Wer ist souverän – das Volk oder das Recht? Die Vordenker der amerikanischen Verfassung haben bei Cicero gelernt, was eine Republik ist

Die Verfassung steht über dem Gesetz. Aber auch die höchsten Normen sollten von der Zustimmung des Volks abhängen. Ohne das Vorbild des antiken Rom wäre die amerikanische Bundesverfassung von 1788 nicht denkbar.

Benjamin Straumann 7 Kommentare
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In der Independence Hall in Philadelphia wurde 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten unterzeichnet. Noch heute wird hier politisch agitiert.

In der Independence Hall in Philadelphia wurde 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten unterzeichnet. Noch heute wird hier politisch agitiert.

Bryan Bedder / Getty

Leopold von Ranke verlieh 1854 seiner Überzeugung Ausdruck, dass mit der amerikanischen Unabhängigkeit «eine neue Macht in die Welt» gekommen sei, nämlich die Theorie, «die Nation selbst müsse sich regieren». Dies war «eine grössere Revolution, als früher je eine in der Welt gewesen war».

Der spätere Gründervater und Vordenker der neuen politischen Ordnung, John Adams, hatte Rankes Befund bereits im Mai 1776 vorweggenommen. Adams stellte fest, dass die neue amerikanische Ordnung republikanisch sein müsse, insofern die einzige moralische Grundlage der Staatsgewalt die Zustimmung durch das Volk sein könne – der hellsichtige Adams warf allerdings unmittelbar darauf die Frage auf, in welchem Ausmass sich dieses Prinzip durchführen liesse.

Zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Erklärung der Unabhängigkeit hatten sich bereits mehrere englische Kolonien in Nordamerika schriftliche Verfassungen gegeben, ohne die Sanktion des Mutterlandes. Die ersten Verfassungen der baldigen Einzelstaaten wurden von den Provinzialkongressen in Gesetzesform erlassen. Dies liess die von Adams aufgeworfene Frage nach dem Ausmass der Volkssouveränität virulent werden: Sollten Verfassungsnormen nicht über normalen Gesetzen stehen, und sollten diese höchsten Normen nicht ihrerseits von der Zustimmung durch das Volk abhängen? Woher sollten die Verfassungsnormen kommen, wenn nicht aus dem Gesetzgebungsprozess?

Die Gewalt, die vom Volk ausgeht

Die Debatten um die Einzelstaatsverfassungen und dann erst recht um die neue Bundesverfassung 1787/88 machten klar, dass die Gründer der amerikanischen Republik Neuland betreten hatten. Der dadurch enorm gesteigerte Orientierungsbedarf wurde vornehmlich mit Geschichte gestillt, wobei insbesondere die Antike eine Schlüsselrolle spielte. Im Gegensatz zur heutigen Politikwissenschaft, die die heimelige Nachkriegsepoche ungern verlässt und dadurch stets Gefahr läuft, eine zu schmale «sample size» zu extrapolieren, machten die so empirisch gesinnten wie historisch und philosophisch gebildeten amerikanischen Gründerväter in ihrer Suche nach relevantem Vergleichsmaterial weder vor geografischen noch vor Epochengrenzen halt.

Diese historische Bildung kam ihnen insbesondere im Hinblick auf das von John Adams angesprochene Problem der Volkssouveränität gelegen. Wie liess sich das republikanische Postulat einer vom Volk ausgehenden Regierungsgewalt in institutionelle Formen giessen? Die neue Legislative musste angesichts der Grösse der amerikanischen Republik repräsentativ sein, das hatten die elitär gesinnten Gründerväter, denen die direkte Demokratie Athens unheimlich war, immer mit Nachdruck vertreten. Wie aber konnte man unter diesen Voraussetzungen dem Prinzip der Volkssouveränität gerecht werden?

Das grundsätzliche Problem war folgendes: Sollte die Verfassung ein verbindlicher Rechtstext werden, so sollte sie von einem legislativen Organ verabschiedet werden, wie dies bereits bei einigen der Einzelstaatsverfassungen geschehen war. Damit waren die Verfassungsnormen allerdings formal bloss Gesetze, die, wie im vormaligen englischen Mutterland, von der Legislative jederzeit wieder umgestossen werden konnten.

Wie lässt sich eine Regierung legitimieren? John Adams (1735–1826) orientierte sich bei der Arbeit an der amerikanischen Verfassung an Überlegungen, die der römische Politiker und Philosoph Cicero im 1. Jahrhundert v. Chr. angestellt hatte.

Wie lässt sich eine Regierung legitimieren? John Adams (1735–1826) orientierte sich bei der Arbeit an der amerikanischen Verfassung an Überlegungen, die der römische Politiker und Philosoph Cicero im 1. Jahrhundert v. Chr. angestellt hatte.

