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Ein gesamtgesellschaftliches und soziales Ereignis

Kommentarreihe

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Erstveröffentlichungsdatum: 03.10.2023

Literatur

1: Rosenbrock R, Gerlinger T. Gesundheitspolitik: eine systematische Einführung. Hogrefe. 4. Auflage. 2021. 2: Gerhardus A, et al. Evidence-based Public Health. Huber Verlag. 2010. 3: Schrappe M, et al. Thesenpapiere zur Corona-Pandemie. 2020 – 2023. https://www.monitor-versorgungsforschung.de/autoren/schrappe-matthias

Zusätzliches

Zitationshinweis: Sprenger, M.: „Ein gesamtgesellschaftliches und soziales Ereignis“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/23), S. 34. http://doi.org/10.24945/MVF.05.23.1866-0533.2542

Plain-Text

>> Während die zentrale Frage der Medizin lautet: Was macht Menschen krank? lautet die zentrale Frage von Public Health: Was erhält Menschen gesund? Beide Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit sind für ein erfolgreiches Pandemiemanagement essenziell. Sowohl die pathogenetische, krankheits- und risikoorientierte Sichtweise der Medizin als auch die salutogenetische, gesundheits- und ressourcenorientiere Public-Health-Sichtweise.
Die Multidisziplin Public Health verschränkt alle Wissenschaften, die sich mit Gesundheit und Krankheit beschäftigen. Die deutsche Übersetzung lautet deshalb auch Gesundheitswissenschaften und umfasst Medizin-, Pflege-, Sport- und Ernährungswissenschaften, Psychologie, Pädagogik, aber auch System-, Sozial- und Kommunikationswissenschaften, Epidemiologie und Biostatistik, Management, Gesundheitsökonomie, Ethik und noch einige mehr.
Die Aktivitäten von Public Health zielen darauf ab, gesundheitliche und soziale Ungleichheiten zu minimieren und möglichst vielen Menschen ein möglichst langes Leben bei guter Gesundheit und hoher Lebensqualität zu ermöglichen. Entscheidend dafür sind die Determinanten von Gesundheit, also jene Faktoren, die unsere Gesundheit positiv oder negativ beeinflussen. Diese umfassen neben unserem Genom, Alter und Geschlecht das Gesundheitsverhalten, unsere Lebens- und Arbeitswelten, sozialen Netzwerke, aber auch Bildung, Arbeitsmarkt, Umwelt, Wohnen, Rechtsstaat, Sozial- und Gesundheitssystem und vieles mehr.
Aus der Public-Health-Perspektive ist eine Pandemie ein gesamtgesellschaftliches und soziales Ereignis, das alle Mitglieder einer Gesellschaft betrifft. Sie erfasst nicht nur die direkten Effekte des neuen Coronavirus SARS-CoV-2, die Zahl der an Covid-19-Erkrankten, die Krankenhausbelastung und das Sterbegeschehen, sondern auch die unzähligen erwünschten und unerwünschten gesundheitlichen, psychosozialen und wirtschaftlichen Effekte aller Maßnahmen. Während eine rein medizinisch-virologische Betrachtung nur auf ein Virus und eine Erkrankung starrt, hat eine Public-Health-Perspektive immer das große Ganze, alle Determinanten von Gesundheit, existierende Ungleichheiten, aber auch die Versorgung anderer Krankheiten im Blick. Warum sich in Deutschland und Österreich diese gesamtgesellschaftliche Perspektive nicht durchsetzen konnte, ist eine der vielen offenen Fragen.
Auf der Behandlungsebene wäre eine Intervention ohne sicheres Wissen und ohne vorige Aufklärung über Wirkung und mögliche Nebenwirkungen nicht nur unwissenschaftlich und unethisch, sondern in bestimmten Fällen auch strafbar. Gleiches gilt für Interventionen auf der gesellschaftlichen Ebene. Wie in der Medizin gilt auch in der Politik das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: „Maßnahmen sollten nur dann ergriffen werden, wenn die erwünschten Wirkungen hinreichend sicher eintreten und mögliche unerwünschte Wirkungen eindeutig übertreffen.“1 Statt der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin gelten die einer evidenzbasierten Gesundheitspolitik („Evidence-Based Public Health“): „Dafür wird das verfügbare Wissen der medizinischen, ökonomischen, ethischen, sozio-kulturellen und rechtlichen Aspekte von Krankheiten und Maßnahmen, systematisch, transparent und zielgerichtet bewertet und in die Entscheidungsprozesse eingebracht. Alle Schritte – von der Problemstellung bis zur Umsetzung von Maßnahmen und Programmen – sollen explizit, transparent und begründet sein.“2
Beide Prinzipien wurden sträflich vernachlässigt. Gesundheitspolitische Entscheidungen waren in den letzten drei Jahren viel zu oft intransparent, schlecht begründet, unwissenschaftlich, unethisch und unverhältnismäßig. Diese als willkürlich empfundene Politik hat viel Vertrauen gekostet, die Wirksamkeit des Pandemiemanagements sowie den sozialen Zusammenhalt deutlich geschwächt und den Kollateralschaden vergrößert.
Eine gute Datenbasis ist die Grundvoraussetzung für eine präzise Risikobewertung, eine korrekte Risikokommunikation und jedes erfolgreiche Risikomanagement. Sie ist vergleichbar mit einem Cockpit, in dem alle notwendigen Instrumente nicht nur vorhanden sind, sondern auch korrekte Daten liefern. Wenn Instrumente nicht funktionieren oder falsche Werte anzeigen, ist bei Schönwetter eventuell noch ein Flug auf Sicht möglich, in der Nacht oder im Nebel kommt es aber rasch zu Fehlentscheidungen mit dementsprechenden unerwünschten Konsequenzen. Deutschland und Österreich, zwei der reichsten Länder der Welt, hatte zu keinem Zeitpunkt der Pandemie ein voll ausgestattetes Cockpit mit präzisen Instrumenten, waren viel zu oft im Blindflug unterwegs.
Ohne gute Datenbasis kann ein Risikomanagement nicht erfolgreich sein. Ohne geeignete Strategien und Maßnahmen aber auch nicht. Am folgenschwersten ist die Kombination aus ungeeigneten Strategien und Maßnahmen, basierend auf einer miserablen Datenbasis. Dabei wären bessere Daten, die Beachtung der Verhältnismäßigkeit und Abschätzung der erwünschten und unerwünschten Effekte aller Maßnahmen, die Einhaltung ethischer Prinzipien, die Wahrung von Grundrechten und vieles mehr möglich gewesen. Die von deutschen Gesundheitswissenschaftlern erstellten Thesenpapiere haben dazu seit dem Frühjahr 2020 gute Anregungen gegeben,3 wurden aber vom dominanten medizinisch-virologischen Tunnelblick ignoriert.
Ein einziges Gesundheitsrisiko „koste es, was es wolle“ zu bekämpfen und alle anderen Determinanten von Gesundheit zu vernachlässigen ist eine gesellschaftliche Entgleisung die sich nie mehr wiederholen darf. Deshalb führt an einer umfassenden interdisziplinären Aufarbeitung der Pandemie kein Weg vorbei – https://pandemieaufarbeitung.net/ –; diese ist aber nicht nur eine politische und wissenschaftliche, sondern vor allem eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der auch die Bürgerschaft beteiligt werden muss. Wertschätzend und auf gleicher Augenhöhe. Dieser Prozess wird Jahre dauern, braucht ausreichend Ressourcen und muss gut moderiert werden. Schwamm drüber ist mit Sicherheit keine Option! <<

 

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