelt sich ein Kind unter der 3. oder über der 97. Perzentile, sind die Ärzte alarmiert, da Klein- oder Grosswuchs droht, und überweisen es zur weiteren Abklärung an einen Spezialisten.

Dank Rekruten-Untersuchungen und der Analyse von Pass-Anträgen weiss man, dass die Schweizerinnen und Schweizer über die vergangenen 120 Jahre durchschnittlich rund 15 Zentimeter grösser geworden sind. Besonders ausgeprägt war die Grössenzunahme hierzulande zwischen 1900 und 1950. Zwischen 1975 und 1990 stagnierte sie. Als Referenzwert für das Kinderwachstum galten in der Schweiz bis 2011 Daten, die zwischen 1954 und 1975 an Zürcher Kindern erhoben worden waren. Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie entschied dann, die hiesigen Normkurven durch internationale Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den USA zu ersetzen.

Nationale Daten für genauere Werte

Dass diese Daten die Schweizer Kinder und Jugendlichen nicht optimal repräsentieren, beanstandet Urs Eiholzer, Leiter des Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrums Zürich, nicht erst seit gestern. «Einerseits kommen die amerikanischen Kinder früher in die Pubertät als bei uns, andererseits ist die 3. Perzentile bei der WHO-Kurve zu tief angesetzt». Dies hat zum ­einen zur Folge, dass Schweizer Kinder, die etwa zwei Jahre später in die Pubertät kommen, im Vergleich als zu klein beurteilt werden. Zum anderen liegen Kinder, die gemäss Schweizer Wachstumskurve unter die 3. Perzentile gefallen wären, laut WHO-Daten nun darüber und werden so nicht als zu klein erkannt.

«Selbstverständlich steht es jedem Kinderarzt frei, diejenige Wachstumskurve zu verwenden, die er für sinnvoll hält», sagt Urs Eiholzer. Am genausten werde das Wachstum aber durch nationale Daten neueren Datums abgebildet.

«Wir arbeiten an einer Wachstumskurve, die wir auf Basis von aktuellen, regionalen Daten erstellen.»

Dafür werden Kinder vom Vierwaldstätter- bis zum Bodensee vermessen. Ende Jahr soll die neue Wachstumskurve präsentiert werden.

Gene bestimmen Endgrösse

«Wie gross ein Kind als Erwachsener werden wird, hängt massgeblich von den Genen ab», sagt Eiholzer. Sind die Eltern eher klein gewachsen, wird der Nachwuchs kaum in den Himmel schiessen. «Nach dem zweiten Geburtsjahr bis zur Pubertät sollte das Wachstum eines Kindes idealerweise entlang des genetischen vorgegebenen Perzentilenkanals verlaufen.» Komme es zu Veränderungen, können diese auf Störungen hinweisen, die abgeklärt werden sollten. «Es ist aber auch nicht ungewöhnlich, dass ein Kind in der Primarschule zu den Kleinsten gehört und nach Abschluss der Pubertät alle anderen überragt. Bei diesen Kindern handelt es sich um Spätzünder. Sie kommen später in die ­Pubertät und brauchen dem­entsprechend mehr Zeit zum Wachsen.»

Mit Ende der Pubertät ist das Wachstum abgeschlossen. Wer Hinweise über Anfang und Ende dieser Phase und auf die Endgrösse eines Kindes als Erwachsener haben will, kann diese anhand des Röntgenbilds der linken Hand von einem Spezialisten berechnen lassen. «In die genetisch ererbte Familiengrösse kann während des Heranwachsens allerdings kaum eingegriffen werden», ergänzt Eiholzer.

Hinter Wachstumsstörungen verbergen sich oft ernsthafte, gesundheitliche Probleme. Neben Magen-Darm-Problemen können verschiedene chronische Störungen wie Herzfehler, Asthma, Knochenerkrankungen oder Nierenprobleme das Wachstum hemmen. Ist die Produktion von Schilddrüsen-, Nebennieren- oder Wachstumshormonen im Körper eines Kindes unausgeglichen, kann das Wachstum beschleunigt oder verlangsamt werden. Kinderendoktrinologen wie Urs Eiholzer kennen das Problem und verwenden nicht selten Wachstumshormone für die ­Therapie. «Eine Behandlung ist dann erfolgreich, wenn ein Kind die Endgrösse erreicht, die es ohne Wachstumsstörung erreicht hätte.»