Die Portugiesin Catarina Coelho will in der Schweiz als Zimmermädchen arbeiten. Hier verlernt sie, arm zu sein

Die Portugiesin Catarina Coelho will in der Schweiz als Zimmermädchen arbeiten. Hier verlernt sie, arm zu sein

NZZ-Folio-Serie «Einwandern» Teil 5: Ein Paar verlässt die Azoren, weil die Inseln zu klein für Träume seien. Kann man sein altes Leben für immer hinter sich lassen?

Barbara Klingbacher (Text), Beat Schweizer (Bilder) 12 min
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Für Catarina Coelho macht die Tankfüllung den Unterschied aus. In Portugal, sagt sie, habe sie jeweils Benzin für zehn Euro ins Auto gefüllt. Sie fuhr so lange, bis der Zeiger bedrohlich weit im roten Bereich stand, und tankte dann erneut für zehn Euro auf – falls sie die zehn Euro hatte. Falls nicht, beherrschte das Benzin ihre Gedanken. Sollte sie den Wagen an diesem Tag noch benutzen? Oder war die Fahrt am nächsten Tag wichtiger? Und: Würde der allerletzte Rest noch bis zur Tankstelle reichen, wenn wieder Geld da war? In der Schweiz macht Catarina den Tank voll. «Immer», sagt sie. «Sogar wenn er erst zu einem Viertel leer ist, schauen wir uns an und sagen: Lass uns volltanken gehen.»

Catarina, 33, lebt seit März 2022 mit ihrem Freund Daniel Casquinha, 35, in einer Art Bilderbuchschweiz. Die Aussicht von ihrem Sitzplatz auf der Rigi reicht über blühende Wiesen und Tannenwipfel, spannt sich weiter über den Vierwaldstättersee und endet an einer Bergkette. Drinnen in der Wohnung haften die Erinnerungen aus den vergangenen 14 Monaten an zwei Metalltafeln. Es sind bunte Souvenir-Magnete mit Schriftzügen aus «Firenze» und «Tossa de Mar», aus «Roma», «Venezia», und dem «Disneyland Paris». Sie hätten in diesem Jahr ein unglaubliches Leben geführt, sagt Daniel. «Ein Leben, wie wir es zuvor nicht kannten.»

Catarinas neues Leben lässt sich anhand von Bildern verfolgen, so wie das ihre 697 und Daniels 1098 Follower auf Instagram tun. Es beginnt im März 2022 mit einem Foto vor verschneiten Gipfeln, darunter sind ein Herz und eine Schweizer Flagge gepostet. Catarina trägt schwarze Kleider, weisse Turnschuhe und über der Schulter eine Tasche. Sie würde auf dem Bild problemlos als Reise-Influencerin durchgehen, aber das ist sie nicht. Sie ist ein zukünftiges Zimmermädchen im Hotel Rigi Kaltbad. Und sie ist eine von knapp 10000 Portugiesinnen und Portugiesen, die 2022 in die Schweiz einwanderten.

Catarina und Daniel leben im Personalhaus ihres Arbeitgebers, einem ehemaligen Gasthof in Rigi First.

Catarina und Daniel leben im Personalhaus ihres Arbeitgebers, einem ehemaligen Gasthof in Rigi First.

Portugiesen gelten hierzulande als beliebte Migranten, als fleissig und bescheiden. Viele arbeiten im Niedriglohnsektor, auf dem Bau, in der Reinigungsbranche oder in der Gastronomie. Hinter den Italienern und den Deutschen bilden sie die drittgrösste ausländische Bevölkerungsgruppe.

Allerdings nimmt die Zahl der Portugiesen in der Schweiz ab; seit 2017 wandern mehr von ihnen aus als ein. Portugiesen würden im Vergleich zu anderen Migranten eine ausgeprägte «Rückkehrneigung» aufweisen, stellte vor einigen Jahren eine Studie fest: Drei von vier sähen ihren Aufenthalt als vorübergehend an. Sie strebten mit der Auswanderung zwar einen sozialen Aufstieg an, aber nicht in der Schweiz, sondern in Portugal, wo sie ihr Geld oft in ein Haus investierten. Anders gesagt: viele Portugiesen suchen hier keine neue Heimat. Sie sparen auf ein besseres Leben in der alten.

Auf ihrem Sitzplatz ziehen Catarina und Daniel Kräuter zum Kochen.

Auf ihrem Sitzplatz ziehen Catarina und Daniel Kräuter zum Kochen.

