Aufwachen in Kroatiens Provinz

Seit dem EU-Beitritt Kroatiens ist das Grenzgebiet zu Ungarn nicht länger periphere Provinz. In der Region Podravina wird die europäische Idee als Chance erkannt.

Martin Woker, Djurdjevac
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Die unberührte Landschaft am Fluss Drava ist ideal für die Entwicklung eines sanften Tourismus. (Bild: Jan Ryser / Keystone)

Die unberührte Landschaft am Fluss Drava ist ideal für die Entwicklung eines sanften Tourismus. (Bild: Jan Ryser / Keystone)

«Wir wollten alle einen eigenen Staat», sagt der Fährmann an diesem schwülheissen Sommernachmittag, «dass es aber so kommt, nein, das haben wir uns nicht vorstellen können.» Noch wartet der kräftige Mann die volle Stunde ab, um exakt zur Zeit vom Ostufer der Drava abzulegen. Drei Autos und vier Passagiere hat er bereits geladen. Sie wollen von der kroatischen Exklave Kriznica ans Westufer übersetzen. Hüben und drüben ist kroatisches Territorium. Die Staatsgrenze stimmt in diesem Flussabschnitt längst nicht mehr mit dem mäandrierenden Flusslauf der Drava überein. Einmal reicht Ungarn bis weit nach Kroatien hinein und dann wieder Kroatien nach Ungarn, wie hier in Kriznica. Eine sehr spezielle Herausforderung war das für die Erbauer des Eisernen Vorhangs, der ab 1948 zwischen Ungarn und Jugoslawien den Westrand der Pannonischen Tiefebene vom Ostblock abtrennte und somit Rand-Pannonien entstehen liess.

Ferne Blütezeit

Die von einem örtlichen Tourismuspromotor geprägte Begriffsschöpfung Rand-Pannonien ist in liebevoller Absicht entstanden, auch wenn manche Einheimische das anders sehen und unter ihrem Randdasein leiden. Sie kennen ihre Region unter dem Namen Podravina. Die älteren unter ihnen erinnern sich jener goldenen Zeiten, da der Tabakanbau vielen Brot gab und die volkseigene Firma Podravka ganz Jugoslawien mit Beutelsuppen versorgte und ihre legendäre Streuwürze namens Vegeta die Völker im titoistischen Staat mehr vereinte, als alle Parteiparolen dies vermochten. Podravka aus der Podravina – ein weithin bekanntes Begriffspaar mit Grund zu Lokalstolz. Doch das ist lange her.

Lange her? Im Zentrum des Städtchens Djurdjevac verwischen die baulichen Zeugen des jugoslawischen Aufbruchs jeglichen Zeitbegriff. Sowohl das Poslovni Centar, das Geschäfts- und Ladenzentrum, wie auch die Robna Kuca, das Warenhaus, sind immer noch in Betrieb, und das ehemalige Staatshotel wurde gar renoviert. Die Blumenrabatten am Hauptplatz sind gepflegt und die Trottoirs sauber gewischt. Ein verkehrsfreies Zentrum ist kein Thema, weil es kaum Verkehr gibt. Diverse Ladenlokale stehen leer, und an bester Lage verstauben in einem Schaufenster die Pokale des örtlichen Behinderten-Sportvereins. Auch eingefleischten Jugo-Nostalgikern kann die omnipräsente Morosität nicht entgehen. Die guten Zeiten sind vorbei.

Seit einer Generation ist Kroatien ein eigener Staat. Die junge Nation erbrachte vor Jahresfrist mit der EU-Aufnahme jenes Reifezeugnis, dessen sich von den jugoslawischen Nachfolgestaaten zuvor erst Slowenien rühmen konnte. Von Freude über das Erreichte kann aber nicht die Rede sein. Die wirtschaftliche Entwicklung harzt, die Politik ist von chronischer Korruption geprägt, und die Arbeitslosenziffer verharrt auf hohem Niveau. Nur gerade 25 Prozent aller kroatischen Stimmberechtigten beteiligten sich im Mai an den Wahlen zum Europäischen Parlament. In der Podravina lag die Stimmbeteiligung gar noch tiefer. Verweigert sich ausgerechnet Rand-Pannonien der europäischen Idee? Hätten nicht gerade Randregionen den grössten Nutzen von jener staatsübergreifenden Kooperation, der sich die EU verschrieben hat? Aus Brüssel sind schon beträchtliche Mittel an das Neumitglied überwiesen worden, und auch die Schweiz leistet einen Erweiterungsbeitrag von 45 Millionen Franken. Alles für die Katz?

