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„Revolution – oder alles wird niedergeschlagen“: Iran-Experte über „Fluch und Segen“ der Proteste

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Die Proteste im Iran nehmen zu, die Gewalt des Regimes auch. Über einen jungen Iraner, der in Deutschland lebt und sich aktuell nicht zurück traut – und einen Nahost-Experten, der fast das Schlimmste befürchtet.

Teheran/München – Es ist erst wenige Tage her, da sorgte wieder so ein Video für Entsetzen. Ein Dutzend Polizisten prügeln nachts, in einer engen Gasse, mit Schlagstöcken auf einen Mann ein. Am Ende wird das Opfer am Boden liegend von einem Polizei-Motorrad überrollt. Bilder wie dieses sind es, die wie ein Lauffeuer um die Welt gehen und die Proteste im Iran immer weiter anheizen. Die Wut der Demonstranten wird so nur größer, die Wucht, mit der das Regime zurückschlägt, ebenso. Und die Welle des Hasses schwappt nach Deutschland. In Berlin attackierten Menschen vor der iranischen Botschaft jüngst eine Mahnwache. Die Täter flüchteten.

„Die ungehemmte Brutalität, mit der die iranischen Sicherheitskräfte vorgehen, wird von Tag zu Tag schlimmer“, stellte die lange zaudernde deutsche Außenministerin Annalena Baerbock unlängst mit Nachdruck fest. Seit Anfang November sollen alle Deutschen aus dem Iran lieber ausreisen.

Einer, der sein Land bereits im Juli verlassen hat und sich nun nicht mehr zurück traut, ist Peyman – so nennen wir ihn in dieser Geschichte. Peyman ist 30 Jahre alt und fürchtet für den Fall einer Rückkehr eine schwere Strafe, sollten iranische Behörden seinen wahren Namen hier lesen. Dabei hat er eigentlich nichts getan, nach freiheitlichem Verständnis jedenfalls. Was für ihn zum Problem wird: Der Teheraner lebt seit Juli 2022 in einer hessischen Kleinstadt und studiert Sozialwissenschaften. Seine neue Heimat fand er über das Internet. Die Vorlesungen eines Professors begeisterten ihn derart, dass er nach Deutschland ging und sein altes Leben zurückließ. Wie lange das weiterhin so bleibt, ist unklar.

Protest für die Iraner: Die Gesichtsbemalung einer Demonstrantin in Paris zeigt Frankreichs „Marianne“, dem Gesicht der Französischen Revolution 1789.
Protest für die Iraner: Die Gesichtsbemalung einer Demonstrantin in Paris zeigt Frankreichs „Marianne“, das Gesicht der Französischen Revolution 1789. © STEFANO RELLANDINI

Iraner fürchtet sich vor Rückkehr: „Sie verhören willkürlich Personen und stellen sie vor Gericht“

„Viele Iraner, die außerhalb des Landes leben, haben dieselben Werte wie diejenigen auf den Straßen im Land. Die Diaspora und die Demonstranten bilden eine Einheit. Für das Regime gibt es keinen Unterschied zwischen Protestierenden im Iran oder in Berlin. Sie werden alle in einen Topf geworfen“, sagt Peyman dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Seit dem Beginn der Proteste Mitte September sind wohl zahlreiche Pässe von Rückkehrern aus dem Ausland willkürlich eingezogen worden. „Und wenn die Behörden glauben, jemand wäre im Ausland in Proteste involviert gewesen, würden sie diese Person verhören und vor Gericht stellen.“ Genau das fürchtet Peyman.

Der Student, der im Iran als Englisch-Übersetzer arbeitete, hält weiter engen Kontakt zu Familie und Freunden. Über Whatsapp und Telegram gehe das relativ gefahrlos, meint er. „Die Stimmung zu Hause schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Wir leben in einer globalen Welt, mit verschiedenen Sprachen, sind demokratisch eingestellt und gegen den politischen Islam. Meine Eltern, aber auch einige Freunde gehen zu Demonstrationen, aber nur, wenn sie groß genug sind. Alles andere wäre zu unsicher.“ Peyman will noch nicht von einer Revolution sprechen, doch es fühle sich an, als stünde man am Beginn.

