Die Ewigkeit bekommt ein Ablaufdatum

Radioaktiver Abfall, der nur noch 300 statt 300 000 Jahre strahlt? In Belgien arbeiten Wissenschafter an einer nachhaltigen Lösung für das Atommüll-Problem. Das könnte die Gleichung im politischen Streit um die Kernenergie entscheidend verändern.

Daniel Steinvorth, Mol
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Prototyp eines Linearbeschleunigers in Louvain-la-Neuve: Noch nie war es so realistisch, Atommüll zu entschärfen.

Prototyp eines Linearbeschleunigers in Louvain-la-Neuve: Noch nie war es so realistisch, Atommüll zu entschärfen.

© SCK CEN

Der Ort, der die Menschheit von einem ihrer grossen Probleme befreien will, ist mit Stacheldraht eingezäunt und nur über eine einsame Landstrasse zu erreichen. An diesem Morgen verschwindet er fast im Nebel. An einer Sicherheitsschranke stehen Soldaten. Sie verlangen Papiere und klären auf, dass auf dem Areal nicht fotografiert werden darf.

Der Besucher des nuklearen Forschungsinstituts SCK CEN nahe der belgischen Kleinstadt Mol fühlt sich wie in einem Agentenfilm, in dem es um ein gut gehütetes Geheimnis geht. «Exploring a better tomorrow» heisst passenderweise das Motto der hier arbeitenden Leute. Erkundung eines besseren Morgens. Das hört sich nach James Bond an.

Ein Reaktor mit wohlklingendem Namen

Hinter dem Stacheldraht ist die Atmosphäre jedoch entspannt. Eine junge Forscherin empfängt in einer mehrgeschossigen Werkhalle voller Röhren und Behälter, Kabel und Monitoren. Die Belgierin Katrien van Tichelen ist es gewohnt, Laien in die Geheimnisse der Atomphysik einzuweihen. Geduldig zeigt die Nuklearingenieurin dem Besucher das Miniaturmodell eines neuartigen Kernreaktors und erklärt, was es damit auf sich hat.

«Wir bauen hier einen Forschungsreaktor, in dem ein Teilchenbeschleuniger mit einem Kernreaktor gekoppelt ist», sagt van Tichelen. «Damit verfolgen wir mehrere Ziele. Zum Beispiel die Herstellung von medizinischen Radioisotopen zur Behandlung von Krebs. Am wichtigsten aber wird die Umwandlung von radioaktiven Abfällen in Substanzen mit deutlich kürzerer Halbwertszeit sein.»

Transmutation heisst das Verfahren. Im Mittelalter stand der Begriff für die irrige Hoffnung, unedle Metalle in Gold oder Silber zu verwandeln. Vergeblich suchten die Alchemisten dafür nach dem Stein der Weisen. Weitaus erfolgreicher sind da die Wissenschafter im Atomzeitalter, denen es gelungen ist, gefährliche Stoffe wie Plutonium in harmlosere Elemente umzuwandeln.

Bereits in den Neunzigern wurde die Technik im Labor erprobt. In Mol wollen die Wissenschafter den Beweis erbringen, dass die Entschärfung von Atommüll auch im grossen Massstab funktionieren kann. Mittlerweile, glauben sie, ist dies nur eine Frage von wenigen Jahren. Noch in diesem Herbst soll mit dem Bau des sogenannten multifunktionalen hybriden Forschungsreaktors für Hightech-Anwendungen, kurz: Myrrha, begonnen werden.

Inspiriert von sowjetischen U-Booten

Wie aber funktioniert die Anlage mit dem wohlklingenden Namen? Die Forscher erklären es so: Ein Teilchenbeschleuniger erzeugt einen Strahl aus Protonen. Dieser wird auf einen Tank mit einer geschmolzenen Legierung aus Blei und Wismut im Inneren des Kernreaktors geleitet. Die Protonen bringen die Atome der Legierung dazu, Neutronen abzuspalten. Diese Neutronen sind extrem schnell und somit fähig, auch den langlebigsten Atommüll zu spalten. Bestrahlen sie die Brennelemente mit den radioaktiven Abfällen, wird deren Zerfall radikal beschleunigt.