Catarina aber gehört einer neuen Generation an. Sie will das bessere Leben nicht später, sondern jetzt. Bei ihrer Ankunft im März 2022 hat Catarina einen grossen und einen kleinen Koffer dabei, gefüllt mit Sommerkleidern, die nicht warm genug sind für ihren neuen Wohnort auf 1433 Metern über Meer. Auf den Azoren, einer portugiesischen Inselgruppe mitten im Atlantischen Ozean, sinkt die Temperatur selbst in Winternächten selten unter 10 Grad.

Catarina hat kein einziges Erinnerungsstück aus ihrem alten Zuhause mitgebracht, nur die Familienfotos, die auf dem Handy gespeichert sind. Das hat sie bewusst so gemacht. Denn in Portugal heisst es, ein Mensch könne zwar auswandern, aber sein Herz bleibe immer zurück. Es gibt sogar ein eigenes Wort für dieses Gefühl: saudade, eine Mischung aus Sehnsucht, Heimweh, Nostalgie und Traurigkeit. «Aber ich glaube nicht daran», sagt Catarina. Man könne sich auch dafür entscheiden, sein Herz mitzunehmen. In ihrem Gepäck steckt deshalb nur ein einziges gerahmtes Bild. Darauf sind sie und Daniel zu sehen.

Mit 30 Jahren erst einmal im Ausland

Die beiden sind ein schönes Paar, wie gemacht für Instagram. Daniel arbeitet bereits seit 2021 als Barkeeper im Hotel Rigi Kaltbad. Er hat Catarina die Stelle als Zimmermädchen besorgt und auch die gemeinsame Unterkunft im Personalhaus seines Arbeitgebers. Das ehemalige Gasthaus liegt in Rigi First, was auf dem autofreien Berg einen viertelstündigen Spaziergang von der Station und vom Hotel Rigi Kaltbad bedeutet. Vor Catarinas Ankunft wohnte Daniel eine Zeitlang in einem der Personalzimmer mit Gemeinschaftsküche, danach wechselte er in ein kleines Studio, nun hat er die einzige Wohnung im Haus ergattert: 610 Franken für zwei Zimmer mit Küche, Bad, Sitzplatz und einer Aussicht, die unbezahlbar ist.

Weil die Rigi autofrei ist, ist die Wohnung von Catarina und Daniel nur zu Fuss zu erreichen.

Weil die Rigi autofrei ist, ist die Wohnung von Catarina und Daniel nur zu Fuss zu erreichen.

Catarina verlässt die Azoren aus zwei Gründen. Aus Liebe zu Daniel und weil die Inseln zu klein für Träume seien. Dabei sind ihre Träume bescheiden, jedenfalls aus Schweizer Sicht. Ein wenig Geld auf dem Konto haben, als Sicherheit. Hin und wieder in einem Restaurant essen und dort nicht immer das billigste Gericht bestellen müssen. Nie mehr über Benzin nachdenken. Und etwas von der Welt sehen. Bis zu ihrem 30. Geburtstag war Catarina nur ein einziges Mal im Ausland, vier Tage in Amsterdam.

Sie hatte schon länger übers Weggehen nachgedacht, aber nie an die Schweiz als Ziel. Die Azoren sind eine arme Region, es gibt wenig Arbeit, und wer einen Job hat, verdient im Schnitt unter 1000 Euro im Monat. Die meisten jungen Menschen verlassen die Inseln, um auf dem portugiesischen Festland zu arbeiten oder in Spanien oder Kanada, das fast gleich weit entfernt liegt wie die Küste Portugals. Auch Catarina, die sich auf den Azoren als Kinderbetreuerin und Security-Mitarbeiterin durchschlug, wollte eigentlich dorthin, weil sie ein wenig Englisch spricht und eine Freundin von ihr in Kanada lebt. Doch dann trat Daniel in ihr Leben und mit ihm die Schweiz.

400 Bewerbungen, 2 Zusagen

Daniel ist in der Nähe von Lissabon geboren, er hat einst Design studiert und danach viele Jahre in der Gastronomie gearbeitet, zuletzt in einer Bar auf den Azoren. Dort lernte er Catarina kennen, und die beiden befreundeten sich.

Früher stellte Daniel sich seine Zukunft wie die Portugiesen in der Studie vor. Er wollte ins Ausland gehen, viel Geld verdienen, wenig Geld ausgeben und möglichst bald ein Haus in Portugal kaufen. Kurz vor der Pandemie ging er das Projekt Auswandern dann systematisch an. Er verglich die Stellenangebote, die Löhne und die Lebenshaltungskosten in Deutschland, Dubai und der Schweiz. Die Schweiz kannte er, weil eine Tante von ihm in Montreux lebt. Die Berge, die Seen, die Natur hatten ihm immer gefallen, und nun überzeugte ihn auch das Lohnniveau.

