Als vor 40 Jahren in Zürich die Jugend rebellierte

Am 30. Mai 1980 kam es nach einer Demonstration vor dem Opernhaus zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Jugendlichen, die mehr Freiräume einforderten. Es war die Initialzündung für die Zürcher «Bewegung».

Marc Tribelhorn 3 min
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Am Nationalfeiertag fand eine Demo an Paradeplatz statt, nachher ging es zum Nacktbaden am Utoquai, 1. August 1980.

Am Nationalfeiertag fand eine Demo an Paradeplatz statt, nachher ging es zum Nacktbaden am Utoquai, 1. August 1980.

Olivia Heussler

Scheinbar aus heiterem Himmel brachen vor 40 Jahren im behaglichen Zürich, später auch in anderen Schweizer Städten Jugendkrawalle aus – die heftigsten seit 1968. «D Bewegig», als die sich die jungen Unzufriedenen bald verstanden, forderte mit einem Autonomen Jugendzentrum (AJZ) Raum für selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten und lehnte sich auf gegen eine als spiessig wahrgenommene bürgerliche Daseinsordnung und ihr Leistungsprinzip.

Dabei verblüfften und provozierten die selbsternannten «Kulturleichen der Stadt» manchmal mit dadaistisch anmutender Kreativität: «Freie Sicht aufs Mittelmeer» oder «Macht aus dem Staat Gurkensalat» wurde etwa skandiert, der Kampf für mehr Freiheit und gegen Konformismus und Konsumismus propagiert. Die Jugendlichen erschreckten aber auch durch ihre hohe Gewaltbereitschaft: wöchentliche Massendemonstrationen, Strassenschlachten mit der Polizei, brennende Barrikaden, fliegende Pflastersteine, zertrümmerte Schaufenster und Plünderungen. Nicht nur in der Schweiz rieb man sich verwundert die Augen, auch die internationale Presse zeigte sich überrascht von der «Revolte im Schokoladen-Paradies». In Deutschland fragte man sich: «Warum Jugendrebellion gerade in der braven, friedlichen Schweiz?»

«Alles kaputtschlagen»

Mit dem Opernhauskrawall vom 30. Mai war der «heisse» Sommer 1980 eingeläutet worden. Damals demonstrierten mehrere hundert Jugendliche für alternative Kulturangebote und gegen einen Kredit von über 60 Millionen Franken für den geplanten Opernhausumbau. Der Aufmarsch artete in wüste Scharmützel mit der Polizei aus, die die ganze Nacht andauerten. 2010 sind zwei Bücher erschienen, die sich den Geschehnissen widmen, die bis Ende 1981 nicht nur Tausende Festnahmen, Hunderte Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe zur Folge hatten, sondern auch Vorboten einer Liberalisierungswelle waren, ohne die es das heutige Zürich mit seiner Event-Kultur kaum gäbe.

Der von Lars Schultze-Kossack herausgegebene Sammelband «Zür(e)ich brennt» hat den ambitionierten Anspruch, «verschiedenste Meinungen und Positionen» abzubilden und damit einen «umfassenden Überblick» über die Ereignisse in Zürich 1980 zu geben. Auf rund 250 Seiten sind zahlreiche damals erschienene Zeitungsartikel, Essays, Gedichte und Flugschriften versammelt, die Einblick in die Zeit geben, als Zürich brannte.

«Bewegte» wie der Schriftsteller Reto Hänny schildern ihre Erfahrungen an Demonstrationen und mit der Polizei. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» von damals erklären Jugendliche ihren Unmut und den Hang zur gewalttätigen «action»: «In dieser Stadt erlebst du überall eine Atmosphäre der Repression, die dich total fertigmacht» ist etwa zu lesen, oder von der «Bereitschaft, alles kaputtzuschlagen, was uns kaputtmacht». Während sich beispielsweise der «Sonntags-Blick» in der Ausgabe nach dem Opernhauskrawall lediglich empörte über «die Spontis, die Polit-Rocker», die «tobten und plünderten», versuchte in der NZZ der nachmalige Chefredaktor Hugo Bütler, neben aller Kritik die Denkweisen hinter den Unruhen zu ergründen.

Aber auch aktuellere Einordnungen und Analysen von Journalisten oder damaligen Aktivisten und Verantwortungsträgern wie Stadtrat Thomas Wagner oder Opernhausdirektor Claus Helmut Drese werden geliefert. Die Wirkungsmacht des achtziger Protests beschreibt etwa Kenneth Angst, einst wortgewaltiger Kommentator der Bewegung und Jahre später der NZZ. Laut seinen Ausführungen ist das «Packeis von einst geschmolzen», die subversive Gegenkultur von früher heute gesellschaftlich anerkannt. Er verweist auf etablierte Institutionen wie die Rote Fabrik, das Xenix-Kino oder das Theaterhaus Gessnerallee, die der Bewegung entsprungen sind.

Zudem habe eine Liberalisierung und Internationalisierung der Gastro-, Klub- und Musikszene stattgefunden. Doch er schlägt auch kritische Töne an, denn laut Angst befeuerte der letzte grosse Jugendprotest, wenn auch ungewollt, eine umfassende Ökonomisierung des Freizeit- und Kulturbetriebs, die den öffentlichen Raum gnadenlos an die Kräfte des Marktes ausliefert. Mit Fotos wird der Sammelband abgerundet, der aber trotz der gelungenen Zusammenstellung nicht an Heinz Niggs ähnlich konzipiertes Standardwerk «Wir wollen alles, und zwar subito» von 2001 herankommt.

Zürich im Ausnahmezustand

Die Publikation «Zürich Sommer 1980» ist – abgesehen von einem Essay des Philosophen Stefan Zweifel – ganz den Bildern der Jugendrevolte gewidmet. Als Aktivistin der Bewegung und mit einem Presseausweis ausgerüstet, dokumentierte Olivia Heussler das damalige Geschehen mit ihrem Fotoapparat hautnah.

Die im Jahr 2010 erschienenen 56 grossformatigen Schwarzweissbilder zeigen ein Zürich im Ausnahmezustand: Demonstrationen und Vollversammlungen, das AJZ, Spass und Gewalt suchende Jugendliche, martialisch sich gerierende Polizisten, Wasserwerfer, Gummigeschosse und immer wieder dicke Tränengasschwaden. Zusammengefasst: eine eindrückliche Bilderschau, die die Heftigkeit der damaligen Auseinandersetzungen zu illustrieren vermag.

Olivia Heussler: Zürich Sommer 1980. Edition Patrick Frey, Zürich 2010. 120 S., Fr. 60.00.