Den Kopf im Nacken – die Gedanken in den Wolken

So diffus Wolken sind, der Urknall der Wolkenmalerei lässt sich zeitlich präzisieren: Es war die Malerei der Romantik, insbesondere auch jene in der Schweiz, die das Schauspiel von Sauerstoff und Wasserstoff am Himmel für sich entdeckte.

Florian Illies
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Was sich am Himmel tut, erkennt mancher Schweizer erst in der Fremde: Wolkenstudie bei Rom von Johann Jakob Frey in der Ausstellung des Kunsthauses Zürich «Im Herzen wild. Die Romantik in der Schweiz».

Was sich am Himmel tut, erkennt mancher Schweizer erst in der Fremde: Wolkenstudie bei Rom von Johann Jakob Frey in der Ausstellung des Kunsthauses Zürich «Im Herzen wild. Die Romantik in der Schweiz».

Privatsammlung,Basel

Wolken sind international, sie scheren sich nicht um Lufthoheiten und um Grenzzäune, sie sind die Nomaden der Lüfte, unfassbar und staatenlos. Wolken sind aber auch zeitlos, ewig, ihre schwebenden Formen über uns sind seit Jahrtausenden gleich, gerade in ihrer Flüchtigkeit sind sie ein grosses naturgeschichtliches Kontinuum, unter ihnen auf Erden mögen sich Steinzeiten und Bronzezeiten abspielen, Rütlischwüre und Renaissancen, die Wolken darüber ziehen davon völlig unbeeindruckt ihrer Wege.

Es ist darum ein umso grösseres Faszinosum, dass sich der Urknall der Wolkenmalerei dennoch zeitlich präzisieren und geografisch lokalisieren lässt. Die Art des menschlichen Blickes nach oben ist vor allem eine Frage der Mentalitätsgeschichte. Um das Jahr 1820 herum, kurz nach den epochalen wissenschaftlichen Wolkenklassifizierungen des Engländers Luke Howard, beginnt John Constable über den weiten Heideflächen von Hampstead Heath und Johan Christian Dahl in der Naturbühne der Bucht von Neapel, die Wolke als Individuum zu erfassen. Diese beiden Maler sind die ersten wahren Wolkenkratzer. Sie malen sehr genaue Wolkenporträts, es gibt keinen anderen Inhalt mehr auf ihren kleinen Leinwänden als das mal grimmige, mal lächelnde Spiel von Weiss und Grau.

Und genau das ist der grosse Epochenbruch, der sich in diesen kleinen Wolkenstudien vollzieht: Wer den Himmel nur noch als Bühne für ein Schauspiel von Sauerstoff und Wasserstoff sieht und nicht mehr als den Ort, an dem die Götter oder die Engel wohnen, der vollzieht malerisch einen Akt der Säkularisation. Als die Frau des romantischen Dresdner Malers Carl Gustav Carus mit ihrem Mann in den 1820er Jahren das Atelier von Johan Christian Dahl verlässt, da wird sie ihn schaudernd fragen: «Warum malt er denn nur diese Wolken? Ist er nicht fromm?»

Alles wird Luft

Nach der Aufklärung, als sich all die scheinbar ewigen Wahrheiten der Philosophie und der Religion und der Gesellschaftsordnung in Luft auflösten, begannen sich die Maler an die Wolken zu klammern, als könne doch Trost von oben winken. In den Hunderten Jahren der Malerei waren die Himmel natürlich auch bewölkt, aber die Gemälde nannte man «Landschaften», denn die Musik spielte woanders: am Boden. In den Wolkenstudien der Romantik hingegen ist das Irdische reduziert auf einen Strich, einen Baum, eine Horizontlinie, eine letzte kleine optische Gedankenstütze, um den Himmelsraum darüber präziser zu verorten.

Wie aber, so darf man fragen, soll das gehen, wenn man einfach keine flachen Horizontlinien vorzuweisen hat? Wenn man den Kopf schon sehr in den Nacken legen muss, um die Bergspitzen in ihren Tausenderhöhen zu erkennen, und dann im Blickfeld kaum noch Raum ist für den Himmelsraum darüber? Willkommen in der Wolkenmalerei der Schweiz.