In ihrer Freizeit unternehmen Catarina und Daniel regelmässig Ausflüge, zum Beispiel nach Montreux ins Restaurant 45 im Grand Hotel Suisse Majestic.

In ihrer Freizeit unternehmen Catarina und Daniel regelmässig Ausflüge, zum Beispiel nach Montreux ins Restaurant 45 im Grand Hotel Suisse Majestic.

Aber Corona machte die Suche schwierig. Er habe 400 Bewerbungen abgeschickt, sagt er, und nur zwei Jobs angeboten bekommen. 2020 trat Daniel eine Saisonstelle im Berghotel Steingletscher auf dem Sustenpass an. Weil dort alle nur Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch mit ihm redeten, lernte er beides rasend schnell. Daniel ist ein Sprachtalent, er konnte vorher schon fliessend Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch.

Als Daniel seine zweite Saison im Berghotel Steingletscher verbrachte, lud er Catarina ein, ihn zu besuchen. Danach waren die beiden ein Paar. Und sie beschlossen, in der Schweiz zu leben. Nicht in der Schweiz zu arbeiten und zu sparen. Sondern wirklich hier zu leben.

Mehr Lifestyle als Leben

Catarina fängt Mitte April 2022 im Hotel an, aber nicht wie geplant als Zimmermädchen. Es fehlt gerade eine Person im Frühstücksdienst, und Catarina springt dort ein. In der Hierarchie eines Hotels ist das ein Aufstieg, auch wenn der Lohn vorerst der gleiche bleibt. In den Wochen vor ihrem Arbeitsbeginn hat Catarina schon viel erlebt und erledigt. Aber natürlich postet sie keine Fotos vom Einwohneramt, wo sie ihre Aufenthaltsbewilligung B beantragen muss, und keine, wie sie sich auf der Post anmeldet, einer Krankenkasse beitritt, ein Bankkonto eröffnet. Catarina und Daniel teilen auf Instagram weniger ihr Leben als ihren Lifestyle.

Mitte März 2022 sitzen sie am Trevi-Brunnen in Rom. #begrateful

Ende März prosten sie sich in einer Hotellobby in Mailand zu. #workhardplayhard

Im April grillieren sie mit Freunden auf der Rigi edles Wagyu-Fleisch. #nicetime

Das Frühstücksbuffet ist für Catarina eine Art allmorgendliches Memory-Spiel. Um sich zu merken, wo welches Brot hingehört, wo welche Käsesorte drapiert ist, wo welche Konfitüren stehen, fotografiert sie die Auslagen. Ihre Kollegen erklären ihr jeden einzelnen Arbeitsschritt, und eine portugiesische Mitarbeiterin schreibt ein Büchlein mit allen Abläufen. Catarina hat vorher nie in der Gastronomie gearbeitet, und weil sie noch fast kein Deutsch spricht, versteht sie die Gäste oft nicht. Aber mit jedem Tag fällt ihr die Arbeit leichter, und irgendwann schmerzen auch die Füsse nicht mehr. Nur die Sprache zu lernen fällt ihr viel schwerer, als sie erwartet hatte.

Das Hotel Rigi Kaltbad bezahlt seinen Angestellten einen Deutschkurs, er findet jeweils am Dienstagabend in Weggis statt. Catarina meldet sich sofort an. Aber es läuft gerade nur einer für Fortgeschrittene, und obwohl sie gewissenhaft in der Klasse sitzt, kann sie dem Unterricht kaum folgen. Sie lädt sich die App Duolingo aufs Handy, um damit zu üben.

Daneben gewöhnen sich Catarina und Daniel das Armsein ab. Wenn sie Ferien haben, unternehmen sie eine Tour, an ihren zwei Freitagen pro Woche machen sie Ausflüge, und selbst die Stunden vor oder nach Arbeitsbeginn sehen glamourös aus. Sie mieten ein Boot auf dem Vierwaldstättersee. Sie trainieren im Gym des Hotels oder planschen im warmen Aussenpool, den der Architekt Mario Botta gestaltet hat; für die Angestellten liegt eine limitierte Zahl an Freikarten bereit.

Daniel kauft ein Occasionsauto, ein VW-Eos-Cabrio, das sie immer volltanken. Auf Catarinas Konto liegen nach wenigen Monaten schwindelerregende 4000 Franken Ersparnisse. Sie ist nicht nur in ein neues Land eingewandert, sondern auch in eine andere Schicht. Zumindest fühlt es sich für sie so an.

