Das britische Oberhaus wirkt aus der Zeit gefallen. Kann eine sanfte Reform die Lords vor der Abschaffung bewahren?

Nach einer Flut politisch motivierter Ernennungen platzt das House of Lords aus allen Nähten. Auch etliche Affären haben dem Oberhaus geschadet. – Ein altehrwürdiger Lord ist dennoch davon überzeugt, dass Grossbritannien mit einem ungewählten Oberhaus besser gedient ist als mit zwei gewählten Parlamentskammern.

Niklaus Nuspliger, London 5 min
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Der heutige König Charles III. eröffnet im Mai 2022 im House of Lords das britische Parlament – damals in Vertretung von Königin Elizabeth II.

Der heutige König Charles III. eröffnet im Mai 2022 im House of Lords das britische Parlament – damals in Vertretung von Königin Elizabeth II.

WPA Pool / Getty

Philip Norton ist ein Lord alter englischer Schule. Der steife Anzug versprüht Eleganz, die Begrüssung zeugt von galanter Förmlichkeit. Seit seiner Ernennung vor 25 Jahren ist er als Baron von Louth Abgeordneter des britischen Oberhauses. Im verwinkelten Parlamentsgebäude kennt er sich deshalb wie in seiner Westentasche aus. Zielstrebig führt der 72-Jährige ins Gastzimmer des Oberhauses, wo er zum Tee mit Blick auf die Themse lädt.

Norton ist Staatsrechtsprofessor an der Universität Hull; er gehört der Konservativen Partei an, ist aber eher Staatsdiener als Parteisoldat. Die Mitgliedschaft im House of Lords sieht er als Ehre – und als Verpflichtung. Auch darum schmerzt es ihn, dass das Oberhaus immer stärker in die Kritik gerät. «Ich bin unglücklich mit gewissen Entwicklungen», sagt er. «Und das ist noch mild ausgedrückt.»

Geistliche und Adlige

Für Aussenstehende wirkt das britische Oberhaus wie ein Anachronismus. Seine Ursprünge reichen zurück ins 14. Jahrhundert, als das Parlament in zwei separaten Kammern zu tagen begann. Vertreter der Städte und Gemeinden kamen im House of Commons zusammen. Geistliche und Adlige bildeten das House of Lords.

Bis 1999 bestand das House of Lords mehrheitlich aus Vertretern des Erbadels. Dann aber löste das Prinzip der Meritokratie jenes der Aristokratie ab: Zwar sitzen noch immer 90 Vertreter der alten Adelsfamilien und 25 Geistliche als «Lord Spirituals» im Oberhaus. Die Mehrheit der Lords wird heute aber aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verdienste ernannt – und nach dem Nutzen für die Förderer.

Premierminister von Tony Blair bis Boris Johnson haben das Oberhaus durch eine Flut von Ernennungen derart aufgebläht, dass es nun hinter Chinas Volkskongress als weltweit zweitgrösste Parlamentskammer gilt. Nähmen alle der beinahe 800 Oberhausabgeordneten – sie beziehen Tagespauschalen von bis zu 332 Pfund – gemeinsam an den Beratungen teil, platzte der Saal aus allen Nähten.

Auch eine Serie von Affären hat den Ruf der Lords beschädigt. Lady Mone, eine Baronin und Lingerie-Unternehmerin, wird wegen heikler Regierungsaufträge rund um die Beschaffung von Covid-Schutzausrüstung kritisiert. Für Aufruhr sorgte im Zug des Krieges in der Ukraine ausserdem, dass Boris Johnson Jewgeni Lebedew, einen russisch-britischen Milliardär und Sohn eines KGB-Agenten, als Baron von Hampton und Sibirien ins Oberhaus entsandt hatte.

Labour will Lords abschaffen

Mittlerweile wird offen über die Abschaffung des Oberhauses diskutiert. Der Labour-Parteichef Keir Starmer hat angedroht, im Fall eines Siegs bei der nächsten Unterhauswahl die Lords aus dem Westminster-Palast zu vertreiben. Die in den Umfragen führende Labour-Partei will das House of Lords durch eine Kammer demokratisch gewählter Vertreter der britischen Regionen und Nationen ersetzen.

Philip Norton.

Philip Norton.

PD

Wenn man Lord Norton von Louth auf diese Pläne anspricht, verzieht er das Gesicht. «Grossbritannien ist nun einmal kein Bundesstaat mit Kantonen oder Bundesländern, sondern ein Einheitsstaat», sagt er kopfschüttelnd. Erhielte Grossbritannien eine zweite gewählte (und damit demokratisch legitimierte) Kammer, würde dies zu Blockaden wie in den USA führen, argumentiert er.

