Film

«Sparta»: Krankhaftes Begehren

Im zweiten Teil seines Brüder-Diptychons erzählt Ulrich Seidl von einem pädophilen Österreicher, der in Rumänien als Pseudo-Judolehrer Kontakt zu Jungs sucht. «Sparta» ist ein verstörendes Werk über ein krankhaftes Begehren.

Jens Balkenborg 4 min
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Georg Friedrich beeindruckt in seiner Rolle als pädophiler Judolehrer in «Sparta».

Georg Friedrich beeindruckt in seiner Rolle als pädophiler Judolehrer in «Sparta».

Die Begegnung mit einem Film von Ulrich Seidl war immer schon kompliziert. Kein Zurücklehnen und eskapistisches Fallenlassen, sondern vielmehr ein Abarbeiten: Kino als mal mehr, mal weniger produktiv verstörende Herausforderung. Der Österreicher erzählt dokumentarisch oder zwischen Fiktion und dokumentarischer Wahrheit changierend – ein Modus, der ihn bekannt gemacht hat. Einmal von Nazis, einem sadomasochistischen Ehepaar und weiteren, die ihren Obsessionen in ihren Kellern nachgehen («Im Keller»), ein andermal von einer 50-jährigen Sextouristin in Kenya («Paradies: Liebe», Teil 2 der «Paradies»-Trilogie).

Alles was Seidl tut, steht im Zeichen der für ihn essenziellen Authentizität und findet in einem Raum zwischen Voyeurismus und Humanismus statt. Oft ist die Rezeptionshaltung schwierig, in die Seidl die Kinogäste nötigt. Das gilt mehr denn je auch für «Sparta», sein neues Werk. Es ist die an reale Begebenheiten angelehnte Geschichte um einen österreichischen Pädophilen (Georg Friedrich), der sich in Rumänien als vermeintlicher Judolehrer Zugang zu Kindern verschafft.

Authentizität oder Voyeurismus: Bei Ulrich Seidl scheiden sich die Geister. Vor allem bei seinem neuen Film «Sparta».

Authentizität oder Voyeurismus: Bei Ulrich Seidl scheiden sich die Geister. Vor allem bei seinem neuen Film «Sparta».

Keystone

Der Film löste ein mediales Erdbeben aus, das Diskussionen um Produktionsethik, Machtstrukturen und Sicherheit an Filmsets nach sich zog. Auslöser war eine mehrmonatige Recherche des «Spiegels», in der Eltern einiger minderjähriger Laiendarsteller Seidl und sein Team beschuldigten, nicht ausreichend über das Filmthema Pädophilie informiert zu haben. Auch ging es um wenig kindgerechte Arbeitszeiten und um eine fehlende Sensibilität gegenüber den problematischen Lebensrealitäten der gecasteten Kinder.

Festivals sagten einer Aufführung von «Sparta» mal zu, mal ab. Seidl veröffentlichte eine Gegendarstellung zu den Vorwürfen, einige langjährige Kolleginnen und Kollegen aus seinem Team schlugen sich öffentlich auf die Seite des Regisseurs, andere wiederum zogen dessen Methoden in Zweifel. Fördertechnische Absolution erfuhr Seidl, als das Österreichische Filminstitut durch eine vom Verband Filmregie Österreich geforderte Prüfung zu dem Ergebnis kam, dass keine vertraglichen Pflichtverletzungen nachgewiesen werden konnten.

Was also zeigt dieser zweite Teil des Brüder-Diptychons, dessen erster Teil «Rimini» von dem abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo und seinen Diensten als Gigolo für ältere Damen in dem italienischen Urlaubsort handelt? «Sparta» zeigt Richies von Georg Friedrich zurückhaltend gespielten Bruder Ewald, der seine heimlichen Neigungen gegenüber Kindern in einem rumänischen Dorf auslebt, aber ohne jemals sexuell übergriffig zu werden.

Pseudomännliche Ideale: Ewalds Judoklasse.

Pseudomännliche Ideale: Ewalds Judoklasse.

Xenix

Ewald ist Sohn jenes Alt-Nazis (famos: Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle), der im Pflegeheim dement dahinvegetiert und zwischendurch alte Nazilieder singt. «Rimini» und «Sparta» berühren sich in diesen Szenen in dem Pflegeheim, um dann ihre je eigene Version kaputter Männlichkeit zu erzählen, deren Boden, das deuten beiden Filme an, eine faschistisch angehauchte Sozialisation bildet.

