Ein Film, ein Bild – ein Foto-Tableau von Jason Shulman

Seine Bilder, sagt der britische Künstler und Fotograf Jason Shulman, zeigten die visuelle DNA von Kinofilmen. Die abstrakten Farbkompositionen entstanden durch Langzeitbelichtungen, die den ganzen Film erfassen.

Angela Schader, Gilles Steinmann
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Wenn Ihnen jemand sagte, dass Sie hier gerade Walt Disneys Trickfilm «Dumbo» sehen, dann würden Sie am Verstand Ihres Gesprächspartners zweifeln. Aber genauso verhält es sich. Der britische Bildhauer und Fotograf Jason Shulman hat ganze Filme mit Langzeitbelichtung abfotografiert, so dass sich die zahllosen Einzelbilder, aus denen der Film besteht, in einer einzigen Aufnahme überlagern. Und was sich dabei aus «Dumbo» ergab, hat eine verblüffende Stimmigkeit: Ein Traum von rosaroten Elefanten ist in der 1941 entstandenen Produktion der glückliche Wendepunkt im Schicksal des Titelhelden. Das treuherzige Elefäntchen Dumbo, das seiner riesigen Ohren wegen ständig verspottet und gepiesackt wird, kann nach dem Traum fliegen und stiehlt im Zirkus allen die Schau.

Nur wenige von Jason Shulmans «Photographs of Films» lassen so viel Bildliches ahnen oder sogar sichtbar werden wie diese Kondensierung von Georges Méliès’ «Le Voyage dans la Lune». Der französische Filmpionier hatte die so skurrile wie phantastische Produktion 1902 geschaffen, hundert Jahre später entdeckte man gar eine vollständige handkolorierte Kopie des Films, die Shulman für seine Aufnahme verwendet hat. Die «Reise zum Mond» dauert insgesamt nur 16 Minuten, und die einzelnen Einstellungen sind relativ lang. Wer das Original kennt, wird unschwer Elemente aus manchen Szenen in der Fotografie erkennen.

Fürs Fernsehen war er ursprünglich geschaffen, 1973 kam er in die Kinos: «Duel», der älteste noch vollständig erhaltene Film von Steven Spielberg. Darin hetzt ein Mann, dessen Gesicht unsichtbar bleibt, in seinem wuchtigen Tanklaster so grund- wie gnadenlos einen roten Plymouth Valiant, dessen Fahrer nach anderthalb quälenden Stunden den Gegner in letzter Sekunde überlistet. Im Empfinden des Zuschauers scheint das im schmutzbraunen Laster kondensierte Böse das Geschehen fast konkurrenzlos zu dominieren; die reine Optik aber ergibt, wie Jason Shulmans Aufnahme zeigt, ein anderes Bild. In der Summe sich überlagernder Szenen sind Farbe und Kontur des gejagten Personenwagens ungleich präsenter als der gespenstische Gegner.

Müsste man Shulmans «Photographs of Films» selbst mit den passenden Titeln ergänzen, dann hätten Kinofans hier gute Chancen. In jeder der insgesamt 54 Aufnahmen der Serie ist mittels Langzeitbelichtung ein ganzer Film eingefangen, und oft präsentiert sich das Resultat nur mehr als wolkige, amorphe Farbkomposition. Die bildliche Summe von Stanley Kubricks «Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb» dagegen wirkt ungewöhnlich strukturiert: So erkennt man beispielsweise gleich mehrfach den kreisförmigen Beleuchtungskörper des ikonischen, von Ken Adam entworfenen «War Room»: Das ganze Rund liegt etwas unter der Bildmitte, angeschnittene Elemente finden sich am oberen Rand. Auch die mit Lichtern markierten Geraden, die im Film auf grossen Landkarten das Vordringen eines gen Russland entsandten Bombergeschwaders markieren, sind im Hintergrund auszumachen.

So bunt haben wir ihn in Erinnerung – George Dunnings Beatles-Trickfilm «Yellow Submarine» aus dem magischen Jahr 1968. Die Geschichte des von der bösen Sippe der «Blue Meanies» heimgesuchten und all seiner Farben beraubten Pepperland, das von den per U-Boot hergeführten Pilzköpfen befreit wird und in alter Pracht wiederersteht, war in einer zugleich markanten und verspielten Bildsprache gehalten. Von deren klar konturierten, monochromen Flächen ist in Jason Shulmans Aufnahme allerdings nichts mehr zu sehen: Indem er den ganzen Film mit einer einzigen Belichtung festhielt, verwandelte er die Story in einen puren Farbenrausch.

Eigentlich ist es hier schöner als in Alice' Wunderland, das Lewis Carrolls kleiner Heldin bekanntlich nicht nur angenehme Abenteuer beschert. Jason Shulman hat seiner Fotokamera die gesamte 1951 entstandene Trickfilm-Version von Walt Disney einverleibt; im Bild hat das lange Blondhaar des Mädchens eine deutliche Spur hinterlassen, darunter ahnt man Alice' blaues Kleid und das weisse Schürzchen. «Ein neunzigminütiger Film besteht aus etwa 130’000 Einzelbildern, und jedes einzelne dieser Bilder ist in meinen Fotografien enthalten», sagt Shulman. «Sie könnten diese Bilder nehmen und sie wie ein Kartenspiel mischen – und wie immer das herauskäme, am Ende hätten Sie stets dasselbe Bild wie ich. Jede dieser Fotografien ist der genetische Code eines Films – seine visuelle DNA.»

Bilder: Jason Shulman / Courtesy COB Gallery, London