Auch ein versehrter Körper kann schön sein

Die Japanerin Mari Katayama macht aus ihrer Behinderung Kunst. Sie will damit Schönheitsideale hinterfragen. Anlässlich der Paralympics in Tokio hätte sie zum Symbol für Diversität werden sollen.

Felix Lill
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Mari Katayama leidet an einer Erbkrankheit, die zur Unterentwicklung der Schienbeine und zur Verformung ihrer linken Hand führte.

Mari Katayama leidet an einer Erbkrankheit, die zur Unterentwicklung der Schienbeine und zur Verformung ihrer linken Hand führte.

Courtesy of Rin Art Association

Kaum stand der Austragungsort für die Paralympischen Spiele 2020 fest, erhielt Mari Katayama einen Anruf. Das war vor einigen Jahren, Tokio hatte das Rennen gemacht. Ein Vertreter von Google war am Apparat. Als Erstes fragte er Mari Katayama: «Sie sind doch behindert?» Man suche nach einem passenden Gesicht für eine Werbekampagne, um anlässlich des Sportereignisses die Vielfalt zu feiern. Er war an die Richtige geraten.

Dabei stimmt es – Mari Katayama lebt mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Ihre linke Hand besteht aus bloss zwei Fingern, und sie hat keine Beine. Prothesen ersetzen diese. Die Versehrtheit ihres Körpers macht die 34-jährige Fotokünstlerin zum Motiv ihrer Kunst. Auf ihren Bildern ist meist sie abgebildet. Die verstümmelten Glieder inszeniert sie unübersehbar, oft nimmt sie eine sinnlich-erotische Pose ein.

In kunstinteressierten Kreisen hat Katayama schon länger einen Namen. Vor fünf Jahren war sie das Postergirl der «Roppongi Crossing», einer Ausstellung im Tokioter Mori Art Museum, das die vielversprechendsten jungen Künstler des Landes zeigt. Die Schau gab zu reden. Die Kuratorin Natsumi Araki sieht in Katayamas Werken «die Schönheit des Verlusts», wie sie damals schrieb. Seitdem hat Katayama auch in London, Amsterdam oder Wien ausgestellt.

Ihr Erfolg dürfte dem Mann von Google nicht entgangen sein, der sie als Werbegesicht für die Paralympics gewinnen wollte. Diese beginnen nächste Woche, pandemiebedingt mit einem Jahr Verspätung. Wer böte sich Geeigneteres an als Symbol für Diversität und Inklusion?

Spiel mit unserem Voyeurismus

Mari Katayamas Händedruck ist warm und umfassend, als man sie in Takasaki, einer Stadt mit knapp 400 000 Einwohnern in Zentraljapan, besucht. Wenn sie ihre Hand zum Gruss ausstreckt, bietet sie einen ihrer zwei breiten Finger samt Handmuskel an, auf die man seine Hand legen möge. Den anderen Finger legt sie wie eine Muschel obendrauf. «Fühlt es sich weich an?», fragt sie und lächelt.

Selbst Autogramme werden durch diese Hand zum Happening. Dabei legt sie die scherenartige Handform auf einem Papier ab, zeichnet eine Silhouette drumherum und schreibt ihren Namen hinein.

Katayama provoziert mit ihrer Kunst. Manche Betrachter mögen zuerst einmal schockiert sein. Vielleicht fühlen sie sich sogar abgestossen. Andere wiederum sind fasziniert und können den Blick nicht abwenden. Katayama bedient bewusst den Voyeurismus, um auf ihren «unvollständigen» Körper hinzuweisen.

Als Femme fatale sitzt sie in Unterwäsche auf einem Stuhl, ohne dass Füsse den Boden erreichen könnten. Auf einem anderen Bild hält sie eine lange Zigarette zwischen ihren zwei einzigen Fingern. Ihr intensiver Blick hält einen gefangen, während ein gleichmütiger Ausdruck auf ihrem Gesicht liegt, das von einem kantigen Haarschnitt eingerahmt wird.

«Ich stelle bloss das dar, was ich selbst durch meinen Körper erlebe», sagt Mari Katayama. Und erlebt hat sie einiges, hier in Takasaki, in der japanischen Einöde, wo sie aufgewachsen und inzwischen eine lokale Berühmtheit ist. Bei einem Spaziergang durch die Stadt geht Katayama, in leicht staksigen, aber mühelosen Schritten auf ihren Prothesen, vorbei an einem Museum, in dem sie auch schon ausgestellt hat. Sie sagt: «Man muss lernen, mit seinen Besonderheiten klarzukommen. Sonst hat man ein Problem.»

Angeborene Fehlbildungen

Mari Katayama lernte das früh in ihrem Leben. Jedes Mal, wenn sie hinfiel, stand sie wieder auf – buchstäblich und in übertragenem Sinn. Als Kind wurde bei ihr eine Tibiale Hemimelie entdeckt, eine seltene angeborene Krankheit, die zur Unterentwicklung der Schienbeine sowie in ihrem Fall zur Verformung der linken Hand führte. Mit neun Jahren musste Mari entscheiden, ob sie ihr Leben im Rollstuhl verbringen oder sich die Beine amputieren lassen wollte. «Für mich war klar: Nur mit einer Amputation würde ich eines Tages wieder laufen können», sagt sie. Nur hatte sie damit nicht nur ihre Beine verloren, sondern auch viele ihrer Freunde. In der Schule wurde sie gemobbt.