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Verfassung und Gesetz

Einige der Einzelstaatsverfassungen versuchten, dieses Problem zu lösen, indem sie die Verfassung von speziellen verfassungsgebenden Versammlungen entwerfen und ratifizieren liessen. Diese wurden nun als unmittelbarer Ausdruck der Volkssouveränität interpretiert – im Gegensatz zu den Legislativen, die bloss als indirekte Repräsentationen des souveränen Volks galten.

Dieser Kunstgriff erlaubte es, die Verfassung als Rechtstext anzusehen, der aber aufgrund seiner besseren Legitimation über der Gesetzgebung stand und damit von blossen Gesetzen differenziert werden konnte. Heute erscheinen uns dieses Herausheben der Verfassung aus dem Gesetzgebungsprozess und die gleichzeitige Privilegierung der Verfassung gegenüber normalen Gesetzen als alltäglich. Im späten 18. Jahrhundert hingegen gab es keine andere politische Ordnung, die eine Verfassung besass, die zugleich Rechtscharakter hatte und normalen Gesetzen übergeordnet war.

Erste Versuche, die Volkssouveränität dahingehend zu interpretieren, dass das Volk als konstituierende Gewalt eine Verfassung selbst ins Leben rief, waren in Vermont und Massachusetts in den 1770er Jahren gescheitert – und zwar aufgrund der offensichtlichen Schwierigkeit, die unzähligen Willensäusserungen der das Volk ausmachenden Individuen zu aggregieren. Dies hatte zur Einsicht geführt, dass die neuen Verfassungstexte zunächst in mehr oder weniger opaker Weise von eigens zu diesem Zweck geschaffenen Versammlungen ausformuliert werden mussten.

Cicero und die Republik

Bei dieser Ausformulierung stützten sich die Gründer auf Vorbilder, die ihnen sowohl normativ als auch empirisch gut begründet erschienen: Zentral waren Texte des griechischen Historikers Polybios, des römischen Politikers und Philosophen Cicero und des französischen Aufklärers Montesquieu. Als Konsequenz der Schwierigkeit, den Willen des souveränen Volkes zu ergründen, war die Souveränität des Volkes nun der Verfassungsfindung nachgeordnet; erst bei der Ratifizierungsdebatte kam das Volk wieder ins Spiel. Die Gewichte hatten sich verkehrt: Die Verfassung war nicht gut, weil das souveräne Volk zustimmte, sondern die Zustimmung erfolgte, weil die Verfassung gut war.

Polybios, gemäss dem Historiker Arnaldo Momigliano «einer der Verfassungsväter der USA», wurde auf dem Konvent in Philadelphia mit seiner Beschreibung der antiken föderativen Staaten angeführt sowie mit seiner Analyse der «checks and balances» der römischen Republik. Montesquieu, der sich selbst stark auf Polybios und Cicero stützte, war bekanntlich zentral für die Idee der gegenseitigen Gewaltenhemmung. Im berühmtesten Kapitel seines Werks «Vom Geist der Gesetze» (1748), demjenigen zur Verfassung Englands, exemplifiziert Montesquieu die Gewaltenteilung allerdings häufig mit Beispielen, die er gerade nicht England, sondern der römischen Republik entnimmt.

Am zentralsten hinsichtlich seiner Bedeutung für die amerikanische Bundesverfassung ist aber vermutlich Cicero. In seinem Hauptwerk, «A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America» (1787), hat John Adams Cicero über viele Seiten hinweg im lateinischen Original zitiert. Adams stellte nicht nur die einflussreichste Theorie des neuen Konstitutionalismus zur Verfügung, sondern war auch für die Verfassung von Massachusetts verantwortlich, die wiederum die Vorlage für die US-Bundesverfassung lieferte. Bei seinem Versuch, den republikanischen Charakter der neuen politischen Ordnung zu bestimmen, stützte Adams sich wesentlich auf Ciceros Begriff der Republik.

Ciceros Schrift «Über den Staat» war eine der wichtigsten Quellen der modernen Staatstheorie: Porträt von Justus von Gent im Palazzo Ducale in Urbino (15. Jahrhundert).

Ciceros Schrift «Über den Staat» war eine der wichtigsten Quellen der modernen Staatstheorie: Porträt von Justus von Gent im Palazzo Ducale in Urbino (15. Jahrhundert).