Johannes Stückelberger hat zu diesem Thema die wesentliche Grundlagenarbeit geleistet; er zeigte minuziös auf, wann genau sich die Himmel über den Bildern der Schweiz erstmals bewölkten, was die speziellen Herausforderungen waren, was die Konsequenzen, wer die Protagonisten. Am Anfang steht neben François Diday vor allem der 1810 geborene Alexandre Calame, der als erster Schweizer Künstler ab 1830 die Wolke als zusätzliches Dramatisierungselement seiner Landschaftsmalerei bewusst einsetzt: als Stimmungsverstärker, als meteorologischen Gehülfen zur Pathosproduktion, als formlos schwebenden Kontrast zu den harten Formationen des Gesteins der Berge.

Wolkenstudie Johann Jakob Frey, zusehen jetzt im Kunsthaus Zürich.

Wolkenstudie Johann Jakob Frey, zusehen jetzt im Kunsthaus Zürich.

Privatsammlung,Basel

Er selbst hatte seine neue Sicht auf die Wolken interessanterweise aus den flachen Niederlanden importiert, wo er auf einer Reise im Jahr 1838 realisiert, dass schon allein wegen der niedrigen Horizonte automatisch der Himmel einen sehr grossen Raum in der niederländischen Landschaftsmalerei einnahm – und zwar ununterbrochen seit ihrem gloriosen Beginn im 17. Jahrhundert. Natürlich, so begreift Calame da, schreiben auch die Geografie und die Geologie mit an der europäischen Kunstgeschichte! Und so notiert er leicht resigniert mit Blick auf die kleinen Himmelsausschnitte über den hohen Schweizer Bergen: «Wir, die Bewohner der Bergländer, sehen den Himmel sozusagen nur durch ein Fenster, also sind wir weit davon entfernt, ihn zu verstehen und ihn so zu malen, wie sie es machen.»

Schweizer Gewölk

Calame selbst nahm sich dieses Problems in Theorie und Praxis an: also «zu malen, wie sie es machen». Er skizzierte direkt vor der Natur in den Bergen, versuchte, dem Wesen der Wolken malerisch auf den Grund zu gehen, und verstärkte ihre Präsenz in seinen ausgeführten Werken. Er schrieb, dass die stark vertikale Ausrichtung der Alpen dennoch niemanden dazu verleiten dürfe, die ungeheure räumliche Tiefe des Himmels darüber zu unterschätzen: «Er erhebt sich über den schneebedeckten Spitzen unserer ungeheuren Bergspitzen in einem brillanten Glanz und als Raum der Unendlichkeit für die vorüberziehenden Wolken.» Gerade so, als wolle er sagen: Vergesst nicht, auch über der Schweiz gibt es Wolken.

Es ist eine schöne mentalitätsgeschichtliche Pointe, dass in ebenjenem Jahr 1838, als Calame aus den hohen Himmeln der Niederlande die Wucht der Wolken mit in die Alpen brachte, sich ein Schweizer Generationsgenosse, der 1813 geborene Johann Jakob Frey, mit grosser Obsession der «Unendlichkeit der vorüberziehenden Wolken» widmete. Die erst in den letzten Jahrzehnten im Basler Nachlass von Frey aufgetauchten Wolkenstudien dürften zu einem wesentlichen Teil unmittelbar nach seiner Ankunft in Italien entstanden sein, also in der Zeit von 1835 bis 1839 (siehe unsere Abbildung).

Frey hatte das Glück, dass er kurz zuvor in München bei Carl Rottmann und Johann Georg von Dillis zeitgenössische Landschaftsmalerei studieren durfte. In seinen schönsten Studien gelang es ihm, die Errungenschaften dieser beiden Meister malerisch zu vereinigen: also einerseits Rottmanns untrügliches Gespür fürs butterweiche Abendrot, seine verschliffenen Pinselstriche, die Atmosphäre allein aus Lichtschattierungen zaubern können – und anderseits die auch dokumentarische Wolkenbesessenheit von Dillis’, des deutschen Pioniers in jenem Genre. Es macht sicherlich die überraschende Souveränität von Freys Studien aus, mit denen er aus dem Stand die Schweizer Wolkenmalerei auf internationales Niveau hob, dass er die Seherfahrungen der beiden vorangegangenen Malergenerationen, also die des 1759 geborenen von Dillis wie die des 1797 geborenen Rottmann, aufnehmen konnte.

