«Wir werden auf Jahrzehnte hinaus für die heutige Political Correctness bezahlen»

Traditionen, Denkverbote, Konformismus – darum schert sich Vitaly Malkin kaum. Wo der russische Philanthrop Aberglaube ahnt, greift er unsanft zur Laterne. Daneben liest er Nietzsche, glaubt an Treue und schwärmt für Tinder.

Milosz Matuschek
Drucken
Frei ist, wer sich von seinen Illusionen löst – und für eine solche hält Vitaly Malkin neben Religionen auch viele Traditionen und Denkgewohnheiten. (Bild: Tony Gentile / Reuters)

Frei ist, wer sich von seinen Illusionen löst – und für eine solche hält Vitaly Malkin neben Religionen auch viele Traditionen und Denkgewohnheiten. (Bild: Tony Gentile / Reuters)

Sie haben eine Botschaft für Europa: Denkt! Vergesst Religionen! Aber sind die Menschen im Westen nicht längst areligiös und konsumistisch orientiert?

Vitaly Malkin: Europäer stehen immer noch unter dem Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition, auch wenn sie es sich oft nicht eingestehen wollen. Falsche Hoffnungen auf totale Gleichheit, Scham für Reichtum, Gefühle von Schuld und Sünde, Political Correctness. Und die Situation verschlimmert sich. Religionen sind heute bestimmt präsenter als vor zehn Jahren, nicht nur in Osteuropa. Wir müssen heute für eine säkulare Zukunft kämpfen, so wie es andere vor 300 Jahren zur Zeit der Aufklärung taten. Nicht für uns, sondern für zukünftige Generationen. Mein Buch sehe ich als eine Präventivmassnahme, als Rüstung für die Zukunft. Die Menschen sollen wissen, was sie erwartet.

Der russische Unternehmer und Philanthrop Vitaly Malkin. (Bild: PD)

Der russische Unternehmer und Philanthrop Vitaly Malkin. (Bild: PD)

Sie kritisieren die Lustfeindlichkeit der Religion, die exzessive Regulierung des Sexualtriebs. Was sagen Sie zu den neuesten Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche?

Schafft den unseligen Zölibat ab! Priester sind normale Menschen und können unter den Umständen des Zölibats keine bleiben. Ich will nicht Personen anklagen, sondern die Kirche als Organisation. Ich bin sicher, dass Pädophilie in der Kirche seit dem Mittelalter immer existiert hat, aber das Thema totgeschwiegen wurde. Niemand wollte sein Leben riskieren. Jetzt, wo die Kirche schwächer wird, kommt das Thema leichter ans Tageslicht. Vor einigen Jahren schon habe ich vorhergesehen, dass Pädophilie-Fälle in Südamerika, wo die Kirche traditionell stark war, ans Licht kommen würden. Jetzt ist es früher passiert als gedacht, wie man am Skandal in Chile sehen kann.

Nietzsche sagte: Gott ist tot. Aber der Mensch scheint sich immer neue Autoritäten zu suchen. Der Historiker Yuval Noah Harari sieht den «Dataismus» als neue Religion. Allwissende Algorithmen ersetzen Gott.

Nietzsche meinte nicht Gott allgemein, sondern den christlichen, abrahamitischen Gott – er respektierte heidnische Religionen. Insofern Dataismus – warum nicht? Dataismus ist immer noch besser als ein Big-Brother-Gott oder ein Unterwerfungs-Gott.

«Political Correctness. . . Dabei denke ich an folgendes Bild: Sie haben etwas zu sagen – aber ihr Mund ist zugenäht.»

Aber Nietzsche meinte doch auch: «Demjenigen wird befohlen, der sich nicht selbst gehorchen kann.» Brauchen Menschen Unterwerfung unter etwas «Grösseres», weil sie ohne Illusionen nicht leben können?

Starke Menschen können ohne Illusionen leben. Nietzsches Philosophie ist ja zutiefst individualistisch. Er geht davon aus, dass die Menschheit aufgeteilt ist in starke, natürliche Führungspersönlichkeiten einerseits und eine konformistische Herde andererseits, die nicht ohne die Meinung anderer leben kann bzw. ohne die Manipulation durch die Elite. Der Weg heraus ist natürlich immer schwer. Die Loslösung von der Illusion der Religion kann helfen, auch andere Illusionen loszuwerden. Das ist der Weg zur Freiheit. Einige Traditionen sind rückständig und schädlich, man muss alte Zöpfe abschneiden. Und die Welt verändert sich in rasantem Tempo, Technologie, künstliche Intelligenz – da wird einem schwindelig! Ich verstehe ja, wenn Menschen in der Not anfangen zu beten, auch wenn es pure Zeitverschwendung ist. Aber ersetzen wir das doch besser durch menschliche Empathie und Wohltätigkeit.

Sie kämpfen gegen Beschneidung, insbesondere gegen diejenige von Frauen in Äthiopien, mit einer eigenen Stiftung. Was sagen Sie dazu, dass die Knabenbeschneidung fast überall auf der Welt legal ist?

Legal? Na und! Tradition? Na und! Bis vor kurzem hatten wir viele Traditionen, die heute nicht mehr akzeptabel sind: das Zusammenbinden der Füsse, Kinderehen. Viele Traditionen sind gesundheitsschädlich. Der Beschneidung widme ich mein nächstes Buch, es ist ein Thema mit gewaltigen Dimensionen. Für den Moment konzentriere ich mich in meiner Arbeit auf den Kampf gegen die weibliche Beschneidung, also das Ausschaben der Vagina mit anschliessendem Zusammennähen der Wunde. Eine fürchterliche Tradition!

