Die Neunkirchner Allee führt schnurgerade von Wiener Neustadt nach Neunkirchen – die 16 Kilometer wurden zur beliebten Rennstrecke für Motorräder. Und zum Schauplatz eines Mordes

Ob ihrer Monotonie war die Strasse ein ziemlich gefürchtetes Strassenstück. Und ab den frühen 1930er Jahren wurden auf der Neunkirchner Allee alljährlich sogenannte Kilometerrennen abgehalten.

Peter Payer 6 min
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Zwei Motorradfahrer machen an der Neunkirchner Allee eine Rast. Aufnahme von 1934.

Zwei Motorradfahrer machen an der Neunkirchner Allee eine Rast. Aufnahme von 1934.

Artur Fenzlau / Technisches Museum Wien

Strassen sprechen Einladungen aus, sie sind Verheissungen. Und manchmal führen sie ins scheinbar Unendliche. Dies vor allem, wenn sie schnurgerade verlaufen. Die weltweit unübertroffene Rekordstrecke in dieser Hinsicht ist die Autobahn Nr. 10 in Saudiarabien zwischen Haradh und der Grenzstadt al-Batha, 263 Kilometer lang. Auch in den USA oder in Australien gibt es prominente Highways, die sich durch das fast völlige Fehlen von Kurven auszeichnen; in Deutschland kennt man das Geduld fordernde Teilstück der A 6 zwischen Lorsch und Mannheim, in Italien den Corso Francia zwischen Turin und Rivoli.

Und auch in Österreich gibt es eine Strecke, deren sture Geradlinigkeit legendär und sogar weltberühmt geworden ist: die Neunkirchner Allee. Die sechzehn Kilometer lange Strasse südlich von Wien, zwischen Wiener Neustadt und Neunkirchen gelegen, hat ihren eigenen Reiz: keine Abwechslung, links und rechts das topfebene Steinfeld mit seinen endlos scheinenden Feldern und Föhrenwäldern. Ganz gleich, ob mit dem Fahrrad, dem Motorrad oder dem Auto, man kann fast nicht anders, als der Geschwindigkeit zu frönen. Hier geht es ums Kilometermachen. Dabei ist die geschichtsträchtige Strecke ursprünglich nicht einmal als Strasse konzipiert gewesen. Sie verdankt ihre Entstehung einem ganz anderen Zweck.

Am Beginn stand die österreichische Kaiserin Maria Theresia, die im Jahr 1759 erstmals eine vollständige Vermessung ihres Reiches in Auftrag gab. Genaues Kartenmaterial war bis dahin Mangelware, was sich nicht zuletzt aus militärischen Gründen als sehr nachteilig erwies. Joseph Liesganig, Jesuit und einer der führenden Mathematiker und Astronomen seiner Zeit, wurde mit der Aufgabe der Landesvermessung betraut, die er mittels Triangulation zu lösen gedachte. Wichtigste Voraussetzung dafür war eine exakt abgesteckte Basislinie, die Liesganig 1762 in Form der Wiener Neustädter Grundlinie schuf. Eine schnurgerade, ebene Schneise, deren Anfang und Ende er mit Vermessungspunkten markierte. Diese wurden später durch steinerne Denkmäler ersetzt und erinnern noch heute an die geodätische Pionierleistung der ersten Landesaufnahme.

Entlang dieser Vermessungslinie wurde in der Folge ein Verkehrsweg errichtet, als Teil einer Fernstrasse, die die Residenzstadt Wien Richtung Süden mit dem wichtigen Adriahafen in Triest verbinden sollte. Die Strasse wurde sukzessive ausgebaut, erhielt ab 1883 den Namen Triester Reichsstrasse und etablierte sich als eine der wichtigsten Verkehrsachsen der Monarchie. Das langgezogene Teilstück nach Wiener Neustadt erhielt schon bald die Bezeichnung Neunkirchner Allee.

Jagd nach dem Geschwindigkeitsrekord

Ob ihrer Monotonie war sie ein ziemlich gefürchtetes Strassenstück. Weshalb ein findiger Unternehmer namens Josef Schwartz dort zur Jahrhundertwende ein spezielles Schutzhaus errichtete, eine Radfahrer-Hilfsstation, die Bedürftige mit Verband- und Werkzeug, aber natürlich auch mit Erfrischungen und Speisen versorgte. Nach dem Ersten Weltkrieg begann das Geschäft so richtig zu florieren: Aus der bescheidenen Hütte entwickelte sich Ende der 1920er Jahre der geräumige Gasthof zum Neuwirtshaus; am Rand des Föhrenwaldes, direkt neben der Strasse gelegen, stellte er insbesondere für die immer zahlreicher werdenden Motorradfahrer eine beliebte Raststation dar, zumal man dort auch an einer der damals noch relativ raren Zapfsäulen tanken konnte.

