Indien will seine Raketen mit mehreren Atomsprengköpfen bestücken – und beschleunigt das nukleare Wettrüsten

Delhi sieht sich stärker durch China bedroht als durch seinen Erzrivalen Pakistan.

Patrick Zoll, Taipeh 4 min
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Die Agni-V ist Indiens Rakete mit der grössten Reichweite. Neu soll sie mit mehreren Atomsprengköpfen bestückt werden.

Die Agni-V ist Indiens Rakete mit der grössten Reichweite. Neu soll sie mit mehreren Atomsprengköpfen bestückt werden.

Manish Swarup / AP

Indiens Medienkonsumenten mussten dieser Tage eine neue Abkürzung lernen: MIRV. Sie steht für Multiple Independently targetable Reentry Vehicles. Das ist, einfach gesagt, ein System, das eine ballistische Rakete abfeuert, deren Atomsprengköpfe verschiedene Ziele treffen können.

Der erstmalige Test eines MIRV-Systems mit einer Agni-V-Rakete von einer Insel im Golf von Bengalen aus verlief vergangene Woche nach Angaben des Verteidigungsministeriums nach Plan. Premierminister Narendra Modi schrieb, er sei stolz auf die beteiligten Wissenschafter.

Stolz schwang auch in vielen Medienberichten mit. Denn Indien tritt in den kleinen Kreis von Nationen ein, welche diese Technologie beherrschen. Neben den nuklearen Supermächten USA und Russland haben Grossbritannien, Frankreich und China Raketen mit MIRV im Einsatz. Pakistan, Indiens Erzrivale, testete im vergangenen Jahr die Technologie erstmals.

MIRV hat einen destabilisierenden Faktor

MIRV ist keine neue Technologie. Die USA und die Sowjetunion stellten in den 1970er Jahren Systeme in Dienst, die vom Land wie auch von U-Booten aus abgefeuert werden können.

Landgestützte MIRV-Raketen gelten als destabilisierend, weil sie einen Atomstaat zum Erstschlag verlocken könnten: Mit einem Treffer auf eine MIRV-Rakete des Gegners können mehrere Gefechtsköpfe auf einmal ausgeschaltet werden. Die beiden verfeindeten Supermächte im Kalten Krieg einigten sich darum in verschiedenen Abrüstungsrunden darauf, die Zahl ihrer MIRV-Systeme zu reduzieren.

MIRV-Raketen haben eine weitere folgenreiche Eigenschaft: Sie sind für Raketenabwehrsysteme schwierig abzufangen. Zwar lässt sich die Flugbahn der Rakete schon im frühen Stadium berechnen, doch welche Ziele die einzelnen Atomsprengköpfe anfliegen, wird erst viel später klar. Diese Ziele können bis zu 1500 Kilometer auseinander liegen. Auch braucht das Abwehrsystem mehr Abwehrraketen, um alle Sprengköpfe abzufangen: Heutige MIRV-Raketen können mit bis zu 16 Sprengköpfen bestückt werden.

Indiens System soll zehn bis zwölf Atomsprengköpfe auf einer einzigen Agni-V-Rakete transportieren können. Agni-V hat eine Reichweite von 5000 bis 7000 Kilometern, die exakte Leistung ist geheim. Damit kann Indien jeden Winkel Chinas erreichen, seines zweiten nuklearen Rivalen neben Pakistan.

Indien fühlt sich durch China bedroht

Wer sich in Delhi unter Diplomaten und Experten umhört, dem wird klar, als wie ernst die Bedrohung durch China angesehen wird. China beansprucht im Himalaja grosse Gebiete, die unter indischer Kontrolle stehen. Der Schock des sogenannten «Galwan-Zwischenfalls» von 2020, bei dem zwanzig indische Soldaten ums Leben kamen, sitzt tief. Immer wieder fällt in Delhi das Wort «Feind», wenn China zur Sprache kommt.