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Der Einfluss der Eliten

Cicero hatte das Recht zur notwendigen Bedingung jeglicher Staatlichkeit erhoben. Die Zustimmung des Volks zum Recht war für ihn keine Bedingung, sondern die Folge der Gerechtigkeit der Rechtsordnung. Volkssouveränität setzte also eine minimale Verfassungsrechtsordnung immer bereits voraus. Wurde diese Ordnung nun zum Spielball von Gesetzesrecht, dann war der Staat in Gefahr – so Ciceros Diagnose für den von ihm miterlebten Zerfall der römischen Republik im ersten vorchristlichen Jahrhundert. Für die amerikanischen Verfassungsgeber war Cicero zentral, weil er eine befriedigende Interpretation der Volkssouveränität in Aussicht stellte.

Adams hat Polybios und Cicero auch zur Verteidigung des Zweikammersystems in Anschlag gebracht: Dieses verlangsame die Gesetzgebung und entziehe sie damit dem zerstörerischen Effekt kurzfristiger Leidenschaften. Diese Einsicht, die 1848 auch auf den Schweizer Bundesstaat angewandt wurde, war dem Studium der Krise der römischen Republik geschuldet und versuchte, Krisen und Revolutionen gleichsam in die politische Ordnung einzubauen und ihnen damit die Sprengkraft zu nehmen.

Bei Adams kam die Angst vor Oligarchie hinzu, die heute prophetisch anmutet. Adams äusserte sich erfrischend sarkastisch zu meritokratischen Ansprüchen und witterte bei der Rede von Meritokratie einen reinen Euphemismus: Wer sind die Besten, Verdienstvollsten?, fragte Adams rhetorisch, um zu antworten: «Philosophy may answer ‹The Wise and Good›. But . . . Mankind, have by their practice always answered, ‹the rich, the beautiful and well born›. And Philosophers themselves in marrying their Children prefer the rich, the handsome and the well descended to the wise and good.» Das Zweikammersystem verstand Adams als Mittel, den korrumpierenden Einfluss einer Geldelite zumindest einzuhegen.

Wer ist souverän?

Es lässt sich festhalten, dass die Privilegierung der Verfassung faktisch zu einer Schwächung der Volkssouveränität führte, die in der relativen Starrheit der amerikanischen Verfassung Ausdruck findet. Diese Starrheit weckte bereits früh den Verdacht, in den USA sei nicht das Volk, sondern die Verfassung selbst souverän. Schon bald wurde dies als undemokratisch gerügt, und bis heute versuchen populistische Bewegungen, unter Umgehung verfassungsrechtlicher Petitessen, den Ort einer souveränen konstituierenden Gewalt zu usurpieren.

Worin liegt nun die Bedeutung der Antike für die Verfassung der Vereinigten Staaten? Die 1788 in Kraft getretene Bundesverfassung stellte mit ihrem republikanischen, föderativen Konstitutionalismus ein Novum dar, ein Novum allerdings, das aus antiken Stimmen entwickelt worden war. Die Bedeutung der Antike liegt paradoxerweise in einem Scheitern: im Scheitern des römischen Experiments mit einer grossflächigen Republik.

Der Kollaps der Republik und die Errichtung der Militärmonarchie des Kaiserreichs waren den Architekten der US-Verfassung nur allzu bewusst und schwingen als Oberton in den seither geführten Debatten immer mit. Dabei ist zu bedenken, dass sämtliche republikanischen Ordnungen laufende Experimente darstellen, in deren Erbgut die Furcht vor dem Umschlag in die Alleinherrschaft immer enthalten ist. An der korrekten Diagnose des Kollapses der römischen Republik hängt der Erfolg von Republiken bis heute.

Benjamin Straumann ist ERC-Professor an der Universität Zürich und Forschungsprofessor an der New York University. Er ist der Autor von «Crisis and Constitutionalism: Roman Political Thought from the Republic to the Age of Revolution» (Oxford University Press, 2016).

7 Kommentare
Pedro Reiser

"Wer ist souverän – das Volk oder das Recht?" Das ist eine absurde Frage. Das Recht gibt es ja nicht im luftleeren Raum. Es entsteht erst, wenn Menschen es formulieren und es in einer Demokratie durch das Volk genehmigen lassen. Erst dann entsteht Recht, d.h. Verfassung, Gesetze, Verordnungen, etc. Souverän ist wer Recht kreieren und in letzter Instanz genehmigen kann: das Volk.

Werner Moser

Besten Dank für diese historischen Hinweise in Bezug auf die Ursprünge der amerikanischen Bundesverfassung. Wobei es nicht zu vergessen gilt, wie ebenso entscheiden wichtig die Magna Charta (Grosse Urkunde, England 1215, und alles weitere danach) ist. Ohne welche die Schaffung der US-Verfassung kaum so möglich gewesen wäre. Wobei das Vorbild des antiken Roms auch für für diese besagte "Magna Charta" seine Wichtigkeit gehabt haben dürfte. Sie gilt als die wichtigste Quelle des englischen Verfassungsrechts. Und auch des US-Verfassungsrechts.