Es gibt ja viele Chimären. Im Moment sind der Autoritarismus und der Tribalismus wieder im Aufschwung. Was denken Sie über Political Correctness, die Genderdebatte und #MeToo?

Political Correctness . . . Dabei denke ich an folgendes Bild: Stellen Sie sich vor, Sie haben etwas zu sagen, aber Ihr Mund ist zugenäht. Und nicht nur Ihr Mund, sondern der Mund der Gesellschaft. Traurig. Und sehr gefährlich: Wenn der Mund vernäht ist, nimmt die Gehirntätigkeit ab, und man geht als intellektuelles Wesen, ja als Mensch schlechthin, ein. Political Correctness ist eine Verunglimpfung des Menschen.

Sie übertreiben.

Keineswegs. Und die Genderdiskussion, nun ja: Ich bin ein grosser Verfechter der Gleichheit der Geschlechter. Nicht aus einem wackeligen Moralismus heraus – ich denke, dass Frauen so stark sind wie Männer, wenn nicht stärker. Ich plane ein Buch mit dem Titel «Die Frau – die Überfrau». Leider gibt es viel Fake-News in diesem Bereich, besonders bei #MeToo. Sicher, wir müssen an Wahrnehmbarkeit, Sichtbarkeit und Unterstützung für betroffene Frauen arbeiten, aber am Ende findet sich die Antwort auf richtiges oder falsches Verhalten im Strafgesetzbuch.

Sie glauben nicht an Treue zwischen Mann und Frau, sind kein Freund der Monogamie. Gefällt Ihnen also die Banalisierung und Verflachung der Sexualität, die heute auf allen Kanälen zelebriert wird?

Falsch. Ich glaube an Treue zwischen Mann und Frau, an romantische Liebe ebenfalls. Aber ich glaube nicht, dass Treueschwüre wie «bis dass der Tod euch scheidet» etwas bringen – das bleibt für die meisten von uns eine Märchenerzählung, ein schönes, kurzfristiges Phänomen. Und das ist doch wunderbar so! Was gibt es Besseres, als die romantische Liebe im Leben drei, vier oder fünf Mal aufs Neue zu erleben? Wahre Liebe rechtfertigt Monogamie, nichts weiter. Nur dann ist es gesund und natürlich, weil man eben niemand weiteren braucht. Doch wenn die Liebe schwindet, aber der Treueschwur bleibt, wird es selbstzerstörerisch. Erzwungene Monogamie ohne Liebe tötet die Seele und das Selbstbewusstsein, sie macht uns zu Heuchlern. Also, denkt mal nach vor euren Hochzeitszeremonien, gebt keine utopischen Versprechen ab, die ihr nicht erfüllen könnt. Ihr werdet später leiden und letztlich für eure Worte gewaltig draufzahlen.

Was halten Sie vom trendigen Tinder-Hopping?

Ich bin mir sicher, dass Tinder nichts mit der sonstigen täglichen Promiskuität zu tun hat. Ich erinnere mich gut an mein Leben in der Sowjetunion, man kann sich kaum ein promiskuöseres Treiben vorstellen als damals . . . Ganz ohne Tinder und die verbreitete Promiskuität von heute. Ich sehe Tinder nicht als Tragödie, sondern als ein modernes Kommunikationsmedium zwischen den Geschlechtern. Und Verflachung der Sexualität – na ja, was ist so schlecht daran? Es ist ein natürliches Bedürfnis, wie essen, trinken, aufs Klo gehen. Nichts besonderes. Aber gut für die Gesundheit, vor allem von älteren Männern, sie leben dadurch gesünder, machen mehr Sport, haben ein reicheres Sozialleben und leben sieben bis neun Jahre länger, habe ich gehört.

In dieser Zeitung wurde vor kurzem betrauert, dass Intellektuelle sich immer weniger ein wildes Denken zutrauen, ja eine Art Intellektuellendämmerung ausgebrochen ist. Ihr Buch will ja eine Art Sprengsatz sein. Sind westliche Intellektuelle also Feiglinge?

Ja, sie sind ängstlich, und wir werden auf Jahrzehnte hinaus für die heutige Political Correctness bezahlen. Lesen Sie mal Texte von vor 40 oder 50 Jahren. Sie sind völlig anders! In dieser schrecklichen Periode will ich einen guten Teil der Vergangenheit wiederherstellen: Nennt weiss weiss und schwarz schwarz! Die Selbstzensur verkümmert das Gehirn und sorgt für schwache zukünftige Generationen! Glücklicherweise sind die Leute dieser Verzwergung des Denkens langsam überdrüssig, eine neue Generation von Denkern taucht auf, die direkter, offener und ehrlicher sind. Es lebe das «franc parler»!

Vitaly Malkin, geboren 1952, ist ein russischer Philosoph, Unternehmer und Philanthrop. Mit der von ihm gegründeten «Fondation Espoir» hilft er vor allem Frauen in Äthiopien, die Opfer von Genitalverstümmelung wurden. Malkin begann seine Karriere als Physiker und wurde nach dem Fall der Sowjetunion Bankier und schliesslich Senator der Region Burjatien (2004–2013). Eben ist sein Buch «Gefährliche Illusionen: Denkt! Für die Vernunft in unvernünftigen Zeiten» erschienen (Wolff-Verlag, 2018).

Weitere Themen