Dieses China baut seit einiger Zeit sein Atomarsenal stark aus: So hat es rund 300 neue Silos für Interkontinentalraketen erstellt. Seit kurzem ist ständig mindestens ein chinesisches U-Boot mit Atomraketen an Bord in den Tiefen der Ozeane unterwegs.

Die Zahl der chinesischen Atomsprengköpfe ist vermutlich auf rund 500 angestiegen, nachdem sie lange bei rund 200 gelegen hatte. Das amerikanische Verteidigungsministerium vermutet, dass diese noch stark zunehmen wird.

Verändert sich Indiens nukleare Doktrin?

Peking schweigt sich aus über die Absichten, die es mit der atomaren Aufrüstung verfolgt – was in Ländern wie Indien zusätzliche Verunsicherung auslöst. Denn in Delhi stellt man sich die Frage, ob die eigene nukleare Abschreckung noch genügt.

Die derzeitige nukleare Doktrin Indiens bestehe aus drei Elementen, erklärt Manpreet Sethi vom Centre for Air Power Studies, einer Denkfabrik in Delhi: «Erstens eine glaubhafte minimale Abschreckung, was bedeutet, dass die Anzahl der Atomsprengköpfe nur so gross ist, um sicher zurückschlagen zu können.» Gegenwärtig wird diese auf etwa 165 geschätzt und hat sich in den letzten Jahren kaum verändert.

Dazu komme, so Sethi, zweitens das Versprechen, Atomwaffen nie als erste Partei in einem Konflikt einzusetzen. Wenn das Land sich aber zu einem Gegenschlag gezwungen sehe, werde dieser massiv sein, sagt die Expertin im Gespräch: «Indien glaubt nicht, dass es einen ‹kleinen Atomkrieg› geben kann.»

Wie Indien spricht auch China von einer «glaubhaften, minimalen Abschreckung» und hat eine «No First Use Policy». Doch angesichts der rasch voranschreitenden nuklearen Aufrüstung vermuten immer mehr Experten, dass Peking andere Absichten hat.

Ashley J. Tellis von der Carnegie Endowment for International Peace in Washington wies vor kurzem in einem Interview mit der NZZ darauf hin, dass China über eine wachsende Zahl von Atomwaffen verfüge, die auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden könnten. Diese könnten bei einem konventionellen Konflikt mit Indien zum Einsatz kommen. Es stelle sich daher die Frage, ob sich Peking von seiner No First Use Policy abwende, meint Tellis.

Die Vorgänge in China beeinflussen das indische Denken. Wenn Delhi den Eindruck erhält, dass Peking sein Arsenal in einem Erstschlag so treffen könnte, dass eine glaubwürdige Abschreckung nicht mehr möglich wäre, kommt es unter Zugzwang.

Auch ein chinesisches Raketenabwehrsystem, das in Entwicklung sein soll, beeinflusst Indiens Kalkül. Zwar wird das offiziell nicht so formuliert, doch die Entwicklung von MIRV-Technologie könnte unter diesen Prämissen vorangetrieben worden sein.

Ein globales Atomwettrüsten ist im Gang

Indiens Streben nach MIRV-Raketen sei Ausdruck eines globalen atomaren Wettrüstens, schreiben Hans Kristensen und Matt Korda, zwei führende Experten der Federation of American Scientists, einer Organisation, die sich für die Reduktion von Atomwaffen einsetzt. Denn auch China und Grossbritannien setzen die Technologie vermehrt ein. Nordkorea strebe ebenso danach wie Pakistan.

MIRV-Raketen seien auch deshalb gefährlich, weil Atomwaffenstaaten damit die Anzahl ihrer Sprengköpfe schnell erhöhen könnten, schreiben die Experten. Ihr Fazit ist ernüchternd: «Eine Welt, in der fast alle nuklear bewaffneten Länder über signifikante MIRV-Kapazitäten verfügen, ist weitaus gefährlicher als unser heutiges geostrategisches Umfeld.»

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