Mindestens 27 Menschen sind am Mittwoch beim Versuch, den Ärmelkanal in einem Boot zu überqueren, ums Leben gekommen.
Mindestens 27 Migranten sind beim bisher schlimmsten Bootsunglück auf dem Ärmelkanal ertrunken. Die genauen Umstände des Unglücks sind noch nicht bekannt. Zwei Überlebende, die mit Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht wurden, sollen dazu befragt werden. Bei den Opfern soll es sich vorwiegend um irakische Kurden und Somalier handeln. Unter ihnen sind auch drei Kinder. Sie waren am Mittwoch bei relativ günstigen Wetterbedingungen mit einem Gummiboot in der Nähe von Dünkirchen für die gefährliche Fahrt aufgebrochen. Es wird vermutet, dass sie zuvor im Flüchtlingscamp bei Grande-Synthe waren. Ein Fischer alarmierte am Mittwochnachmittag die Rettungskräfte, nachdem er unweit der britischen Küstengewässer die leblosen Körper von 15 Menschen entdeckt hatte. Die Schiffe der französischen Marine konnten die meisten Verunglückten nur noch tot bergen.
Die französische Regierung hat bereits die Schuldigen ausgemacht. Innenminister Gérald Darmanin sprach in den Medien von «kriminellen Schlepperbanden, welche das Elend von Mitmenschen ausbeuten». Für ein paar tausend Euro versprächen sie den Migranten ein Eldorado in England. Seit Mittwochabend nahmen die französischen Behörden fünf Personen fest, die laut Darmanin in direkter Verbindung mit dem Schiffbruch stehen.
Seit Januar seien bereits 1500 Schlepper festgenommen worden, gab der Innenminister an. Wie viele gerichtlich verurteilt wurden, sagte er nicht. In vielen Fällen seien es Mitglieder von Mafia-Organisationen, die mit verschlüsselten Telefonverbindungen kommunizierten und grenzübergreifend organisiert seien. Aus diesem Grund sei zu ihrer Bekämpfung die internationale polizeiliche Zusammenarbeit mit Grossbritannien, Belgien und Deutschland wichtig.
«Frankreich wird nicht zulassen, dass der Ärmelkanal zu einem Friedhof wird», erklärte Staatspräsident Emmanuel Macron und forderte eine Krisensitzung auf Ministerebene. Die französische Regierung war schon zuvor wegen der Migrationskrise am Ärmelkanal stark unter Druck. Der britische Premierminister Boris Johnson äusserte sich schockiert, empört und zutiefst traurig über das Unglück. «Wir haben Mühe, bestimmte Partner, und speziell Frankreich, zu überzeugen, in angemessener Weise zu handeln. Doch ich habe Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen diese Länder konfrontiert sind», sagte er.
Seine Regierung und die britischen Medien werfen Frankreich seit langem vor, zu wenig zu tun, um die seit Jahren anhaltende Migration zu stoppen. Laut britischen Schätzungen ist es in den letzten zehn Monaten mindestens 22 000 Migranten gelungen, den Ärmelkanal zu überqueren. Häufig aber endet diese Reise in völlig ungeeigneten Gummibooten oder Kajaks dramatisch. Seit Jahresbeginn mussten rund 8000 Menschen aus Seenot gerettet werden.
Dass sich diese Krise nur noch verschlimmert, belegt die Zahl der Opfer. 2019 starben 4, 2020 6 Personen beim Versuch der Überquerung des Kanals, in diesem Jahr nach der letzten Tragödie bereits 33. Die Zunahme steht in direkter Verbindung mit dem Phänomen der «kleinen Boote». Seitdem es aufgrund strikter Kontrollen für die Migranten immer schwieriger wird, als blinde Passagiere versteckt in Lastwagen oder Fähren aus Calais nach Dover zu gelangen, nehmen diese alle Risiken in Kauf, um auf andere Weise über den Seeweg ans Ziel zu kommen.
Laut Darmanin werden die dafür verwendeten Gummiboote von den Schleppern in Deutschland gekauft, weil mittlerweile die Sportgeschäfte an der französischen Küste keine Kanus, Kajaks oder Gummiboote mehr anbieten. Diese Gummiboote chinesischer Herkunft haben jedoch keinen festen Boden, füllen sich rasch mit Wasser, verfügen weder über einen Kompass noch über andere Navigationsgeräte und haben meistens einen für die Strömung zu schwachen Aussenbordmotor. Dies kann dazu führen, dass das Boot vom Weg abkommt, wenn der Treibstoff ausgeht.
Die Katastrophe sei vorprogrammiert gewesen, meinte der Vorsitzende der Seenotrettung in Dünkirchen, Alain Ledaguenel, der Zeitung «Le Monde»: «Das musste früher oder später passieren, das stand fest.» Die überladenen Gummiboote würden vom Radar nicht entdeckt, auch hätten auf hoher See die Mobiltelefone keine Verbindung mehr, um notfalls Hilferufe zu senden. Eine andere Gefahr drohe von den grossen Frachtern. «Der Ärmelkanal ist wie eine Autobahn. Stellen Sie sich mal vor, was passiert, wenn ein solches überladenes Boot in den Wellengang eines grossen Erdöltankers gerät. Das ist wie ein Tsunami!», sagte Ledaguenels Kollege Bernard Barron.
«Wie viele Tote braucht es noch?», stand auf einem Schild von rund 50 Mitgliedern von Hilfsorganisationen, die im Hafen von Calais protestierten, als die Särge mit den Opfern an Land gebracht wurden. Sie werfen den Behörden vor, mit ihren Kontrollen und anderen Schikanen die Migranten nur zusätzlich in Gefahr zu bringen. «Solange von Frankreich und England keine sicheren Passagen eingerichtet sind oder diese Menschen in Frankreich nicht Papiere als Asylbewerber erhalten, wird es an dieser Grenze Tote geben», sagte Charlotte Kwantes von der Organisation Utopia 56. Leider steht auch fest, dass selbst diese tödliche Gefahr die Migranten nicht vom Versuch abhält, ins vermeintlich gelobte Land jenseits des Ärmelkanals zu kommen.