Komm her, Frühling, du alter Kitschbruder voll Schwulst und Blust!

Keine Jahreszeit wird lauter besungen und stärker herbeigesehnt. Die laufende Saison lässt Dichter ungelenk in Bildern und Metaphern stochern – und uns alle gutgläubig auf irgendetwas hoffen.

Urs Bühler
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Nicht nur Schwäne verführt der Frühling zu allerlei Imponiergehabe.

Nicht nur Schwäne verführt der Frühling zu allerlei Imponiergehabe.

Goran Basic / NZZ

Seinem Namen macht er heuer alle Ehre, nicht nur die Spatzen singen’s von den Dächern: «Ziwii, ziwii, zu früh, zu früh!» Doch einer wie der Frühling rechnet nicht. Schon Anfang Februar, Wochen vor seinem amtlich beglaubigten Beginn, hat er diesmal seine Fühler ausgestreckt – sekundiert von seinem alten Kumpan, dem Föhn.

Und nun ist Frühlings Entfachen schon im Gang, den frostigen Nächten zum Trotz: Wer in der Märzsonne durch die Strassen flaniert, fühlt sich mit Botenstoffen überhäuft. Da wird, nicht immer in behördlich auferlegter Distanz, gebalzt und scharwenzelt. Als gälte es in diesem Monat allein den Fortbestand der Spezies zu sichern, als hätten die Leute nicht bloss ein paar Monate Home-Office, sondern mehrjährige Haftstrafen hinter sich.

Bodensatz der Metaphern

Letzte Reste des Winters werden aus eingerosteten Gelenken geschüttelt, Schiffstaue gelöst und dafür zarte Bande geknüpft. Es grünt zwischen den Zweigen und im Geist. Oje, und schon stochern wir heillos im Bodensatz der Metaphern, die Anthologien abendländischer Dichtkunst unter diesem Kapitel versammeln: Der Frühling als Quell der Freude wirft sich Poeten oft zu stürmisch an die Brust. Da ist der Herbst, in dessen Moder man sich suhlen kann, derweil die fallenden Blätter die Melancholie im Alleingang befördern, ein unproblematischeres Motiv.

Preisen die Barden den Frühling, diesen Kitschbruder, wird’s mitunter schwülstiger, als wenn Troubadix bei den Galliern seine Harfe zückt. Es flattern blaue Bänder durch die Lüfte, Herzen pochen, Sprosse keimen, Keime spriessen, Knospen und Kelche tun sich auf. Hölderlin ortet Wonne und Entzücken, Goethe schalkhafte Veilchen, Rilke hundert Wunder. Auch der frühere Name der Jahreszeit, der seine Verwandtschaft mit dem Adjektiv «lang» den länger werdenden Tagen verdankte, kam den Dichtern ganz zupass: Auf «Lenz» findet sich einfacher ein Reim.

Dennoch hat sich die Bezeichnung «Frühling», die ursprünglich für ein in diesen Monaten geborenes Jungtier stand, seit dem Spätmittelalter durchgesetzt – unter gütiger Mithilfe Luthers und seiner Bibelübersetzung. Und wer es heutzutage als nicht gendergerecht geisselt, dass ein derart schwärmerisch positiv besetzter Begriff maskulinen Geschlechts ist, dem bietet die unerschöpfliche Weisheit der Sprache eine salomonisch-sächliche Lösung an: das Frühjahr.

Ein Glück ist allerdings, dass sich der deutlich ältere Name «Spätling» für den Antipoden im Jahreskreis, den Herbst, nicht gehalten hat. Andernfalls wäre uns womöglich auch das wunderbare Verb verloren gegangen, mit dem sich diese Saison anschleichen darf auf laubgepolsterten Sohlen: «Es herbstelt.» Hat jemand schon einmal gehört, es würde lenzeln? Der Frühling pirscht sich nicht heran. Peng ist er da, und die Natur liegt ihm zu Füssen. Die kleinkrämerische Seele des Winters ist ihm so fremd wie die Verschwendungssucht des legitimen Thronfolgers namens Sommer, unter dessen Regentschaft sich das Volk halbnackt und saturiert auf den Liegestühlen fläzt.

Ob allegro oder allegorisch

Ob man sich ihn mit Botticelli allegorisch oder mit Vivaldi allegro vorstellen möchte: So zahlreich die Gesichter des Frühlings sind, so hartnäckig hält sich durch die Jahrhunderte hindurch der Anspruch, er habe als Patron der Neuanfänge zu gelten. Nächste Woche ist es mit der Tagundnachtgleiche wieder so weit: Die Sonne wird den Frühlingspunkt erreichen, den fast orgiastisch anmutenden F-Punkt, und das sanfte Vibrieren zu einem Brummen und Summen anschwellen. Dann geht in diesem Land das Leben endlich wieder richtig los! Ach, jetzt tappen wir schon wieder in die gute alte Kitschfalle.