Und wie bei vielen seiner Vorgänger dürfte es sich bei den meisten erhaltenen Wolkenstudien Freys um das Ergebnis seiner ersten Jahre in Italien handeln. Ab 1840 etwa, als er sich in Rom niedergelassen hatte, wie Nico Zachmann als Erster dargelegt hat, nutzte er die Naturstudien dann für einige Jahrzehnte als Grundlage für eine erfolgreiche Gemäldeproduktion grosser italienischer Landschaftstableaus. Die Überwältigungen des Lichts und der Wolken, der Einzug des Tempos in die Malerei, als er versuchte, mit dem Pinsel seinen Objekten hinterherzujagen und sie in ihrer Flüchtigkeit einzufangen – dies sollte Frey dann aufgeben zugunsten einer verlangsamten Feierlichkeit, in der die gemächlichen Wolken am Himmel nur noch manchmal von ihrer im Herzen wilden Jugend erzählen.

Es sind genau diese Studien seiner ersten Jahre in Italien um 1838, in denen die Schweizer Wolkenmalerei, mit einer Verspätung von einer Generation, endlich «frey» wurde. Aufgrund der fehlenden Datierungen ist es schwer, alle Wolkenstudien Freys eindeutig geografisch oder chronologisch zu ordnen. Aber man kann davon ausgehen, dass das Gros davon, die alle das südländisch verführerische weiche Licht in den Wolken zeigen, in die italienischen Erweckungsjahre fällt. Natürlich wird er auch in späteren Jahren immer wieder Wolken porträtiert haben, offenbar auch, als er in der Schweiz war, wie zwei formvollendete Werke aus Privatbesitz zeigen, eine Studie davon, zusätzlich mit «Juli am Mittag» bezeichnet, zeigt eine Bergkette mit Tannenwipfeln und darüber eine hinreissende weisse Stratocumulus-Formation vor sattem Blau.

Eine weitere Wolkenstudie von Johann Jakob Frey.

Eine weitere Wolkenstudie von Johann Jakob Frey.

Privatsammlung, Basel

Bei Freys Studien versteht man, warum Rudolf Arnheim einmal sagte, dass es sich bei den reinen Wolkenstudien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um «die auffälligsten Vorläufer der modernen nichtgegenständlichen Kunst handelt»: weil es von der Verflüchtigung der einen Wolke eben nicht mehr ganz so weit ist bis zur Verflüchtigung aller Gegenständlichkeit.

Auch diese Befreiung der Schweizer Wolkenmalerei in den Werken von Johann Jakob Frey geschah, wie Calames gleichzeitige Erkenntnis, interessanterweise jenseits der Alpen. Denn umgeben von Bergen, die den freien Blick in den Himmel erschweren, blieb das von Alexandre Calame beschriebene Dilemma eine grosse Herausforderung für die Schweizer Maler des 19. Jahrhunderts. Es geht um eine Malsituation, in der die Geografie und das Körpergefühl sich aufs Nachhaltigste verweben, wie noch Franz Kafka in der legendären Postkarte an seine Schwester Ottla im Jahre 1911 vom Vierwaldstättersee schreiben wird: «Von Bergen eingesperrt in Flüelen. Man sitzt gebückt, die Nase fast im Honig.»

Es sind die beiden deutschen Gipfelstürmer Johann Wolfgang von Goethe und Caspar David Friedrich, die einen möglichen Ausweg aus diesem Gefühl der Eingesperrtheit, der drückenden Dominanz der Berge weisen. Goethe formuliert seinen Lösungsvorschlag in seinen «Briefen aus der Schweiz»: «So wie mich sonst die Wolken schon reizten, mit ihnen fort in fremde Länder zu ziehen, wenn sie hoch über meinem Haupte wegzogen, so steh ich jetzt oft in Gefahr, dass sie mich von einer Felsenspitze mitnehmen, wenn sie an mir vorbeiziehen. Welche Begierde fühl ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen.»

Goethe also gibt die Richtung vor: Man muss hinauf, auf Augenhöhe, dann kann man auf die Wolken blicken, sie müssen an einem «vorbeiziehen», nicht in weiter Ferne über den Bergspitzen aufblitzen. Dann kann man sogar in sie hineinspringen. Und Caspar David Friedrich hat für diesen literarischen Rat dann unbewusst eine malerische Entsprechung gefunden. Zum einen natürlich in seinem Meisterwerk «Ziehende Wolken», das die Bewegung, die Goethe beschreibt, bereits im Titel trägt. Nur 18 mal 24 Zentimeter klein ist dieses Ölgemälde, das heute in der Hamburger Kunsthalle hängt. Es ist ein quergestreiftes Bild: Oben scheinen, einem Vorhang gleich, die Wolken zu stehen, dahinter, in einer zweiten, weiter entfernten Ebene, verziehen sich gerade Regenwolken nach einem Gewitter, hinter ihnen die Berge, vor ihnen ein Streifen sattes Grün, ganz vorne ein Wall düsterer Steine. Es ist im Gebirge entstanden, im Harz, und Friedrich selbst nannte es in einem Brief «Erinnerung an den Brocken von der Höhe».