Überhaupt nicht, sagen hier alle. Jene, die am Urnengang teilnahmen, und auch alle andern. Etwa jener Obstbauer, der zeitgleich mit der Gründung des Staats die ersten Stämmchen pflanzte und inzwischen von 7000 Bäumen Weichselkirschen erntet. Er wird den grösseren Teil der diesjährigen Ernte nach Ungarn verkaufen, weil er dort einen zuverlässigeren Abnehmer gefunden hat als im eigenen Land. Das geht erst seit dem EU-Beitritt so reibungslos. Beim Abschreiten der Baumreihen nennt er als grösste Sorge die Nachfolgeregelung. Die Jungen zieht es weg, in die Hauptstadt oder ins Ausland.

Die Hälfte ihrer Klasse lebe heute in Zagreb oder in Kanada, bestätigt die junge Geschäftsführerin des einzigen Velogeschäfts in Djurdjevac. Die sonntägliche Ausfahrt mit dem örtlichen Veloklub sei ihr wichtiger gewesen als die europäischen Wahlen, gesteht sie. Natürlich bedeute ihr Europa viel, und ihr Geschäft profitiere davon, Ersatzteile und neue Fahrräder endlich direkt vom Hersteller importieren zu können. Aber Wahlen? Auf keinen Fall! Ihr Vertrauen in die Politiker sei erschüttert, sagt sie.

Ein Möbelfabrikant im Nachbarort Pitomaca bestätigt das generelle Misstrauen der Bevölkerung in die Politik, was sich in wachsender Wahlabstinenz niederschlage. Daraus den Schluss zu ziehen, den Leuten sei die EU egal, wäre aber falsch. Der EU-Beitritt habe ihm und seiner Firma neue Perspektiven eröffnet. Als Kleinunternehmen beliefert er neuerdings auch Kunden in Österreich. Gemeinsam mit andern örtlichen Unternehmern hat der Schreinermeister einen Gewerbeverband gegründet, dessen Existenz allein schon einen noch wenig beachteten Aufbruch in Rand-Pannonien markiert.

Eines der erfolgreicheren Unternehmen ist die Firma Spider Grupa, die jährlich rund tausend Tonnen Kräuter und Heilpflanzen nach ökologischen Richtlinien produziert und zu Tee verarbeitet. Das vor 18 Jahren gegründete Unternehmen beschäftigt derzeit 130 Personen und würde ohne Zugang zum europäischen Markt weniger florieren. Einen sehr europäischen Geist verbreitet auch der geschäftsleitende Sohn des Firmengründers, Denis Nemcevic. Nationalismus ist für ihn kein Thema. Seine Familie stammt aus einem der wenigen Dörfer in der Region mit mehrheitlich serbischer Bevölkerung. Der Ort wurde, wie auch die übrige Podravina, vom jugoslawischen Nachfolgekrieg weitgehend verschont. Die aufgerissenen konfessionellen Gräben sind weniger tief als anderswo in Kroatien. Noch aber bestehen Hindernisse auf dem Weg zu grenzübergreifender europäischer Verständigung.

Ein resoluter Bürgermeister

Zum Beispiel in Ferdinandovac, einem Strassendorf wie unzählige andere in der Region. Ferdinandovac liegt in unmittelbarer Nähe zur Drava, doch von hier aus führt keine Strasse weiter nach Ungarn. Das sei nicht immer so gewesen, erzählt Branko Kolar, der stämmige Bürgermeister des Orts, in seinem mit örtlicher Eiche sorgfältig getäferten Büro mit zwei Kruzifixen an der Wand. Bis 1948 bestand hier ein Grenzübergang nach Ungarn, und eine Fähre verkehrte regelmässig über den Fluss. In der ungarischen Gemeinde Vizvar am andern Ufer lebt eine derzeit 60 Seelen zählende kroatische Gemeinschaft, die durch den Eisernen Vorhang während fast eines halben Jahrhunderts abgekapselt war. Noch bestehen über den Fluss hinweg verwandtschaftliche Verbindungen. In Ferdinandovac wiederum lebten stets auch Ungarn, und vor 1948 bewirtschafteten einige Bauern Felder beidseits des Flusses. Die gegenseitige Verbundenheit wuchs im Jahr 1956 zur Solidarität, als die kleine Bauerngemeinde Hunderte von ungarischen Flüchtlinge beherbergte.