Mahsa Aminis Tod als Auslöser der Protestwelle im Iran

Der Auslöser der systemkritischen Proteste war der Tod der 22 Jahre alten iranischen Kurdin Mahsa Amini am 16. September 2022. Die Sittenpolizei hatte sie drei Tage vor ihrem Tod festgenommen, weil sie gegen die islamischen Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll. Die Frau starb in Polizeigewahrsam. Mehr als 300 Menschen wurden nach Angaben von Menschenrechtlern seitdem getötet, über 14.000 verhaftet.

Demonstration gegen Irans Regierung - Frankfurt
Demonstrantinnen und Demonstranten während einer Kundgebung in Frankfurt gegen das politische Regime im Iran. Dabei steht auf einem Schild «Say her name #Mahsa Amini». © Boris Roessler

Simon Wolfgang Fuchs ist Islamwissenschaftler an der Universität Freiburg. Er hat im Iran studiert und geforscht und noch immer einige Bekannte dort. Die Kontaktaufnahme gestalte sich jedoch schwierig, erzählt er uns. Der 40-Jährige sieht einen entscheidenden Unterschied zu all den Protesten zuvor: „Viele Menschen haben nur noch Verachtung und Ablehnung für das Regime übrig. Sie haben so lange versucht für Veränderungen zu sorgen, jetzt geht es ihnen nicht mehr um Reformen oder eine Verständigung mit dem Regime. Das war etwa bei der grünen Bewegung 2009 so. Heute wollen sie dieses System abschaffen. So werden alle Symbole des Regimes attackiert. Menschen zertrampeln Poster, oder zeigen ihren Führern den Mittelfinger.“

Die Wut, die gerade so viele Jugendliche und sogar Kinder auf die Straßen treibt, geht 2022 weit über Einzelbedürfnisse oder den Kopftuchzwang hinaus. „In der Welt hat man immer das Bild des Regimes im Kopf, nicht unserer Menschen im Land. Viele von uns trinken auch Alkohol und machen Party – wie überall anders auch. Doch sie können dies nicht in der Öffentlichkeit tun, sondern müssen sich im Privaten verstecken. Den Leuten reicht es jetzt. Unsere Regierung repräsentiert nicht unsere Werte. Nicht die Werte des Volkes“, flucht Peyman. Frau. Leben. Freiheit. ist die Hoffnung der Bewegung. Dafür kämpfen sie jetzt.

Der Iran im Revolutionsmodus? Islamwissenschaftler Fuchs ist da skeptisch

Das Regime versucht derweil sein altes „Playbook“ zu spielen. Präsident Ebrahim Raisi (61) und der religiöse Führer Ali Chamenei (83), bei dem im iranischen System alles zusammenläuft, haben zum Dialog aufgerufen und werben mit Zugeständnissen. Für die Krawalle machen sie vom Westen gesteuerte Mächte verantwortlich – und greifen über ihre verlängerten Arme, die Sicherheitsbehörden, durch.

Simon Wolfgang Fuchs, Islamwissenschaftler an der Uni Freiburg.
Simon Wolfgang Fuchs, Islamwissenschaftler an der Uni Freiburg. Er sieht für den Iran nur zwei Möglichkeiten: „Entweder es kommt zur Revolution oder alles wird niedergeschlagen.“ © PETER HIMSEL

Allerdings geschieht dies nicht auf die altbekannte Art und Weise. Laut Nahost-Experte Fuchs eskaliert es derzeit in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich. In Großstädten wie Teheran gehen die Sicherheitskräfte eher gemäßigt vor. Ganz anders verhalte es sich dort, wo Minderheiten leben, etwa in Kurdengebieten im Westen oder in Regionen nahe Pakistan im Osten. Dort reagiere der Staat mit großer Härte. Andernorts wiederum gehe das Leben ganz normal weiter.