Im Juni 2022 tanzen Catarina und Daniel vor einem Strandzelt am Lido di Lugano. #lifestyle

Im Juli vergnügen sich die beiden im Europapark Rust. #lifeisbeautiful

Im August laden Catarina und Daniel ihre Mütter für einen zweiwöchigen Trip durch Spanien, Deutschland und die Schweiz ein. #aroundtheworld

Im September sitzt das Paar in einem Restaurant im Appenzellischen vor einer Magnumflasche Amarone. #magnum

Im Oktober küssen sie sich auf dem Eiffelturm. ­#loveislove

Im November lächeln sie vor einem venezianischen Kanal, umarmen sich neben dem Schiefen Turm von Pisa, schlendern über den Ponte Vecchio in Florenz. #anotherone

Im Dezember erzählen Catarina und Daniel in der Bar im Hotel Rigi Kaltbad, wie sich das neue Leben anfühlt. Es ist ein Tag zwischen den Jahren, Weihnachten ist bereits Vergangenheit, der Jahreswechsel steht kurz bevor. Die beiden arbeiten an den Festtagen und sammeln danach die einsamen Seelen ein. Er habe Weihnachten mehrmals allein verbracht, sagt Daniel, «ich weiss, wie das ist». Nachdem die Bar am Weihnachtsabend um 23 Uhr geschlossen hat, organisiert er deshalb in der Wohnung eine kleine Party mit Essen und Drinks für die Servicekräfte, die Zimmermädchen, die Tellerwäscher des Hotels. Das plant er auch für die Silvesternacht.

Für Catarina waren es die ersten Weihnachten, die sie nicht mit ihrer Familie auf den Azoren verbracht hat. Anfangs habe ihr das zu schaffen gemacht, sagt sie, aber während der Arbeit habe sie vergessen, dass Weihnachten sei. «Und dann wurde es trotzdem richtig schön.»

«Erinnerst du dich an das Benzin?»

Catarina ist zwei Monate zuvor erneut in der Hierarchie des Hotels aufgestiegen. Sie arbeitet nicht mehr im Frühstücksdienst, sondern im Speiserestaurant. Dort überprüft sie die Reservierungen und die Gedecke, bringt die Teller an den Tisch und räumt sie wieder ab. Um Bestellungen aufzunehmen, reicht ihr Deutsch noch nicht aus. Sie hätte statt ins Restaurant auch zu Daniel in die Bar wechseln können. Aber der Chef riet ihr davon ab, weil sie dann nur noch selten gleichzeitig freigehabt hätten.

Catarina verdient immer noch gleich viel wie ein Zimmermädchen. Das liegt auch an Daniels Philosophie, einer Einstellung, von der die Arbeitgeber träumen: Nicht gleich viel fordern, sondern langfristig denken. Zuerst müsse Catarina richtig Deutsch lernen und etwas leisten, dann bekomme sie automatisch mehr Geld. So hat auch er es gemacht. Als er ins Hotel Rigi Kaltbad wechselte, verlangte er keinen höheren Lohn als den, der ihm angeboten wurde. Er verlangte einen 100 Franken tieferen. «Ich sagte zur Chefin: Schauen Sie zuerst ein, zwei Monate, wie ich arbeite. Und dann reden wir wieder darüber.» Es funktionierte.

Schwerpunkt «Ankommen in der Schweiz»: Vier weitere Geschichten aus dem neuen NZZ Folio

Daniel hat zwei Kinder aus einer früheren Ehe, fünf und sieben Jahre alt. Sie leben in Portugal bei ihrer Mutter. Daniel ist ein begeisterter Vater, er besucht seine Kinder, sooft es irgendwie geht. Der Unterhalt war mit ein Grund, warum er in die Schweiz kam, als seine finanzielle Situation auf den Azoren immer schwieriger wurde.

Damals, auf dem Sustenpass, versuchte er, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Er erinnert sich, wie ihn ein Kollege einmal fragte, ob er in ein Sushi-Restaurant mitkomme. Er sagte Nein, «weil ich glaubte, ich könne mir das nicht leisten». In Portugal würden viele Vorurteile über das Leben in der Schweiz zirkulieren. Alles sei so teuer, dass man nicht sparen und das Leben geniessen könne, heisst es. «Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass das gar nicht stimmt», sagt Daniel. «Man kann beides gleichzeitig tun.» Inzwischen schickt er Geld an seine Familie, überweist die Kinderzulagen als Startkapital auf ein Sperrkonto, spart für sich selbst und geniesst das Leben trotzdem in vollen Zügen.

