Gustav Schickedanz hörte heimlich „Feindsender“

7.11.2010, 10:00 Uhr
Gustav Schickedanz hörte heimlich „Feindsender“

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Der emeritierte Professor für englische Literatur und Kultur hat das Leben seiner Mutter aufgeschrieben, wie sie es ihm erzählt hat. Zudem verfügt er über zahlreiche Bilddokumente, weil sein Vater schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein begeisterter Fotograf war.

Für die freundschaftliche Verbindung seiner Mutter Emilie Lottes zur Familie Schickedanz finden sich viele fotografische Belege: Stolz flaniert Gustav Schickedanz im Juli 1939 mit Hauslehrerin Lottes durch Karlsbad. Scheinbar unbeobachtet führt er zehn Jahre später sein Töchterlein Madeleine durchs Hersbrucker Sommerfest. Ein anderes Foto zeigt Madeleine als Schulmädchen mit der typischen Scheitelfrisur der 50er Jahre.

Stipendium von der Stadt

Dass Emilie Lottes, als Tochter eines Schneiders 1913 in Nürnberg geboren, später eine Freundin der Unternehmerfamilie würde, ist nicht vorauszusehen. Denn begütert sind die Eltern nicht. Aber weil Emilie gut lernt, darf sie aufs Mädchenlyzeum und — dank eines Stipendiums der Stadt Nürnberg — sogar studieren. Zu ihren Jugendfreundinnen gehört Irene Benario, eine Enkelin von Ignaz Bing. Der jüdische Fabrikant und Entdecker der Streitberger Tropfsteinhöhle bekommt die Anfeindungen der Nazis früh zu spüren. Zum einschneidenden Erlebnis für die junge Emilie wird der Tag, als Freundin Irene sie bittet, sie nicht mehr zu besuchen: „Dein Umgang mit uns könnte für dich gefährlich werden; wir sind hier nicht mehr erwünscht.“ Erst in den 70er Jahren finden die zwei Frauen wieder zueinander.

1938 beendet Emilie ihr Studium. Sie wird Lehrerin in Fürth und traut sich auch, der Tochter des NS-Kreisleiters eine Fünf (damals schlechteste Note) zu erteilen. Nebenbei wird Emilie ab 1937 auch Hauslehrerin für Louise Schickedanz, Tochter aus erster Ehe von Gustav Schickedanz.

Einen engen Kontakt entwickelt die Privatlehrerin auch zu Grete Lachner, die als Lehrmädchen zur Firma kommt und dann zur zweiten Frau Schickedanz aufsteigt. „Mit der Natürlichkeit und dem Charme ihres Wesens bezauberte sie ihre Umgebung von Anfang an. Weil sie um die Nöte kleiner Leute wusste, war sie ihr Leben lang eine Kämpferin für Gerechtigkeit, eine Anwältin der Schwachen.“ Die Haltung von Gustav Schickedanz zum Nationalsozialismus be-hielt Emilie Lottes als pragmatisch, aber distanziert in Erinnerung. Schickedanz wird Parteimitglied, auch Gauleiter Julius Streicher ist einmal in der Dambacher Villa zu Besuch.

Goldstücke im Kleidersaum

Im vertrauten Familienkreis aber empört sich Schickedanz über die Behandlung der Kirchen durch die Nazis. In der Kriegszeit dann wird auch bei Schickedanz’ heimlich der „Feindsender“ BBC gehört. „Bei einem Spaziergang im Garten des Hersbrucker Ausweich-Domizils 1943 vertraute Grete meiner Mutter an, dass sie in den Saum ihres besten Kleides ein paar Goldstücke eingenäht hatte für eine eventuelle plötzliche Flucht“, schreibt Lottes.

Mit Madeleine Schickedanz, 1943 geboren, hat Buchautor Lottes eine originelle Verbindung: Er „erbt“ als Baby 1944 den prachtvollen Korb-Kinderwagen Madeleines, samt Spielsachen. Den Wunsch von Gustav Schickedanz, Mutter Lottes solle auch die Erziehung von Madeleine übernehmen, muss sie jedoch abschlagen.

Sie will sich um ihren eigenen Sohn kümmern und wird nach dem Krieg Lehrerin in Neumarkt. Mit Grete Schickedanz, der Mutter von Madeleine, bleibt Emilie in Verbindung, ist öfter Gast in Dambach. Wolfgang Lottes: „Selten habe ich meine Mutter so bedrückt erlebt wie 1994, als im Abstand von zwei Monaten Louise und Grete Schickedanz starben.“