„Sieht man dann jeden Tag die Flut an Bildern und Videos, bekommt man den Eindruck, es brennt überall, und der Iran ist bereits in den Revolutionsmodus übergegangen. Aber da wäre ich skeptisch, an dem Punkt sind wir noch nicht“, sagt der Wissenschaftler aus Freiburg.

Iran-Proteste: Doch noch immer gibt es viel Unterstützung für das Regime

Fuchs sieht die Widersprüche im Land, dessen Regierung sich mittlerweile so weit vom Westen abwendet, dass es selbst Russland im Ukraine-Krieg mit Waffen versorgt. „Wir haben ein Regime, das fest im Sattel sitzt, daneben eine international vernetzte junge Bevölkerung, die große Interessen an westlichen Produkten hat sowie eine westlich orientierte Theater- und Kunstkulturszene. Daher muss man auch unterscheiden. Der Iran wird nicht von einem kleinen diktatorischen Regime geführt. Das dortige komplizierte System aus republikanischen und theokratischen Elementen genießt mehr Legitimität bei der Bevölkerung als das etwa in Nordkorea oder anderswo der Fall ist.“

Es gebe nach wie vor viel Unterstützung für das Regime, weil der Staat nach der Revolution 1979 ein Wohlfahrtssystem ausgebaut habe. Davon profitieren die Iraner heute noch. „Sie sind stolz darauf, dass das Ende des Schahs die Abhängigkeit von den USA beendet hat. Den Iran nur aus der Theologie zu begreifen, greift zu kurz. Wer das Land bereist, für den zerbrechen viele einfache Klischees“, sagt Fuchs.

Auch deshalb scheint eine Revolution noch ein Stück entfernt: Die aktuelle Bewegung wird von Frauen, Studierenden und Schülern getragen. Die Proteste sind verstreut und isoliert. Es gibt kaum Großereignisse, aber dafür viele kleinere Aktionen. Die im Iran aufgewachsene mittelalte Bevölkerung hält sich jedoch noch zurück, sie scheint desillusioniert von früheren Protestbewegungen – die scheiterten. Und diese Generation fehlt den Protesten.

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Iran-Experte: „Entweder es kommt zur Revolution oder alles wird niedergeschlagen“

„So richtig ernst dürfte es erst werden, wenn Massenproteste Teheran erreichen“, meint Fuchs. Doch dazu müssten Aktivisten Netzwerke aufbauen, jemanden haben, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Da das Internet verlangsamt wurde, dürfte es schwierig werden, eine Welle auszulösen, die das Regime hinwegschwemmt. Außerdem hätten die Sicherheitskräfte dazugelernt, sagt Fuchs. „Diese vielen kleinen Nadelstiche sind also Fluch und Segen zugleich. Segen, weil sie so spontan und häufig sind, dass die Sicherheitskräfte sie nicht so schnell fassen können. Ein Fluch aber, weil sie nicht genug Sprengkraft haben dürften.“

So scheint es wohl noch zu früh, von einer Revolution im Iran zu sprechen. Doch Menschen wie Peyman sehen den Anfang vom Ende der Mullahs eingeläutet. Auch weil Iraner im Ausland, wie er, plötzlich zu Gehilfen der Menschen im Land werden. „2019 war die iranische Diaspora geschockt, wusste nicht, was sie tun sollte. Jetzt werden sie die Stimme der Iraner im Iran. Sie geben den Demonstranten die Kraft, weiterzumachen, indem sie Videos und Bilder teilen. Das zeigt allen: Schaut, es passiert etwas, das ganze Land macht mit. Es ist definitiv die größte Herausforderung für das Regime seit 1979.“

Doch die großen Hoffnungen könnten abermals enttäuscht werden, fürchtet Simon Wolfgang Fuchs. Er persönlich sehe nur noch zwei Möglichkeiten: „Entweder es kommt zur Revolution oder alles wird niedergeschlagen.“

 

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