Dieses «von der Höhe» ist der Zauberbegriff, der Paradigmenwechsel. Der Mensch steht endlich auf einer Ebene mit den Wolken. Erst dann ist er ihnen gewachsen. Und erst dann kann er anfangen, die alte Symbolik der Renaissance, wo die Wolke als Sitzgelegenheit für Götter etabliert wurde, in eine neue überzuführen: Der Mensch ist kein Aufblickender mehr. Und erst dann können die Wolken plötzlich eine ganz neue aufklärerische Bedeutung erhalten: Friedrich nimmt das Bild der ziehenden Wolken, um in sich hineinzuschauen mit seinem berühmten inneren Auge und vom Wesen der menschlichen Seele zu erzählen. Von der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit in unseren Köpfen, von den vielen Dingen, die gleichzeitig verarbeitet werden müssen und die selten in eine Richtung gehen, von nebulösen Ahnungen und wolkigen Träumen.

Spiegel der Seele

Die widerstreitenden Dynamiken eines undurchschaubaren Wetterwechsels im Gebirge werden zum Spiegel der Seele des romantischen Menschen. Friedrich geht in seinem «Wanderer über dem Nebelmeer» dann noch einen Schritt weiter. Er lässt seine Rückenfigur hinaufsteigen – und von oben auf das Meer aus Wolken und Nebel blicken. Diese Selbstermächtigung des Malers, dieser Aufstieg, um den Wolken im Herabblicken und auf Augenhöhe begegnen zu können, genau das ist die paradigmatische Veränderung, die die Malerei in der Schweiz in der zweiten Jahrhunderthälfte durchläuft.

Johann Jakob Frey: Wolkenstudie mit Gebirge, 1935-38.

Johann Jakob Frey: Wolkenstudie mit Gebirge, 1935-38.

Privatsammlung,Basel

Symbolisch wird diese zentrale kompositorische und inhaltliche Verschiebung im Bild «Die Ernte» von Robert Zünd aus dem Jahr 1860 sichtbar. Hier gibt es keine Berge mehr. Der Horizont liegt fast unterhalb der Blickachse, man hat das Gefühl, die Erde krümme sich im hinteren Bildbereich ein wenig nach unten, stattdessen blickt man frontal auf ein Gebilde aus weissen Wolken, in denen sich ein Gewitter aufzuladen scheint. Der Kontrast aus dem erleuchteten Weizenfeld im Vordergrund und dem satten Blau des Himmels liefert die Bühne für den Auftritt des schönsten Wolkenberges der Schweizer Landschaftsmalerei.

Anhand der zahlreichen Vorstufen zu diesem Hauptwerk kann man genau ablesen, wie Zünd die Wolken im Bildmittelpunkt von Stufe zu Stufe mehr dramatisiert, um die Wirkung zuzuspitzen. In der «Ernte» ist die Wolke die elektrisierende Hauptdarstellerin. Sie ist es zuerst bei Johann Jakob Frey gewesen, in dessen Studien toben und jagen die Wolken über den Himmel und vergessen die Erde unter sich. In Zünds «Ernte» aber hat der Himmel wieder Kontakt zur Landschaft unter sich aufgenommen – und behält dennoch seine bildbestimmende Kraft.

Von dieser Kräfteverschiebung kündet auch eines der skurrilsten Wolkenbilder der Schweizer Romantik: «Lioba! Ruf des Berner Oberländer Hirten» von Auguste Baud-Bovy aus dem Jahre 1886. Das ist die eidgenössische Fassung des «Wanderers über dem Nebelmeer». Aus dem Wanderstab des gelehrten Romantikers ist der Hirtenstab eines kernigen Bergbauern geworden. Statt Ergriffenheit vor den ziehenden Wolken des Elbsandsteingebirges, von dem Caspar David Friedrichs Gemälde erzählt (neben vielem, vielem anderen), sehen wir einen kraftstrotzenden Energiebolzen, der von oben ins Tal ruft, weit über den Wolken und den zarten Tiefen der Romantik stehend.

