Ist Mickey Mouse eigentlich ein Appenzeller? Das zumindest lässt die Freundschaft zwischen Walt Disney und einer Innerrhoderin erahnen

Als Diamanten, Perlen, Briefe und Geheimnisse unter Maria Antonia Räss’ Erben aufgeteilt wurden, war Margrit Schriber, damals noch Notariats-Assistentin, mit dabei. Ein Leben lang dachte sie über diese Geschichte nach. Jetzt hat sie sie aufgeschrieben.

Nadine A. Brügger 5 min
Drucken
In New York stickte Maria Antonia Räss sich ihren «American Dream».

In New York stickte Maria Antonia Räss sich ihren «American Dream».

Bilgerverlag

In der Schweiz betrachtet man sich gerne als bodenständig. Hier muss auch der Rockstar sein Trambillett lösen (Polo Hofer), reiht sich die langjährige Tennis-Nummer-Eins am Postschalter in die Warteschlange ein (Roger Federer) und eilt der Bundespräsident ohne Schutzgarde unter den Lauben zum Bundeshaus (Moritz Leuenberger). Wird einer allzu gross und gibt sich nicht zumindest den Anschein eidgenössischer Bescheidenheit, goutiert man das selten.

Wer andere überragt, sticht heraus. Und Auffälligkeiten gehören sich nicht. Als Maria Antonia Räss 1893 als siebtes von vierzehn Kindern auf dem Grüt im appenzellischen Eggerstanden geboren wurde, war Auffallen geradezu ein Akt der Rebellion. Und Maria Antonia schien das in die Wiege gelegt.

Das Porträt eines Jahrhunderts

Das Kind ist auffällig klein und auffällig keck und fädelt die Nadeln der Stickmaschinen bereits als Fünfjährige schneller und besser ein als alle anderen. Sie sticht heraus mit ihrem schnellen Kopfrechnen, dem unbeirrbaren Willen und vor allem mit ihrem Handarbeitstalent.

Als junge Frau wird Maria Antonia Schaustickerin. Mit harter Nadel, feinem Stoff und Appenzeller Tracht schickt man sie an die Boulevards der grossen europäischen Städte. Dort, auf einem Stuhl am Rande der Flanierzonen, «stickte sie die Wünsche ihrer verwöhnten städtischen Kundschaft» ins Gewebe, schreibt Margrit Schriber in ihrem neusten Roman «Die Stickerin». Darin erzählt sie die wahre Geschichte einer Frau, die es von der Heimarbeiterin in einem Appenzeller «Heemet» mit tiefer Decke zur Patronne mit eigenem Appartement in einem Wolkenkratzer von Manhattan gebracht hat.

Schriber skizziert aber nicht nur das lange Leben einer Geissenbauerntochter, sondern auch das Porträt eines Jahrhunderts, geprägt von zwei Weltkriegen, Wirtschaftskrisen und grosser Innovation. In der dritten Klasse eines Passagierschiffs überquert die Stickerin in langen Tagen und Nächten erstmals den Atlantik. Als alte Dame fliegt sie zweimal pro Jahr in der Businessclass der Swissair zurück in die Heimat.

Erst stickte Maria Antonia Räss ihr Logo ganz klein auf ihre Stickereien – wie ihre Karriere, wurde es immer grösser.

Erst stickte Maria Antonia Räss ihr Logo ganz klein auf ihre Stickereien – wie ihre Karriere, wurde es immer grösser.

Bilgerverlag

«I go west»

Mit knappen Sätzen beschreibt Schriber eine Schweiz, die sich dem Weltgeschehen schon immer, so gut es ging, entzogen hat: Man nimmt, was man braucht, und lässt den Rest vorbeiziehen. Schaustickerinnen wie Maria Antonia etwa gehen nach Berlin und Budapest, bis der Erste Weltkrieg die dortige Kaufkraft begräbt. «Einstmals mondäne Orte waren nun Schrott», notiert Schriber, aber «in den Heemet ging alles den gewohnten Lauf». Die Schaustickerinnen streichen die Wappen einiger Adelshäuser aus ihrem Designheft und tauschen die zerstörten europäischen Metropolen gegen Reiseziele an verschont gebliebenen Orten. Lugano etwa, wo die junge Maria Antonia den wichtigsten Entscheid ihres Lebens trifft.

An der Seepromenade nämlich erblickt ein amerikanischer Ambulanzfahrer die Appenzeller Stickerin. «Er war Maler. Walter Elias Disney sein Name. Er hat ihr erklärt, dass Amerika einer Schaustickerin unbegrenzte Möglichkeiten bietet», schreibt Schriber in ihrem gewohnten Stakkato und erzählt, wie ihre Protagonistin, zurück in Appenzell, der Familie erklärt: «I go west.» Sie packt ein Bündel, kauft eine Schiffspassage, setzt über, «fädelt eine Nadel und beginnt, das Dessin ihres American Dreams zu sticken».

Manchmal holte ihr Freund Walt Disney die Patronne für eine Autofahrt durch New York ab.