Für Kolar, der in Sichtdistanz zum Grenzfluss aufwuchs, markiert die Erinnerung an jenes dramatische Jahr den Beginn seiner generellen Abneigung gegenüber Grenzen. Er führt uns am üppig bewaldeten Flussufer zu einem Ort, wo in seiner Jugend die Frauen beidseits am Fluss die Wäsche besorgten und über das Wasser hinweg Neuigkeiten austauschten. Als Kolar dann Jahrzehnte später im jungen kroatischen Staat als örtlicher Funktionär über Kompetenzen verfügte, gab es für ihn kein Halten mehr. Im Jahr 1996 öffnete er in seiner Gemeinde erstmals die Grenze; zwar nur für einen Tag, aber immerhin. Seine Initiative entwickelte sich zwar nicht mit der von ihm gewünschten Dynamik, doch fand in diesem Jahr zum dritten Mal unter dem Patronat der EU ein offizielles Treffen der Behördenvertreter der Drava-Anrainer statt. Umrahmt war das Ganze von einem Kulturprogramm und einer in Ungarisch und Kroatisch gelesenen katholischen Messe. Als Beweis der Freundschaft hängt im Büro des Bürgermeisters der auf Pergamentpapier geschriebene und mit den beiden Staatswappen geschmückte Text des «Vaterunsers» in Ungarisch. Doch wirklich zufrieden ist Kolar noch lange nicht. Sein Dorf verlor in den letzten zehn Jahren über 400 Einwohner. Von offenen Grenzen verspricht sich der Bürgermeister eine Vitalisierung der Wirtschaft, eine neue und gesunde Konkurrenz zwischen Handwerkern und mehr Kooperation unter den Bauern. Nicht trennen soll die Drava, sondern verbinden. Eine permanente Grenzöffnung, wie sie der Bürgermeister an zwei Orten in seiner Gemeinde gerne hätte, ist aber so lange kein Thema, als Kroatien nicht zum Schengenraum gehört. Das weiss Kolar natürlich sehr genau. Es könne jedoch nicht sein, so sagt er, dass an der 320 Kilometer langen Grenze zwischen Kroatien und Ungarn nur gerade sieben Übergänge geöffnet seien, obwohl zwischen den beiden Staaten bestes Einvernehmen herrsche.

Ein Pfarrer mit Weitblick

So sieht es auch der katholische Pfarrer des Nachbardorfs Novo Virje, Krunoslav Milovec. «Die Kirche kennt keine Grenzen», sagt der junge, in Jeans und T-Shirt gekleidete Priester am Küchentisch seines Pfarrhauses. «Wir sind alle Europäer», verkündet er sonntags von der Kanzel. Und seine Botschaft findet Resonanz. Der junge Priester hat sich in den fünf Jahren seines Wirkens in dem abgeschiedenen Strassendorf Respekt verschafft. Nicht mit frommen Sprüchen gewann er die Herzen der Leute, sondern mit dem Aufruf zur Solidarität. Die von ihm in der Gemeinde initiierte Sozialarbeit förderte seine eigene Popularität und jene der Kirche. Heute predigt der initiative Geistliche am Sonntag vor vollen Rängen, was nicht selbstverständlich ist.

Im kroatischen Unabhängigkeitsprozess spielte die katholische Kirche eine zentrale und hochpolitische Rolle, was sich in der jungen Nation zunächst in einer demonstrativen Frömmigkeit vieler Bürger ausdrückte. Der sonntägliche Kirchgang war so etwas wie nationale Pflicht. Das ist nicht länger so. Der Enthusiasmus über die Eigenstaatlichkeit ist verblasst und wird überlagert von Verbitterung über die Leistungen der politischen und wirtschaftlichen Elite.

«Christliche Solidarität bedeutet, sich nicht auf Kosten anderer zu bereichern», sagt der Pfarrer. Von der EU erwarte er, noch genauer darüber zu wachen, dass in Kroatien der Rechtsstaat funktioniere. Seit der Pfarrer bei einem Besuch auf der andern Flussseite mit eignen Augen gesehen hat, wie mit EU-Fördergeld eine Kirche renoviert wurde, kennt sein Enthusiasmus für die europäische Idee keine Grenzen mehr. Es sei nur eine Frage der Zeit, so kündet er an, bis in dieser Region die Messe zweisprachig gelesen werde. Man traut dem initiativen Mann zu, Rand-Pannoniens schärfste Grenze, nämlich jene der Sprache, mit Gottes Hilfe bald schon zu durchlöchern.

Auch im Bereich des Naturschutzes konkretisiert sich die kroatisch-ungarische Kooperation. In der kroatischen Exklave Kriznica ist dank Unterstützung aus Brüssel der Bau eines Naturschutzzentrums geplant, mit einem Pavillon zur Information über die einzigartige örtliche Flora und Fauna. Das Vorhaben erfolgt im Rahmen des Life-Programms, eines Finanzinstruments der EU zur Förderung von Umweltmassnahmen. Im Falle der Drava ist umfassender Naturschutz von grösster Wichtigkeit, weil zumindest der Unterlauf des mächtigen Flusses bisher vom Menschen wenig verändert wurde und darum für die Erhaltung der Artenvielfalt sehr wichtig ist. Die Einzigartigkeit der Uferlandschaft entlang der Drava ist über Fachkreise hinaus erkannt worden und zieht immer mehr Besucher an.

Gut möglich, dass die Fähre nach Kriznica dem steigenden Interesse nicht länger genügen wird und einer Brücke weichen muss. Das mag gut sein für die touristische Entwicklung der Region. Doch es ist schlecht für all jene Besucher, die den Fährmann nicht missen mögen. Weil er stets am besten weiss, was neu ist in Rand-Pannonien.

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