Heute aber ergänzten sich die beiden Kammern ideal. «Das gewählte Unterhaus münzt das Wahlprogramm der Regierungspartei in Gesetzesvorschläge um», erklärt Norton. «Die Experten im Oberhaus stellen die Ziele dieser Vorschläge nicht infrage, aber erhöhen in der Detailberatung die Qualität der Gesetzgebung.» Die Lords können ein Gesetz aus dem Unterhaus verzögern, aber nicht stoppen – auch wenn sie mit einer Flut von Änderungsanträgen die Regierung oft zum Umdenken bewegen.

Prunkvolle Kammer

Wer von der Tribüne aus einer Debatte im Oberhaus beiwohnt, ist unweigerlich beeindruckt von der prunkvollen Kammer. Hinten im Saal steht der einem goldenen Krönungsstuhl aus dem 14. Jahrhundert nachgebildete Thron, auf dem bei der jährlichen Parlamentseröffnung jeweils der Monarch Platz nimmt. Die Wappen zwischen den Holzwänden und der Galerie gehen auf Könige und Oberhausvorsitzende seit 1377 zurück. Allegorische Fresken stellen die Gerechtigkeit, die Religion und die Ritterlichkeit dar – die wichtigsten viktorianischen Tugenden.

Der Lord Speaker sitzt auf dem «Woolsack», einem mit Wolle gestopften roten Kissen. Im Vergleich zum Speaker im Unterhaus, der resolut für Ordnung sorgt, spielt der Vorsitzende des Oberhauses eine viel zurückhaltendere Rolle. Das House of Lords versteht sich als Kammer, die sich selber reguliert und keine parteipolitisch geprägte Debattenkultur pflegt.

An diesem Nachmittag steht eine Debatte über die Wirtschaftslage an, die ein gutes Dutzend ergraute Lords auf die roten Bänke gelockt hat. Auffallend ist, dass viele ehemalige Minister oder Oppositionspolitiker das Wort ergreifen. Eigentlich sollen im Oberhaus Vertreter der britischen Gesellschaft dank ihrer Erfahrung aus Wissenschaft, Kultur, Sport oder Wirtschaft die Gesetzgebung verbessern. In der Realität aber haben Labour und Tories viele ideologische Gesinnungsgenossen, Parteikader, Spender oder Minister zu Lords gemacht. Boris Johnson berücksichtigte auch seinen jüngeren Bruder.

Den Premierministern die Hände binden

Für Aufregung sorgen immer wieder die «Resignation Honours Lists», mit denen Premierminister nach ihrem Rücktritt Oberhausabgeordnete ernennen dürfen. Liz Truss, die 49 Tage als Premierministerin verbrachte, sah sich bemüssigt, vier ideologischen Verbündeten einen Sitz im House of Lords zuzuschanzen. Mit Spannung erwartet wird die Publikation von Boris Johnsons Liste: Er wollte ursprünglich etwa hundert Personen mit einem Ehrentitel versehen, liess sich aber laut Medienberichten dazu überreden, die Liste zu halbieren.

Lord Norton verwirft seufzend die Hände. Dass Premierminister nach Belieben Verbündete zu Lords ernennen, sieht er als Ausdruck eines generellen politischen Sittenzerfalls. Um den Premierministern mehr Zurückhaltung aufzuerlegen, hat er einen Reformvorschlag ausgearbeitet. Konkret sollen Regierungschefs für die Ernennung von Lords die Zustimmung einer unabhängigen Kommission einholen müssen.

Diese Kommission existiert bereits, sie ist aber zahnlos. Neu soll sie robuste Qualitätsanforderungen an die Kandidaturen stellen. Zudem will Norton festschreiben, dass das Oberhaus die Diversität der Gesellschaft spiegeln muss und nicht grösser sein darf als das Unterhaus.

«Wir Briten mögen keine Revolutionen»

Der Reformvorschlag, den Norton in eine Gesetzesinitiative gegossen hat, würde die Vorteile einer Experten-Kammer bewahren und nicht alle Skurrilitäten beseitigen. Es wären weiterhin 90 Vertreter des Erbadels in den britischen Gesetzgebungsprozess involviert sowie 25 anglikanische Bischöfe, die laut Norton freilich die Perspektive aller Religionen einbringen: «Darum haben sich der Rat der britischen Muslime oder der Ausschuss der Juden für die Beibehaltung der Lord Spirituals ausgesprochen.»

Lord Norton von Louth trinkt seinen Tee aus und lächelt sanft. Er weiss, dass Labour die Abschaffung des Oberhauses selbst im Fall eines Kantersiegs bei der nächsten Unterhauswahl kaum wird durchsetzen können. Eine radikale Staatsreform gegen den Willen der Lords und ohne überparteilichen Konsens zu erzwingen, würde enorm viel politisches Kapital absorbieren. «Wir Briten mögen keine Revolutionen», sagt Norton. «Wir verändern uns lieber Schritt für Schritt.»

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