Ende der 1920er Jahre baute Josef Schwartz seinen Gasthof zum Neuwirtshaus.

Ende der 1920er Jahre baute Josef Schwartz seinen Gasthof zum Neuwirtshaus.

Edition Winkler-Hermaden

Die Motorradfahrer waren es dann auch, die der Strecke zu Weltruf verhelfen sollten. Denn ab den frühen 1930er Jahren wurden in der Neunkirchner Allee alljährlich sogenannte «Kilometerrennen» abgehalten, bei denen die Jagd nach Geschwindigkeitsrekorden im Mittelpunkt stand. Das Publikumsinteresse war riesig, Zehntausende Zuschauer, viele davon aus Wien, kamen eigens angereist. Die Zeitungen berichteten ausführlich über das immer breiter und internationaler werdende Starterfeld, der Rundfunk übertrug live.

Schon 1930 gelang die erste Sensation: Der Belgier René Milhoux fuhr auf seiner Gillet-Maschine – erstmals in Österreich – über 200 Kilometer pro Stunde. Wobei in der Öffentlichkeit nicht nur die aussergewöhnliche Leistung begeisterte, auch die ausgezeichnete Basalteritwalzung der Strasse erfuhr gebührende Anerkennung. Ohne sie wäre ein solches Tempo unmöglich zu erreichen gewesen.

Zum Höhepunkt avancierte das Frühjahr 1931, als der Münchner Ernst Henne auf seinem BMW-Motorrad einen neuen Weltrekord (für Solomaschinen bis 1000 Kubikzentimeter) aufstellte: 238 Kilometer pro Stunde. Auch in der Beiwagenklasse triumphierte er und setzte mit 190 Kilometern pro Stunde ebenfalls eine neue Weltbestmarke. Henne war – neben seiner bewunderten Maschine – von seinem Outfit her eine singuläre Erscheinung: weisse Schutzkleidung, weisser, stromlinienförmiger Sturzhelm. Die «schnelle Henne», auch «Teufelsritter» genannt, wusste sich zu inszenieren.

Im Bild festgehalten wurden diese Rennen von den damals bekanntesten Sportfotografen Wiens: Albert Hilscher und Lothar Rübelt. Letzterer war bekannt dafür, selbst ein begeisterter Motorradfahrer zu sein. Als er einmal, wie viele andere, eine Ausfahrt von Wien auf den Semmering unternahm und dabei auf der Neunkirchner Allee dahinbrauste, frohlockte er in seiner Reportage: «Die Strasse ist sooooo schön!»

Ernst Henne bei seinem Rekordversuch. Henne war eine singuläre Erscheinung: weisse Schutzkleidung, weisser, stromlinienförmiger Sturzhelm. Man nannte ihn auch «schnelle Henne» oder «Teufelsritter».

Ernst Henne bei seinem Rekordversuch. Henne war eine singuläre Erscheinung: weisse Schutzkleidung, weisser, stromlinienförmiger Sturzhelm. Man nannte ihn auch «schnelle Henne» oder «Teufelsritter».

PD

Es war das Gefühl der Freiheit und der Entgrenzung, das sich hier bei so manchem einstellte. Die Enge der Grossstadt verlassend, konnte man nach Wiener Neustadt am Fluchtpunkt der langen Strasse schon die ersehnten Berge sehen. Fast ungehindert eilte man dem Ziel entgegen. «Mit hundert Kilometern durch die Neunkirchner Allee, dem Semmering entgegen, fort aus der dunstigen, heissen Stadt zu den nahen, schon sichtbaren grünen Bergen», schwärmte ein Zeitgenosse. Und ein anderer brüstete sich im Geschwindigkeitsrausch: «Auf der Neunkirchner Allee habe ich glatt alles gefressen, was vor mir war.»

Faszination und Gefahr

Doch es gab auch Kritik, und bei weitem nicht alle waren so euphorisch. Manche beklagten das «eigentümlich leere Gefühl», das sich während der Fahrt einstellte. Es fehlte die Herausforderung auf der Strecke, bis auf die Kilometersteine gab es so gut wie keine Abwechslung. Geradezu «endlos» und völlig «reizlos» erschien sie einem «Motorrad-Wanderer» im Mai 1932.

