James Bond auf Speed flieht durch die halbe Welt: Das Buch von Juri Andruchowytsch ist ein aberwitziges und karnevalistisches Vergnügen

«Radio Nacht» hat der Ukrainer Juri Andruchowytsch noch vor dem Krieg verfasst. Der Zeitroman ist vieles in einem – raubeiniges Märchen und Exilerzählung, Flucht- und Liebesgeschichte.

Jörg Plath
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29.08.2022, Berlin - Deutschland. Juri Andruchowytsch, Schriftsteller. *** 29 08 2022, Berlin Germany Yuri Andrukhovych, writer

29.08.2022, Berlin - Deutschland. Juri Andruchowytsch, Schriftsteller. *** 29 08 2022, Berlin Germany Yuri Andrukhovych, writer

Imago

Die fernen Jahrhunderte, die sich der blühenden Phantasie wie unbestellte Felder darbieten, die bunte Schar von Gaunern, Kleinkriminellen, Spiessgesellen, Mördern und Schlagetots, die in seinen letzten Büchern über ebendiese Felder ziehen, ihrem Schicksal und noch einigem mehr entgegen – all dies hat Juri Andruchowytsch dieses Mal beiseitegelassen. Im Mittelpunkt seines neuen Romans, «Radio Nacht», steht ein einziger Mann, und die Erzählzeit ist – sieht man von einem kurzen Ausflug ins 15. Jahrhundert ab – die nahe Gegenwart mitsamt Aufstand und Tyrannenmord unter wiederholter Erwähnung von Russland als Tyrannenverbündetem.

Wer an die Orange Revolution der Ukraine 2004, den Maidan-Aufstand in Kiew 2014 und an den vom einstigen grossen Bruder seit Jahren im Osten des Landes geführten Krieg denken mag, liegt sicher nicht falsch. «Radio Nacht» ist im Original 2021 erschienen, also vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der wohl bekannteste ukrainische Schriftsteller hat einen Zeitroman geschrieben – als raubeiniges Märchen, als Abenteuer- und Exilerzählung, als Fluchtgeschichte, Liebesgeschichte und noch einiges mehr. Andruchowytsch wechselt alle zwei Seiten das Genrekleid und zupft alle drei energisch am erzählerischen Faltenwurf, auf dass sich keine Langeweile einstelle.

Virgilie und Virilie

Zuallererst ist «Radio Nacht» eine Virgilie in spätestromantischer Art: Josip Rotsky, in dessen Name nicht zufällig Josip Brodsky, Joseph Roth und auch Leo Trotzki anklingt, schwatzt als Night-Talker im Radio und legt Platten auf. Nach drei, vier Seiten wird der Nachtplauderer regelmässig von seinem Biografen abgelöst, der im Dienst des «Internationalen Interaktiven Biografischen Komitees» Rotskys Leben erforscht. Der rebellische Musiker blickt eher kurz zurück und lässt die Musik sprechen – der Biograf rekapituliert ausführlich, wie alles kam. Manchmal rückt ihm sein Objekt so nah, dass er vom «er» zum «ich» wechselt. Hoch lebe die internationale Interaktivität!

Die Virgilie gleicht aufs Haar einer Virilie, denn der Rockstar und ehemalige Pornodarsteller zweifelt an der Liebe und lässt nichts anbrennen. Für das zum Sex gehörige Crime ist der Herrscher des Landes zuständig, der «vorletzte Diktator Europas». Als sich Widerstand gegen ihn formiert, eilt Rotsky zu den Barrikaden und spielt für die Rebellion auf – auf den Klavieren, die in den Strassen herumstehen. Der Geheimdienst des Diktators verschont ihn erstaunlich lange. Nach dem Scheitern des Aufstands kommt Rotsky dem Diktator bei einem Konzert in der Schweiz nahe und befördert ihn durch eine eher beiläufige Handlung ins Jenseits. Für zwölf Monate stecken ihn die Schweizer ins Gefängnis.