Es ist ein in doppeltem Sinne verspätetes Bild – wie so oft erzählen in der Kunstgeschichte erst die malerischen Verspätungen der Epigonen von den wirklichen Errungenschaften der Pioniere. Aber Auguste Baud-Bovys «Lioba!»-Rufer ist auch insofern aus der Zeit gefallen, als sich um 1880/90 die Schweizer Landschafts- und damit auch die Schweizer Wolkenmalerei eigentlich längst in eine faszinierende neue Höhe emporgeschraubt hat.

Echokammern der Romantik

Natürlich kann man bei Ferdinand Hodler, bei Giovanni Segantini und bei Félix Vallotton nicht mehr von Romantik sprechen. Aber doch ist ihre Kunst nicht ohne die romantischen Echokammern in ihren Werken denkbar. Sie holen Denkmuster, Bildkompositionen, Weltzugänge der Romantik in die Gegenwart der Jahrhundertwende – und finden neue malerische Ausdrucksformen dafür. Im Herzen also noch immer wild, in der Form aber kalkuliert und verwegen. In den grossen Panoramen Segantinis, auf denen in hochalpinen Szenerien Mensch und Natur tupfend malerisch verwoben werden, sind die einzelnen Wolken am Himmel farbige Bojen, die im Meer des farbig schimmernden Himmels zu schwimmen scheinen.

Der Maler ist so hoch hinaufgeklettert für seine Bilder, dass er die Wolken nun weder von unten noch von oben erfassen muss, sondern nur schlicht zum integralen Bestandteil seiner orchestralen Bildlandschaften macht. Segantini kann sogar die Bergspitzen zeigen, aber dennoch auf einem Drittel der Bildfläche den Himmel sich rund um das Hochplateau entfalten lassen, so wie es sich Calame einst erträumt hatte. Es gibt bei Segantini eine strukturelle Verwandtschaft zu der kompositorischen Rolle der Wolke in den Landschaften Ferdinand Hodlers. Vor allem in dessen Spätwerk, den monumentalen, erhabenen Landschaften vom Genfersee, spielen die Wolken eine zentrale Rolle.

Eine seiner Innovationen sind die Wolkenbänder, die den Bildraum waagerecht überspannen. Die Wolken übernehmen die Funktion eines Deckels für den dem Menschen zugänglichen Weltausschnitt. Innerhalb von diesem aber werden Wolken und Wasser, also Himmel und Erde, durch die Spiegelung optisch miteinander verzahnt. Die Wolke ist bei Hodler nicht mehr das vom Maler zu jagende flüchtige Objekt, das zur Aufladung des Stimmungsgehalts genutzt wird, nein, die Wolken, obwohl selbst Natur, helfen dem Künstler, die Welt zu ordnen.

Es ist naheliegend, dass diese ordnende Funktion herausgefordert wird, wenn die Welt und die Einheit von Mensch und Natur selbst aus den Fugen gerät. Schaut man sich etwa Félix Vallottons Gemälde «Das blühende Feld» an, dann kann man auch hier eine direkte evolutionäre Linie zurück zu Robert Zünds «Ernte» ziehen. In beiden Fällen ist der Betrachter Teil der wogenden Wiese, er steht inmitten der Natur, er ist sogar noch ein Stück tiefer gerückt – doch es ist genau jene Ruhe vor dem Sturm vorüber, die Zünds Gemälde seine maximale Aufladung verlieh. Nein, der Wind bläst kräftig von rechts, die Bäume im Hintergrund biegen sich nach links, und darüber sieht man: ziehende Wolken. Sie sind dunkel, sie sind melancholisch, und auch wenn der Betrachter zu ihnen aufblickt, so doch nicht mehr in einer Geste des Anhimmelns, sondern in einem Gefühl der Angst. Es zieht bald ein Sturm über Europa, und natürlich wissen das die Maler zuerst. Vallotton malte «Das blühende Feld» im Jahre 1912. Zwei Jahre später schon werden Wolken über Schlachtfelder ziehen. Auch davon erzählen die unheilvollen Wolken seiner Gemälde. Sie sind hier endgültig vom unbekannten Flugobjekt zum aufgeladenen Symbolträger geworden. Wolken sind international, Menschen nicht immer.

Am 13. November wird im Kunsthaus Zürich die grosse Ausstellung «Im Herzen wild. Die Romantik in der Schweiz» eröffnet; sie wird bis zum 14. Februar 2021 zu sehen sein. Der Katalog (Prestel-Verlag, 288 Seiten, 200 Abb.) kostet im Museumsshop Fr. 49.– und im Buchhandel Fr. 66.–. Dieser Essay ist eine vom Autor für die NZZ bearbeitete Fassung von jenem aus dem Katalog.

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