Natürlich wurden auch Radrennen auf der Neunkirchner Allee gefahren und Automobilwettfahrten, die ebenfalls viel Publikum anlockten. Nicht im Rennen, sondern eher im Alltagsverkehr kämpften viele Lenker der Kraftfahrzeuge mit einem ungewollten Erregungszustand. Im Sommer, wenn zur Monotonie noch Hitze und Wind hinzugekommen seien, habe sich bei fast jedem Chauffeur, so die bekannte Pädagogin und Feuilletonistin Eugenie Schwarzwald, der «Tropenkoller» eingestellt. Und derartige Emotionen, verbunden mit überhöhter Geschwindigkeit, waren es dann auch, die immer wieder folgenschwere Unfälle verursachten. Das Image der Langstrecke war also durchaus ambivalent. Faszination und Gefahr lagen dicht nebeneinander.

Das zeigte sich am 24. April 1937, als mitten in der Allee ein aufsehenerregendes Verbrechen verübt wurde. Ingrid Wiengreen, die 28-jährige Tochter des paraguayischen Gesandten in Wien, war spätabends Richtung Neunkirchen unterwegs. Sie fuhr allein in ihrem Auto, das plötzlich von einem Mann angehalten wurde, der die junge Frau bedrohte und nach heftigem Gerangel – gemeinsam mit einem Komplizen – mit mehreren Revolverschüssen ermordete. Die beiden Täter raubten den Handkoffer der Diplomatentochter und flohen in den angrenzenden Wald. Die tags darauf eingeleitete Grossfahndung war rasch erfolgreich; zwei arbeitslose Jugendliche wurden verhaftet, nach wenigen Wochen zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Der brutale Raubmord beherrschte wochenlang die Medienberichterstattung und machte auch international Furore. Die Prominenz des Opfers sicherte dem Fall weltweite Aufmerksamkeit. Wiengreen galt zudem als auffallend schöne Erscheinung; eine eher zurückhaltende Frau, sehr musikalisch und gerne in der Kunstszene verkehrend. Zu ihren Freunden gehörten der bekannte Schriftsteller Hans Sterneder und der bildende Künstler Karl Steiner, in ihrer Freizeit war sie eine leidenschaftliche Autofahrerin.

Ihr geheimnisvolles Privatleben, so manche Unstimmigkeit des Tathergangs und die letztlich sehr schnelle Verurteilung der Täter befeuerten noch lange die Gerüchte. Die «New York Times» mutmasste sogar, dass die beiden Männer aus politischen Motiven gehandelt hätten und möglicherweise Nationalsozialisten gewesen seien. Bis heute ist der «Mord in der Neunkirchner Allee», so die vielzitierte Schlagzeile, nicht restlos geklärt.

Am 24. April 1937 ist Ingrid Wiengreen, die 28-jährige Tochter des paraguayischen Gesandten in Wien, in der Neunkirchner Allee ermordet worden. Seite aus dem «Police-Magazine».

Am 24. April 1937 ist Ingrid Wiengreen, die 28-jährige Tochter des paraguayischen Gesandten in Wien, in der Neunkirchner Allee ermordet worden. Seite aus dem «Police-Magazine».

Pd

Viele Jahre nach dieser Tat, im Dezember 1946, wurde dort erneut ein Raubmord verübt, der verdeutlichte, dass ein nächtlicher Stopp auf dieser Strasse keine gute Idee war. Ihre dunkle Seite hatte sich einmal mehr offenbart.

Als offizielle Rennstrecke wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg nur mehr in Einzelfällen genutzt. Ihre Blütezeit war – obwohl sie mittlerweile asphaltiert, vierspurig und zu einem wichtigen Abschnitt der vielbefahrenen Bundesstrasse 17 aufgewertet war – endgültig vorbei. Illegale Wettrennen werden allerdings bis heute veranstaltet. Erst vor kurzem erwischte die Polizei einen Raser, der mit über 200 Kilometern pro Stunde unterwegs war. Die DNA der Strasse scheint nach wie vor lebendig zu sein und lässt sich mit rechtlichen Vorschriften nur bedingt einhegen. Auch Josef Schwartz’ Wirtshaus gibt es noch, aufgestiegen zum Hotel und gut frequentiert.

Peter Payer ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.