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BÜNDE

"Ich wollte als Gewinner dastehen"

SUCHT IM BÜNDER LAND (4): Michael Gensch war spielsüchtig

Vor dem Spielautomaten können die Spielsüchtigen von ihren Alltagsproblemen abschalten und sich als Gewinner fühlen. Einige spielen an bis zu zehn Automaten gleichzeitig. | © THEMENFOTO: NW

Vor dem Spielautomaten können die Spielsüchtigen von ihren Alltagsproblemen abschalten und sich als Gewinner fühlen. Einige spielen an bis zu zehn Automaten gleichzeitig. | © THEMENFOTO: NW

10.08.2012 | 10.08.2012, 00:00

Bünde. Immer wenn der Druck im Job oder zu Hause zu groß wurde, ging Michael Gensch (44, Name geändert) in die Spielhalle. Dort konnte er abschalten und darauf hoffen, zu gewinnen. Als er 12.000 Euro gewann, suchte er sich Hilfe bei der Spielerberatung des Diakonischen Werkes.

Zum ersten Mal an einem Automaten gespielt hat Michael Gensch als Kind in der Gaststätte seines Onkels. "Da war ich zwischen 7 und 10 Jahre alt. Hier haste 5 Mark, schmeiß die mal rein, hat mein Onkel gesagt." Zum 12. Geburtstag schenkte er ihm einen Spielautomaten, der hingfortan im Partykeller. "Das war unglaublich, was da rauskam. 300, 400 D-Mark." Freunde und Bekannte warfen Geld ein, wenn sie da waren.

Michael Gensch trägt ein kurzärmeliges Hemd, sieht aus wie ein Business-Typ, ein Vertreter. Er ist da, wirkt authentisch. Und er sieht glücklich aus.

Als Michael Gensch 13 war, trennten sich seine Eltern, der Kontakt zum Vater riss ab. Ein Jahr später mussten sie aus dem Haus in Herford aus- und nach Lippinghausen in eine Wohnung ziehen. Als ältester war er seinen vier Geschwistern Vaterersatz und der Mutter eine Stütze. Seine Kindheit war vorbei. "Ich war wütend auf meinen Vater und auf die Umstände: Die finanziellen Einbußen, der soziale Abstieg." 50 Meter von der Wohnung entfernt war eine Spielhalle. Wenn er Geld hatte, ging er dorthin, flüchtete vor den Sorgen und der Verantwortung. Seine Schwester habe mit 6 Jahren Diabetes bekommen, seine Mutter arbeitete. "Pass auf was Gesa isst (Name geändert)", schärfte sie ihm ein. Auch um die Mutter musste er sich kümmern. Sie war nervlich angegriffen, durch die Trennung und die Geldsorgen. "Ich hatte Angst, auch noch sie zu verlieren. Dann musste ich weg." In die Spielhalle. Schlimmer wurde der Druck, als die Familie für vier Monate bei der Oma in Herford wohnte, weil sie die Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Dort wohnten sie zu fünft auf 60 Quadratmetern. Als eines Tages 200 D-Mark auf dem Tisch lagen, steckte er 100 ein. Er ging in die Kneipe, trank Bier und "verballerte alles" am Automaten. Da war er 15. Als er nach Hause kam, sagte er, er habe das Geld auf dem Weg verloren. Das Lügen begann. "Ich ging in die Spielhalle, um die Langeweile und die Enge zu betäuben. Und die Wut, die ich nicht begriff. Diesen unglaublichen Frust." Im Leben fühlte er sich als Verlierer, hier hatte er die Chance, als Gewinner dazustehen. Er habe eine Maske aufgesetzt. "Aber dahinter war ich sehr einsam. Keiner wusste, wie ich tickte."

Er habe nicht knapp 30 Jahre durchgespielt, sagt Michael Gensch. Es gab Phasen. Er arbeitete im Außendienst, in dem Job sei man zahlenabhängig. Wenn alles gut lief, beruflich und privat, habe er nicht spielen müssen. Aber sobald es Stress gab, eben doch. Erst ab und zu, dann häufiger, dann jeden Tag. 100 Euro waren spätestens nach einer halben Stunde verzockt. Eine "Saison" habe zwischen 2.000 und 5.000 D-Mark verschlungen. Wenn das Konto dicht war weil er es überzogen hatte ging Michael Gensch kleinlaut zu seiner Frau und gestand ihr, dass er wieder gespielt hatte.

Spielsucht habe die höchste Beschaffungskriminalität, sagt Gudrun Plaumann. Der Unterschied zu anderen Süchten sei, dass man Spielen nicht sieht, sagt Michael Gensch. "Man wird ein hervorragender Schauspieler, auch in der Partnerschaft. Aber man beschummelt sich selbst."In der Beziehung zu seiner Frau geriet er immer wieder unter Druck. Er habe nicht streiten können. Wenn er wütend war, konnte er nichts rauslassen. "Dann stand der Kessel unter Dampf und ich musste raus." Spielen, Druck ablassen. Er sei auch mit 20 Euro losgezogen, "Hauptsache ich konnte spielen". Irgendwann hätten ihn die Kosten erschlagen, es sei alles zusammengebrochen. Er habe nur noch die Schulden jongliert, sich gefühlt wie ein Feuerwehrmann. Nur, dass er den Brand nie löschen konnte, sondern ihn stattdessen selbst noch anheizte. "Den einen Tag kommen Sie mit einem sauschlechten Gewissen nach Hause, weil Sie gerade 100 Euro verloren haben, und müssen trotzdem eine gute Miene aufsetzen. Hallo Schatz, hallo Kinder." Am nächsten Tag sei er super gut drauf gewesen, weil er Geld gewonnen habe. Das habe er aber auch nicht zeigen dürfen, weil seine Frau dann gefragt hätte, warum er so überschwänglich sei. "Ich war entweder himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, kurz vorm Heulen." Er nahm 20 Euro aus der Spardose seiner Kinder, weil er sich einredete, sie am nächsten Tag wieder reinzulegen. Und fühlte sich schäbig. "Ich war nicht mehr ich selbst. Ich wollte nicht mehr." Er dachte daran, sich das Leben zu nehmen, mit dem Auto vor den Baum zu fahren. Dann gewann er am Automaten 12.000 Euro - und konnte sich nicht darüber freuen. "Ich hab nur gedacht: Wie erklär’ ich das zu Hause?"

Er rief Gudrun Plaumann an. "Ich wollte wissen, warum ich süchtig geworden bin." Endlich traf er jemanden, der wusste, wovon er spricht und ihn dafür nicht verurteilte; der ihm Kraft gab, daran zu glauben, dass es weitergeht. Michael Gensch begann eine stationäre Therapie, die 1,5 Jahre dauerte. Er fand heraus, warum er gespielt hat, welche Funktion es hatte. Und er lernte zu streiten, nein zu sagen.

Heute wohnt er 20 Meter neben einer Spielhalle. Ob er noch Lust hat zu spielen? "Nein." Das Spielen habe so großen Schaden angerichtet und er habe ihm so viel Zeit geopfert. Er hat allen Freunden und der Familie von seiner Sucht erzählt. "Es geht darum zu sich zu stehen, die Sucht als Teil meiner Person anzuerkennen. Deshalb bin ich kein schlechter Mensch."