Als die Russen Paris aufmischten

Zwei führende Choreografen gastieren zu Saisonbeginn in Zürich: Marco Goecke und Edward Clug präsentieren ihre sehr eigenen Sichtweisen auf die einst skandalumwitterte Musik von Igor Strawinsky.

Isabelle Jakob
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Erlösend regnet's aus dem Bühnenhimmel: Schlussszene aus Edward Clugs «Sacre»-Choreografie in Zürich. (Bild: Gregory Batardon)

Erlösend regnet's aus dem Bühnenhimmel: Schlussszene aus Edward Clugs «Sacre»-Choreografie in Zürich. (Bild: Gregory Batardon)

Wie kaum eine andere Stadt war Paris Schauplatz künstlerischer Umbrüche. Hier durchlebte wohl jede Kunstgattung irgendwann ihre ganz eigene Avantgarde, und Generationen von Citoyens wurden Zeugen, wie aus Orchestergräben neuartige Klänge ertönten, wie Frauenbeine in Hosen gesteckt und erste Ballettkoryphäen erkoren wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts wühlte ein Künstlertrupp aus dem fernen Russland die Stadt an der Seine besonders auf und sicherte sich mit seinem reichen Œuvre einen Logenplatz im Kanon der Moderne: An der Spitze dieses Kollektivs standen der Komponist Igor Strawinsky sowie Sergei Diaghilew, der Impresario jener Truppe, der legendären Ballets Russes. Gemeinsam schufen sie Werke wie «Petruschka» und «Le Sacre du Printemps», die nun als Neuinszenierungen von Marco Goecke und Edward Clug auf dem Kalendarium des Opernhauses Zürich standen.

Jahrmarkt und Puppenspiel

Am 13. Juni 1911 landete besagte Künstlerschar im Théâtre du Châtelet einen aufsehenerregenden Erfolg. Ihr neuestes Ballett trug den verheissungsvollen Titel «Petruschka» und erzählte von einem Jahrmarkt in St. Petersburg während der «Masleniza», der «Butterwoche», eines traditionellen Fests, bei dem vor der züchtigen Fastenzeit sieben Tage lang ausgiebig der Völlerei gefrönt wird. Teil dieser Jahrmarktszenerie ist ein Puppenspiel, dessen Marionetten vor den Augen staunender Schaulustiger von einem zwielichtigen Gaukler zum Leben erweckt werden. Die damalige Choreografie stammte von Michail Fokin; ein gutes Jahrhundert später nimmt sich in Zürich der Stuttgarter Haus-Choreograf Marco Goecke des märchenhaften Stoffs an. Auf der Bühne erinnert auf den ersten Blick nicht das Geringste an heiteres Jahrmarkttreiben und rätselhaftes Puppenspiel.

Wie üblich vertraut Goecke ganz auf die Phantasie eines jeden Zuschauers und deutet die Szenerie nur subtil an. Die Schaubude des Gauklers lässt sich nur dank einem schwarzen Vorhang erahnen. Eine Handvoll schwarzer Ballons versprüht einen Hauch von Ausgelassenheit, und stets schwebt über dem Bühnenboden ein feiner Rauch, so als ob die letzten Jahrmarktbesucher soeben vom Platz gestoben wären. Aber nein, sie sind noch da, versammeln sich von Zeit zu Zeit, erkunden wie Tiere gegenseitig ihre Körper und fressen sich bisweilen fast auf. Ihre Hände fungieren dabei als kleine, unglaublich flink tätschelnde Flügel, als Messerschneiden für zu enthauptende Rivalen, als raumschaffende Werkzeuge. Goecke ist ein Meister darin, jedem noch so kleinen Körperteil die volle künstlerische Aufmerksamkeit zu schenken!

Von den drei Protagonisten des Puppenspiels – einem Mohren, einer Ballerina und Petruschka selbst – liegt Letztgenannter Goecke offenbar am meisten am Herzen. Diese von ihrer Hässlichkeit gequälte Mitleidsfigur (William Moore) vollführt Tänze, die durchweg ungewollt für Erheiterung und Albernheit sorgen. Petruschkas Gegenpart ist der protzige, prachtvolle Mohr (Tigran Mkrtchyan), der mit seiner siegessicheren Körpersprache die törichte Ballerina (Katja Wünsche) für sich zu gewinnen vermag. Das Drama endet mit Eifersucht und dem Tod des unansehnlichen Narren.

Mit «Petruschka» zeigt Goecke einmal mehr, dass er mit seiner individuellen Tanzsprache und seiner ausgeprägten Musikalität sowohl Geschichten zu erzählen als auch das Seelenleben und die inneren Kämpfe jeder seiner Figuren allein mit Bewegung aufzuzeigen vermag – so schonungslos wie kaum ein anderer Choreograf heutzutage.

Noch bekannter als «Petruschka» ist Strawinskys «Le Sacre du Printemps», das zwei Jahre später ebenfalls in Paris im Théâtre des Champs-Elysées zur Uraufführung kam und im Gegensatz zu «Petruschka» zu einem der grössten Skandale der noch jungen Moderne wurde. Das Stück thematisiert ein Ritual im heidnischen Russland, bei dem eine Jungfrau dem Frühlingsgott zur Versöhnung als Opfer dargeboten wird. Choreografiert wurde das halbstündige Orchesterstück von Vaslav Nijinsky, dem Star der Ballets Russes. Was für die Choreografie sehr charakteristisch war, ist das archaische Stampfen, das dem damaligen Publikum komplett fremd war und über das man sich auf den Strassen und in den Feuilletons gehörig erregte.

Erlösendes Wasser

Von diesem Stampfen ist beim Rumänen Edward Clug nicht viel übrig geblieben. Vielmehr lässt er das Ensemble auf demi pointe vorwärtstrippeln, bis das Gleichgewicht ins Wanken gerät; oder er lässt die Tänzerinnen und Tänzer kerzengerade auf und ab springen, so dass die Füsse geräuschvoll auf dem Bühnenboden aufprallen. Die Opfergemeinschaft ist zu Beginn gefangen in einer weiss ummauerten Kleinstwelt und wartet offenkundig auf etwas lang Ersehntes: Stets aufs Neue unterliegen die Körper den Zwängen der Physik und fallen zu Boden, verzweifelt arbeiten sie sich an der Schwerkraft ab, und dennoch scheinen sie ihr Heil dabei unbeirrt vor Augen zu haben. Immer wieder strecken sie ihre Arme in die Höhe, legen ihre Köpfe in den Nacken und wölben die Bäuche in Richtung Himmelszelt.

Erst als die weisse Mauer fällt und es Wasser von oben regnet, scheint eine erlösende Naturgewalt in ihnen zu erwachen. Edward Clug formt mit seiner Bewegungssprache eine tänzerische Archaik, die jene der Musik von Strawinsky aufnimmt und sie im Zusammenspiel mit der Philharmonia Zürich unter der Leitung des Dirigenten Domingo Hindoyan sogar erweitert. Die Idee des Bühnenregens selbst ist grossartig und lässt bleibende Bilder entstehen, die dem «Sacre» eine ganz neuartige Ästhetik und Dringlichkeit verleihen.