Tribunal und Geschichte

Der Anspruch des Haager Kriegsverbrechertribunals, in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens versöhnend zu wirken, ist kaum einlösbar. Das bestätigt nicht zuletzt der Blick zurück auf die Nürnberger-Prozesse. Aussichtsreicher wäre eine Investition in die Geschichtswissenschaften.

Andreas Ernst
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Der frühere serbische Präsident Milosevic 2002 vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. (Bild: AP)

Der frühere serbische Präsident Milosevic 2002 vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. (Bild: AP)

Damals in Nürnberg 1945 war es einfacher. Die Sieger sassen zu Gericht über die Verlierer und es ging um Sühne, nicht um Versöhnung. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse hatten einen andern Anspruch als das 1993 vom Uno-Sicherheitsrat ins Leben gerufene Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Dessen Ziele gehen weit über den Sühnecharakter Nürnbergs hinaus. Nicht nur soll es in Den Haag keine Siegerjustiz geben, es soll durch Rechtsprechung auch die Grundlage für die Aussöhnung zwischen den ehemaligen Feinden gelegt werden. Ohne Gerechtigkeit kein Friede, heisst einer der Leitsätze.

Vorbild Individualtherapie

Der Vergleich der beiden Gerichte zeigt aber auch Ähnlichkeiten. Genau besehen kennt auch Den Haag Elemente von Siegerjustiz. Aus Carla Del Pontes Memoiren wissen wir, dass sie als Anklägerin aus «pragmatischen Gründen» auf eine Untersuchung von Nato-Bombardierungen in Serbien verzichtete. Und dennoch gilt, was Tony Judt mit Blick auf Nürnberg sagte, auch für Den Haag: Hier finden echte Verfahren gegen echte Verbrecher statt. Gemeinsam ist beiden Gerichten auch der ideologische Überschuss, der Versuch volkspädagogisch zu wirken. «Re-education» hiess das Schlagwort in Deutschland und führte zur dokumentarischen Aufbereitung der Prozesse für Kinosäle und Schulzimmer. «Outreach» heisst das Programm des ICTY, womit die ex-jugoslawischen Gesellschaften von seiner friedensstiftenden Mission überzeugt werden sollen.

Zwanzig Jahre nach der Gründung ist es allerdings unübersehbar, dass Anspruch und Geltung des Haager Tribunals nirgends so stark auseinanderklaffen, wie wenn es um den gesellschaftlichen Einfluss in den betroffenen Ländern geht. Es hat die Gräben eher noch vertieft. Versöhnung geht von diesem Gericht nicht aus. Doch ist das überhaupt seine Aufgabe? Zumindest die Lehre von der «Transitional Justice» behauptet es. Es handelt sich dabei um eine angelsächsische Theorie, die gesellschaftlichen Wandel durch Rechtsverfahren nach traumatischen Gewalterfahrungen beschreibt. Gerichtsverhandlungen werden in dieser Perspektive zum «legal storytelling», die dank der Aufarbeitung des Geschehens zur Versöhnung beitragen. Es entstünden «Momente der Wahrheit», ja «soziale Dramen» im Gerichtssaal, die zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Reflexion und Versöhnung würden. Das Vorbild für solche Umdeutungs- und Lernprozesse scheint allerdings eher im individualtherapeutischen Bereich zu liegen (man denkt an Freuds «erinnern, wiederholen, durcharbeiten»), als in der historischen Erfahrung von Kriegsverbrecherprozessen.

Das Haager Tribunal jedenfalls hat an der Wahrnehmung der Kriege in den betroffenen Ländern kaum etwas verändert. Es wird von allen Parteien als politisches Gericht einer westlichen «Internationalen Gemeinschaft» betrachtet. Zur Illustration: In Serbien belegen Verurteilungen von Landsleuten die antiserbische Einstellung des Gerichts. Für Nichtserben beweisen dieselben Urteile die Kriegsschuld der Serben oder krasser deren «genozidalen Charakter». Wird ein Serbe dagegen freigesprochen, dann gilt das in seiner Heimat als Beweis der Willkürlichkeit anderer Schuldsprüche. Für Kroaten oder Kosovaren unterstreicht der Freispruch den politischen Charakter des Gerichts, das auf «ausgleichende», nicht auf wirkliche Gerechtigkeit aus ist. Kurz: An den grundlegenden, nationalen Deutungsmustern, am historischen Narrativ der Kriege hat das Tribunal nichts verändert.

Der Hang zur Selbstviktimisierung

Das ist kein Einzelfall. Auch die Nürnberger Prozesse lösten keine kritischen Selbstbefragungen in Deutschland aus, die zu einem gesellschaftlichen Lernprozess geführt hätten. Ganz im Gegenteil versteifte sich ein Grossteil der Öffentlichkeit darauf, die in den Prozessen angeblich zum Ausdruck kommende «Kollektivschuld» zu dementieren. Bis in die sechziger Jahre hinein dominierte ein Diskurs der Selbstviktimisierung, der in Österreich bis in die achtziger Jahre anhielt. Ähnlich wie man – versöhnungspraktisch durchaus vernünftig – in Ex-Jugoslawien bis heute «die Politiker» für Krieg und Nationalismus verantwortlich macht, waren es in Deutschland bis in die sechziger Jahre «die Nazis», oder einfach «Hitler», die den kleinen Mann zum Opfergang gezwungen hatten.

Das Potenzial der Archive

Der Historiker Norbert Frei sieht die Auschwitz-Prozesse (1962–1968) als erste «Wasserscheide». Es sind aber nicht die Prozesse selber, es ist der Wandel des gesellschaftlichen Umfelds entscheidend. Denn mit der – auch als Generationenkonflikt inszenierten – Umwertung gesellschaftlicher Werte in den sechziger Jahren wurden die im Prozess verhandelten Ereignisse neu wahrgenommen. Nun ging es plötzlich darum, die Vergangenheit zu «bewältigen» – wie der neue Begriff hiess. Den Anlass gaben «Skandale», deren Auslöser oft die fortgesetzten Karrieren der Funktionseliten aus der Zeit des Dritten Reiches waren. Was bisher als normal gegolten hatte, war anstössig geworden. Genau daran lässt sich der Wandel von Deutungsmustern und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel ablesen.

Auch in den den Nachfolgestaaten Jugoslawiens wird die Zeit kommen, da wichtige Teile der Gesellschaft sich mit den überkommenen Deutungen der Vergangenheit nicht mehr zufriedengeben werden. Dann kommt die Stunde, wo das ICTY zur Selbstaufklärung und Versöhnung der ehemaligen Gegner beitragen kann. Und zwar vor allem dank seinen riesigen Archiven. Dieser Rohstoff muss gehoben und zu historischem Wissen verdichtet werden. Ganz wichtig wird sein, ob diese Länder dannzumal über eine unparteiische, ideologieferne Geschichtswissenschaft verfügen. Der Lernprozess, der dann einsetzt, könnte von einer professionellen Historiografie enorm profitieren. Mit der Förderung der Geschichtswissenschaft im jugoslawischen Raum sollte allerdings jetzt schon begonnen werden. Es handelt sich dabei buchstäblich um eine Investition in die Zukunft.

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