Die antike Orestie ist das Ur-Modell einer dysfunktionalen Familie. Rieke Süsskow verfremdet sie im Berliner Ensemble gleich doppelt.

Während des Lockdowns soll es verstärkt zu häuslicher Gewalt gekommen sein. Das Eingeschlossensein in den eigenen vier Wänden, noch dazu wenn sie eng sind, potenziert Aggressionen, die eh schon latent da waren. In Zeiten der vorsichtigen Wiederaufnahme der Bühnen boomt denn auch wieder ein ganz archaisches Familiendrama: die Orestie um die Blutschuld im Hause Agamemnon, die die ganze Dynastie ausrottet.

Die Atriden sind sowas wie die Sippschaft zur der Stunde, das Ur-Modell einer dysfunktionalen Familie. Und das bisschen Dramenpersonal eignet sich auch bestens für die corona-bedingten Auflagen, dass auch auf der Bühne nicht allzu viele Menschen sich allzu nahe stehen sollten.

Gerade erst hatte an der Volksbühne Thorleifur Örn Arnarssons „Orestie“ Premiere und dann Eugene O’Neills „Mourning becomes Elektra“. Und nun zeigt das Berliner Ensemble in seinem Neuen Haus „Elektra. Ein Familienalbum“ von Rike Süsskow. Die Orestie in doppelter Verfremdung: als Stummfilm und als Kinderbuch zugleich.

Mutti und ihre mörderische Brut: Klytämnestra (Kathrin Wehlisch) mit Orest (Nico Holonics), Elektra (Laura Balzer) und Iphigenie (Aleksandra Corovic).
Mutti und ihre mörderische Brut: Klytämnestra (Kathrin Wehlisch) mit Orest (Nico Holonics), Elektra (Laura Balzer) und Iphigenie (Aleksandra Corovic). © JR Berliner Ensemble

Der Worte sind genug gewechselt. Die Handlung ist ja allseits bekannt: Vater Agamemnon (Tilo Nest) opfert seine eigene Tochter Iphigenie (Aleksandra Corovic), um in den Krieg ziehen zu können. Mutter Klytämnestra (Kathrin Wehlisch) grollt darüber solange, bis ihr Mann zurückkehrt, um ihn mit ihrem Geliebten Aigisth (Oliver Kraushaar) im eigenen Bade zu erschlagen. Woraufhin Tochter Elektra (Laura Balzer) grollt darüber so lange, bis Bruder Orest (Nico Holonics) die Mutti erschlägt. Und dafür im Wahnsinn endet.

Klassiker zum Pop-Up-Buch aufgepeppt

Rike Süsskow hat das Drama aus dem antiken Königspalast in eine spießige deutsche Stube der Neuzeit verlegt. Eine Anti-Familienidylle als Kinderbuch, genauer als Pop-Up-Buch, also zum Aufklapp-Bilderbuch aufgepeppt. Denn das grandiose Bühnenbild von Marlene Lockemann lässt sich in der Mitte gleich drei Mal aufklappen. Dabei ploppen erst der Vorgarten, dann die Stube und dann die Privatkammern mit dem besagten Bad auf.

Das Ganze wirkt zugleich wie ein expressionistischer Stummfilm der frühen 20er-Jahre, mit seinen zackigen, schrägen, deutlich gemalten Kulissen. Mit dem überbetonten Spiel seiner Protagonisten: Mit dick umrandeten Augen. Mit Farbtönen wie den Viragen im Stummfilm. Dazu kratzen Geigen und Geräusche aus dem Off und geben den Takt für das zackig-zuckende Spiel vor. Und die Protagonisten krächzen nur. Oder geben stumme Worte von sich. Es fehlen nur die Zwischentitel vom Kino.

Am Ende steht Elektra (Laura Balzer) ganz allein in der zuklappenden Stube.
Am Ende steht Elektra (Laura Balzer) ganz allein in der zuklappenden Stube. © JR Berliner Ensemble

Ein in dieser konzentrierten Stilisierung höchst reizvoller Abend, der die Tragödie in ihrer Stummheit quasi auf ihre Quintessenz reduziert. Sie alle sind nur Marionetten, sind Hampelmänner und -frauen am Spielzug des Schicksals. Jeder muss eine Schuld sühnen und macht sich selbst schuldig. Am Ende sind alle tot, nur Elektra steht noch verloren da, bis die Faltstube endgültig zuklappt.

Lustiger Abend mit lustvoller Chargieren

Dieses „Familienalbum“ ist ein sehr kurzweiliger Abend, bei dem die Schauspieler auch lustvoll chargieren dürfen. Sie beben permanent. Gleichwohl werden ihre Körperverrenkungen immer wieder eingefroren, was auch ein Stück weit das Beben der Gelenke erklärt.

Diese Einfrierungen lassen das nur 75 Minuten kurze Stück aber doch manchmal etwas lang erscheinen. Für die Figuren hätte man sich noch ein paar Charakteristika mehr einfallen lassen können. Und leider ist das die ausgefeilte Choreographie zwischen dem Mummenschanz der Spieler und der Musik vom Band nicht immer ganz synchron. Man fragt sich immerzu, was wohl ein Herbert Fritsch, dessen Stil „Elektra“ ja zweifellos zitiert, daraus gemacht hätte.

Berliner Ensemble, Bert-Brecht-Platz 1, Mitte. Nächste Termine 27.10.-1.11., 11.-15.11,, 20 Uhr.