Wir beobachten Ewald bei seinem Weg hin zu den Kindern. Er verlässt eine rumänische Kellnerin, die ihm in Reizwäsche erfolglos Avancen macht und ihm vorwirft, jeden Tag müde zu sein. Lieber spielt der Mann mit dünner, hoher Stimme mit Kindern. In einer erinnerungswürdigen Szene mischt er bei einer Schneeballschlacht mit, um kurz darauf im Auto ob seines unerhörten Begehrens in Tränen auszubrechen.

In einem Kaff kauft er schliesslich eine alte Schule, in der er Judotraining für Jungs des sozial schwachen Ortes anbietet – kostenfrei. Ewald macht aus der Schule gemeinsam mit den Halbwüchsigen, die den ganzen Tag in Unterhose herumlaufen, eine Festung. Sparta heisst der umzäunte Ort, zu dem nur Zutritt bekommt, wer das Codewort kennt. Octavian (Octavian-Nicolae Cocis) ist Ewalds Objekt der Begierde, ein blasser, schmächtiger Junge, der unter seinem Alkoholikervater leidet. Ewald filmt die Kinder, lässt sie vor der Kamera posieren, um sich dann abends alleine die Fotos auf einem grossen Fernseher anzuschauen: Grossaufnahmen von nackten Oberkörpern und Badehosen.

Ewald (Georg Friedrich) kümmert sich im Pflegeheim um seinen Vater (Hans-Michael Rehberg), einen Alt-Nazi.

Ewald (Georg Friedrich) kümmert sich im Pflegeheim um seinen Vater (Hans-Michael Rehberg), einen Alt-Nazi.

Xenix

Schwierig ist die Rezeptionshaltung in «Sparta», weil Seidl die Zuschauer bis zu einem gewissen Grad mit dem Pädophilen sympathisieren lässt. Trotz den verstörenden Szenen vor dem Fernseher oder einer gemeinsamen Duschszene mit den Buben, bei der Ewald der einzige Nackte im Raum ist, erscheint der nicht unsympathische Mann als jemand, der die Jungs aus ihrem sozial schwierigen Alltag rettet. Er bietet der Dorfjugend wie ein krankhafter Rattenfänger von Hameln jene Liebe und Zuneigung, die sie durch die schwierigen Verhältnisse zu Hause nicht bekommen. Letzteres manifestiert sich personell in Octavians Vater, der mit seinen zweifelhaften, pseudomännlichen Idealen quasi der Spiegel zu Ewalds Vater ist. «Man muss ihnen beibringen, böse zu sein», sagt der Säufer, bevor er Octavians geliebten Hasen vor dessen Augen schlachten lässt.

«Sparta» ist ein verstörendes Werk über ein krankhaftes Begehren, nicht mehr und nicht weniger. Seidl sucht bewusst Ambivalenzen, um dadurch die Komplexität der Idee vom Finden einer Wahrheit darzustellen. Und das funktioniert mittels dieses tristen Modus, für den der Regisseur bekannt ist, extrem gut. Auch das Finale, das eine endlose Wiederholung des Geschehenen suggeriert, passt ins Bild dieser kinematografischen Irritation aus Fiktion und Dokumentation.

Nur: Trotz der erwähnten Absolution und des teils fragwürdigen Vorgehens des «Spiegels»: «Sparta» lässt sich kaum mehr frei von diesem Kontext betrachten. Dem Film ist die Machtungleichheit, die Seidl bereits in der Vergangenheit vorgeworfen wurde, qua Thema fest eingeschrieben. Es herrscht also einerseits eine audiovisuelle Transparenz, kompliziert bleibt es dennoch. Denn der Umgang mit dem sozialen Habitat, dem Seidl seinen Film aufpfropft, ist wenig sensibel. Siehe die plumpe Zeichnung der Väter als toxische Primaten, die Seidl von Laien spielen lässt, die in ebenjenen Verhältnissen leben.

Kino muss nicht gefällig sein, keine Frage. Aber die Frage, was auf Produktionsseite legitim ist für das Erreichen einer künstlerischen Vision, muss sich «Sparta» gefallen lassen. Besonders im Umgang mit Laien.

«Sparta» ★★★✩✩ A, D, F 2022, 101 Min. Regie: Ulrich Seidl. Mit: Georg Friedrich, Florentina Elena Pop, Hans-Michael Rehberg, Marius Ignat, Octavian-Nicolae Cocis u. a. Im Kino.