Als Rotsky freikommt, setzt sich nicht nur eine «Liga der Unkrautvernichter der Nationalen Einheit» auf seine Spuren, sondern auch eine unfreundliche Organisation namens MOB. Denn Rotsky wurde im Gefängnis der Freund des eingelochten Finanzbetrügers Jeffrey Subbotnik, vor allem aber der Verwalter seines gewaltigen Vermögens. Auf der Liste der «Unkrautvernichter» mehren sich die letalen Häkchen hinter den Namen, und auch der MOB ist nicht faul, so dass der Musiker sein Exil, eine kleine karpatische Stadt namens Nashorn, aufgeben muss und actionreich um die halbe Welt flieht, einmal sogar ins 15. Jahrhundert – bis veritable Nashörner auftauchen und er zurück in die gefährliche Gegenwart flieht. Josip Rotsky ist ein östlicher James Bond auf Speed. Ein Bond-Girl hat sich auch an seiner Seite eingefunden, es hört auf den Namen Anime oder Anima, also Seele.

Playlist zum Roman

Spätestens an diesem Punkt, der in weniger als einer amüsanten Lektürestunde erreicht ist, muss jede seriöse Inhaltsangabe enden. Die heterogenen Handlungselemente, ach: die aberwitzigen Wendungen des Geschehens werden durch phantastische Schlenker und hanebüchene Motive miteinander verbunden, ausserdem durch die Liebe zum Bond-Girl, die den einstigen Pornodarsteller dann doch noch ereilt. Die Rockmusik und der Sex, der Schotter und die Liebe – «Radio Nacht» hebt die unverkennbar spätpubertären Züge seiner Hauptperson durch Beschleunigung und postmoderne Ironie auf ein sehr unterhaltsam karnevalistisches Niveau.

Wichtiger als Subtilität sind Andruchowytsch Tempo und seine Maskerade. Rotsky trägt auf der Schulter seinen einzigen Freund mit sich herum, den uralten Raben Nevermore. Neben Edgar Allan Poe sind Bertolt Brecht und Robert Walser mit von der Partie. Andruchowytsch lässt Rotsky in seitenlangen Listen möglichst absurde Vermutungen durchspielen und spaltet seine Hauptfigur immer wieder auf zu Paaren: Rotsky erhält einen Biografen; Rotsky und der Geheimdienstchef des Diktators haben einst gemeinsam die Musikschule besucht; Rotsky befreundet sich mit dem Finanzbetrüger Subbotnik; Rotsky begegnet in Anime einer ihm ebenbürtigen Liebesexpertin. Andruchowytsch erbaut einen Prosa-Irrgarten aus Spiegelbildern. Lassen Tempo und Maskerade einmal nach, droht das Buch ein wenig durchzuhängen.

Dann ist vielleicht die Zeit gekommen, sich vom QR-Code vorn im Buch zur Playlist des Romans auf Youtube führen zu lassen. Weil Rotsky die Musik der siebziger Jahre, also die der Jugend, für die beste hält, sind David Bowie, die Rolling Stones und Elton John auf ihr vertreten. Aber auch Paatos aus Schweden, Klaus Nomi aus Deutschland oder Karbido aus Polen. Meist klingt es schwermütig – die Trauer über das Schicksal des Heimatlandes, die auch die des Autors sein wird, lässt sich nicht hinwegschwurbeln.

Juri Andruchowytsch, seit seinen Anfängen in der Westukraine selbst ein Rockstar, der einst mit der Gruppe BuBaBu (Burleske-Balagan-Buffonada) grosse Hallen füllte, tritt seit mehr als zehn Jahren mit der polnischen Band Karbido auf. Auf Youtube findet sich mancher Konzertmitschnitt. Vorgeschaltet ist manchmal Werbung für eine militärische Drohne, deren formidable Qualitäten nun auch Privatleute nutzen können. Nicht unpassend für einen Autor, der auf den Angriffskrieg Russlands mit der Ankündigung reagierte, er würde notfalls als Partisan in den Wald gehen.

Juri Andruchowytsch: Radio Nacht. Roman. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022. 472 S., Fr. 36.90.

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