Auch Catarina gewöhnt sich immer mehr daran, nicht mehr arm zu sein. Sie vergesse manchmal, wie es früher auf den Azoren gewesen sei. «Dann schauen wir uns an und sagen: Erinnerst du dich an das Benzin? Weisst du noch, wie wir immer das billigste Gericht auf der Speisekarte bestellten? Und dann lachen wir.»

Im Februar 2023 überrascht Catarina Daniel mit einem Weekend in Ascona. #anothertrip

Im März lädt Daniel seine beiden Kinder, seine Mutter und seine Schwester ins Disneyland und nach Paris ein, danach verbringt das Paar mit den Kindern noch ein paar Tage am Strand in Portugal. #fun

Am 21. März postet Catarina ein Bild von ihrer Hand, an ihrem Finger prangt ein Goldring mit einem kleinen Edelstein. «Forever yes», schreibt sie darunter, und: «Offiziell verlobt.»

«Offiziell verlobt»: Catarina postet ihren Verlobungsring auf Instagram.

«Offiziell verlobt»: Catarina postet ihren Verlobungsring auf Instagram.

Privat

Werden Träume wahr, wachsen neue nach

Im Mai 2023 verspürt Catarina zum ersten Mal saudade, diese traurige Sehnsucht nach dem Anderswo. Sie ist gerade von den Azoren zurückgekommen, wo ihr Bruder und seine Frau eine Babyshower feierten, ein Fest der Vorfreude auf ihr erstes Kind. Catarina weiss, dass sie die Geburt im Juli verpassen wird, sie hat dann keine Ferien und wird ihren Neffen oder ihre erste Nichte wohl erst ein oder zwei Monate später kennenlernen. Jetzt merkt sie, dass sie die Familie manchmal doch vermisst.

Im Deutschunterricht kämpft sie noch immer mit den Lückentexten im Lehrbuch: «Hallo Sarah! Und…», steht da. «wie geht es dir» hat Catarina sorgfältig dahinter eingefüllt. Es geht nur langsam voran, und manchmal befürchtet Catarina, sie werde für immer fremdsprachig bleiben inmitten von all dem Schweizerdeutsch. Dann beruhigt Daniel sie und lobt ihre Fortschritte: «Wenn du sprichst, dann sprichst du doch schon viel besser.»

Auch finanziell geht es stetig voran. Daniel ist zum Barchef aufgestiegen, er verdient jetzt 4750 Franken und denkt über spezielle Drinks nach, die er entwickeln will, zum Beispiel einen mit lauter schweizerischen Alpenkräutern. Auch Catarina hat 100 Franken Lohnerhöhung bekommen, stillschweigend, sie hat es erst auf der Abrechnung entdeckt: 3800 Franken steht da neu.

Daniel und Catarina haben inzwischen auch ein kleines Haus in den Hügeln der Azoren gekauft, nicht als Wohnhaus, sondern nur für die Ferien. Es hat 16500 Euro gekostet, bar auf die Hand bezahlt. Das ist auch für dortige Verhältnisse wenig, aber das Häuschen stand lange leer und muss von Grund auf renoviert werden. Eigentlich wollten die beiden dieses Jahr auf die Malediven fliegen, doch daraus wird nun nichts. Sie müssen nun ein bisschen sparen.

Catarina und Daniel laden oft Kolleginnen und Kollegen in ihre Wohnung ein.

Catarina und Daniel laden oft Kolleginnen und Kollegen in ihre Wohnung ein.

Das vergangene Jahr war für Catarina und Daniel das reichste ihres Lebens. Doch jetzt, wo sie sich Träume erfüllen können, an die sie früher nicht zu denken wagten, keimen nach und nach andere auf. Wenn er auf den Azoren genug für den gleichen Lifestyle verdienen könnte, sagt Daniel, würde er dort vielleicht eine Bar aufmachen und jeden Morgen seine Füsse im Sand vergraben. Catarina erinnert sich daran, dass sie einst Fotografin werden wollte. Daniel hat ihr zu Weihnachten eine Kamera geschenkt und einen Gutschein für einen Kurs in der Migros-Klubschule.

Doch bald wird nochmals alles neu. In der Wohnung steht seit kurzem ein weiteres Sinnbild für dieses Jahr, in dem sich für Catarina und Daniel alles verändert hat. Diesmal ist es kein Souvenir-Magnet und kein Erinnerungsstück. Es ist ein Ausblick auf eine Zukunft, die im November beginnen wird: winzige Babyschuhe.

Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema «Ankommen» (erscheint am 3. Juli 2023). Sie können diese Ausgabe einzeln bestellen oder NZZ Folio abonnieren.

Mehr von Barbara Klingbacher (bak)

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