Manchmal holte ihr Freund Walt Disney die Patronne für eine Autofahrt durch New York ab.

Bilgerverlag

Eine, die auffällt

Schriber, mittlerweile 84 Jahre alt und seit über vierzig Jahren im Schreibgeschäft, ist selber eine, die auffällt. Mit den bunten Strähnen im kurzen, weissen Haar etwa, vor allem aber damit, dass sie sich getraut. Mit 40 Jahren eine Karriere als Autorin zu beginnen, Frauengeschichten aufzuschreiben, lange bevor das in Mode kam. Oder die schweizerische Bescheidenheit mit der Lust am Erfolg zu tauschen. Zudem schreckt Schriber nicht davor zurück, die historische Genauigkeit hie und da in den Wind zu schlagen und einfach zu erzählen.

Mit einem Quellenverzeichnis oder Fussnoten hält sie sich für die Biografie der Stickerin gar nicht erst auf. Verfügt sie über das Protokoll einer Rede, steht das direkt im Text. Zitiert sie aus einem Brief, etwa von Maria Antonia Räss persönlich, macht sie es kursiv. Auch sich selbst bringt sie als Quelle ein. Immerhin war sie am Ende der Geschichte mit von der Partie.

Schriber, mittlerweile eine Grösse in der Schweizer Literatur, arbeitete lange als Notariats-Assistentin, auch bei der Testamentseröffnung der Maria Antonia Räss. «Hängen Sie sich ans Fadenende von deren Geschichte, Fräulein Rita», soll der Notar ihr während der Testamentseröffnung geraten haben. Seither habe die Geschichte sie nicht mehr losgelassen, schreibt Schriber.

Vieles, was sie über die Stickerin weiss, weiss sie von damals. Oder aus späteren Erzählungen der damals Anwesenden. «Ich glaubte ihm», sagt Schriber etwa über die Behauptungen eines der Anwesenden, dem die Familie Räss Erbschleicherei vorwarf und dessen Geschichten von Geheimnissen und leeren Versprechen die Erzählung erst so richtig ins Rollen bringen.

Die Autorin Margrit Schriber war als junge Notariats-Assistentin bei der Erbteilung von Maria Antonia Räss dabei. Seither hat die Geschichte sie nicht mehr losgelassen.

Die Autorin Margrit Schriber war als junge Notariats-Assistentin bei der Erbteilung von Maria Antonia Räss dabei. Seither hat die Geschichte sie nicht mehr losgelassen.

Bilgerverlag

Mickey Mouse ist ein Appenzeller

Schriber getraut sich, grosse Zusammenhänge herzustellen. Sie betont die Freundschaft zwischen Coco Chanel und Miss Rass, wie Maria Antonia sich in New York nannte. Auch die gute Nachbarschaft mit Eleanor Roosevelt. Vor allem aber die Beziehung zu dem jungen Zeichner, den Antonia in Lugano zum ersten Mal traf.

Dieses Treffen sei nämlich nicht nur für die Appenzeller Schaustickerin wegweisend gewesen, sondern hat laut Schriber auch den amerikanischen Zeichner und schliesslich die gesamte Populärkultur beeinflusst. Und das kam so: Walter Elias Disney habe Maria Antonia Räss in Lugano ein Holztäfelchen abgekauft, auf das der Vater Räss daheim das Grüt, den eigenen Hof, gemalt hatte. In der Tessiner Sonne schaute der Amerikaner sich seine neue Errungenschaft ganz genau an. «Auf einem Bohnenstickel entdeckte er einen in die Wolken hineinragenden Schatten.

‹What’s that?›

‹Eine Maus›, gab die Schaustickerin zur Antwort.»

Um die Geburt von Mickey Mouse ranken sich einige Legenden. Wurde Disney tatsächlich im Zug von Manhattan nach Hollywood von der Muse geküsst, wie er das selber einst schrieb? War die Maus das Produkt durchskizzierter Nächte am Zeichenblock? Oder kam die Inspiration doch von einem in den späten zwanziger Jahren sehr erfolgreichen Spielzeug, einer Maus aus Holz namens Micky?

Schriber jedenfalls schreibt die Geschichte ungeniert so, wie sie sie erzählen will: Die Maus auf dem Rässschen Holztäfelchen hat Disney inspiriert und es schliesslich bis auf die Kinoleinwand geschafft. Mickey ist ein Appenzeller.

Im Nachwort schreibt Schriber, sie habe «der Geschichte über die geniale Tochter des Geissenbauern noch eigene Phantasie-Schlenker zufügen» müssen. Zum Schaden von Miss Rass, die ein Leben lang am eigenen Mythos werkelte – oder zu jenem der Leserin –, ist das jedenfalls nicht.

Ist Mickey ein Appenzeller? Bild aus dem ersten Trickfilm mit der Maus von 1928.

Ist Mickey ein Appenzeller? Bild aus dem ersten Trickfilm mit der Maus von 1928.

Imago

Margrit Schriber: Die Stickerin. Bilgerverlag, Zürich 2024. 233 S., Fr. 36.90.