Weil es im ländlichen Japan der 1990er Jahre auch keine inklusiven Kleidungsgeschäfte gab, lernte Mari schon als Kind das Nähen. Gemeinsam mit ihrer Mutter stellte sie Kleider her, die sie tragen konnte. Bald konnte sie besser nähen als schreiben. Sie fertigte sich ihre eigenen Kuscheltiere und Kissen an, auch Imitationen ihrer Beine, die sie nicht mehr hatte, aus Stoff und in Originalgrösse; dazu Entwürfe von Schuhen, obschon sie diese nicht mehr brauchte.

Eines Tages, da war sie in der Pubertät, postete sie auf der Plattform MySpace ein Foto. Die sozialen Netzwerke kamen da gerade auf. Um den Massstab ihrer Näherzeugnisse zu zeigen, stellte sie sich in ihrem Kinderzimmer selbst mit ins Bild und legte sich inmitten ihrer Stofftiere hin. Die Beinstümpfe waren sichtbar, die Prothesen daneben abgestellt. «Ich habe mir nichts dabei gedacht», sagt sie.

Die Reaktionen reichten von Verwunderung bis Begeisterung. Sie bezogen sich weniger auf die von ihr genähten Kuscheltiere als die Bildkomposition als ganze, in der Mari Katayama selbst die entscheidende Rolle spielte. Ihr wurde klar, dass ihr Aussehen kein Makel sein musste. Sie verstand, dass sie auch nicht mehr versuchen sollte, vorgefertigten Schönheitsidealen zu entsprechen, so wie sie es als Heranwachsende getan hatte.

Heute spielt Katayama mit der Dekonstruktion von Schönheitsidealen. In ihrer bisher bekanntesten Fotoreihe, «You’re mine», räkelt sie sich auf einem Bett in einem weissen Négligé, die Prothesen hat sie abgelegt. Wer zuvor dachte, man müsse Beine haben, um sexy zu sein, wird hier etwas über die Ästhetik vermeintlicher Unvollkommenheit lernen. Ein weiteres Bild zeigt die halbnackte Katayama umgeben von ihren Näherzeugnissen. Da sind ein Stoffduplikat ihrer linken Hand und ein Spiegel zu sehen, den ein genähter Stoffrand ziert. Das Bild strahlt gleichzeitig Verletzlichkeit und Intimität aus.

Emanzipation von Schönheitsidealen

«Als Mädchen habe ich durch das Nähen versucht, die gleichen Kleider tragen zu können wie die anderen», sagt sie. «Das Nähen war mein Versuch, so schön zu sein wie sie.» Dennoch sah sie im Spiegel ein anderes Bild, als sie es sich wünschte. Zu erkennen, dass sie von dem abwich, was als schön galt, trug zu ihrer Emanzipation von ästhetischen Normen bei. Wenn man nur wolle, könne man seine ganz eigenen Massstäbe für Schönheit erstellen, ist sie überzeugt.

Für Mari Katayama könnte 2021 ihr bisher grösstes Jahr werden. Nach einer Ausstellung am internationalen Fotofestival in Japans Kulturstadt Kyoto letztes Jahr, bei der sie der einstige Tate-Modern-Kurator Simon Baker unterstützt hatte, werden ihre Werke ab dem 3. September in der Maison Européenne de la Photographie in Paris ausgestellt. Auch in der Tokioter Galerie Akio Nagasawa hängen ihre Bilder derzeit.

Doch dieses eine sportliche Grossereignis, die Paralympics, hätte ihr womöglich noch zu mehr Ruhm verholfen. Im Hinblick auf die Spiele verkünden Plakatwände und Werbefilme überall das Motto «unity in diversity», vereint in der Vielfalt. Für die japanische Gesellschaft sind diese Worte insofern bedeutsam, als in diesem Land vor allem Homogenität und Anpassung als positiv gelten. Nun wollen die Veranstalter des grössten Sportevents der Welt offiziell die menschliche Vielfalt hochleben lassen.

Als der Marketing-Mann von Google ihr am Telefon die Frage stellte, ob sie behindert sei, reagierte Mari Katayama, ohne zu zögern. Sie dankte für das Interesse an ihr als Botschafterin und legte auf. «Für die Paralympischen Spiele mache ich keine Kampagne», sagt sie. Vielfalt zu loben, sei schön und gut – was das aber bedeute, habe leider noch nicht jeder verstanden.

Es heisst bestimmt nicht, dass man Menschen auf ihre Beeinträchtigung reduziert. Wer Anderssein verstehen will, der kann sich Mari Katayamas Bilder anschauen, die ganz ohne Sportspektakel auskommen.