Linearbeschleuniger

Linearbeschleuniger

Dabei dient das flüssige Metall aber nicht nur als Neutronenquelle. Es wird auch als Kühlmittel für den Reaktor benutzt. «Herkömmliche Kernreaktoren kühlen mit Wasser. Wir verwenden Blei und Wismut», sagt van Tichelen und verweist den Besucher auf einen Behälter, dessen reflektierende Oberfläche wie dunkle Tinte aussieht. Doch es ist eine 180 Grad Celsius heisse Metallschmelze, in die van Tichelen einen Löffel taucht.

Transmutationsreaktor

Transmutationsreaktor

Auf die Idee, das Gemisch als Kühlflüssigkeit zu benutzen, seien erstmals die Russen gekommen, erzählt sie. In den 1960er Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, baute die Sowjetunion mehrere Atom-U-Boote, die mit durch Blei und Wismut gekühlten Reaktoren angetrieben wurden. Wegen des hohen Siedepunkts der Legierung, der bei 1670 Grad liegt, erwiesen sich diese als wesentlich effizienter gegenüber wassergekühlten Reaktoren.

Die Ingenieurin erklärt, dass die Wärme, die bei der Transmutation entsteht, über das Kühlmittel nach aussen transportiert werden kann. So würde Energie frei werden, und diese liesse sich nutzen, um Strom zu erzeugen. Das Myrrha-Konzept wäre also nicht nur für den Bau von Anlagen zu gebrauchen, die Atommüll als Brennstoff verwenden und so das Erbe abgeschalteter AKW beseitigen. Es könnte die überschüssige Energie auch in die Stromnetze einspeisen.

Die Blei-Wismut-Legierung spielt eine wichtige Rolle bei der Transmutation.

Die Blei-Wismut-Legierung spielt eine wichtige Rolle bei der Transmutation.

© SCK CEN

Wen wundert es da, dass Hamid Ait Abderrahim, der «Vater» des Myrrha-Projekts und stellvertretende Generaldirektor von SCK CEN, ein äusserst gut gelaunter Mann ist? Wir treffen uns in der Katholischen Universität in Louvain-la-Neuve. Hier wird der Teilchenbeschleuniger getestet, und hier hält «Monsieur Nucléaire» einmal in der Woche Vorlesungen zur Nukleartechnik. Er habe sich schon als Schüler in Algerien in das Gesetz des radioaktiven Zerfalls verliebt, erzählt Ait Abderrahim und lächelt. 1979 wanderte er nach Belgien aus, wo er studierte und sich seinen Traum, Atomforscher zu werden, erfüllte.

«Ein Super-GAU? Unmöglich»

Er habe keinen Zweifel, sagt der 61-Jährige, dass die Kernenergie mit Myrrha nachhaltiger werde und dass sie deswegen eine neue Bewertung verdiene. «Machen wir uns die Dimension klar. Es gibt radioaktive Abfälle, die 300 000 Jahre strahlen. Sie können diese Abfälle tief in der Erde vergraben, wo sie wahrscheinlich die Menschheit überleben werden. Sie können den Müll aber auch umwandeln und damit seine Menge auf ein Hundertstel reduzieren. Was übrig bleibt, hat nur noch eine Radiotoxizität von 300 Jahren.»

Tatsächlich gibt es für den wachsenden Berg an abgebrannten Brennstäben bis heute keine zufriedenstellende Lösung. Weltweit suchen die Staaten nach geeigneten Endlagern. In Europa wird derzeit nur in Finnland eines fertiggestellt. Für Länder, die an der Kernenergie festhalten, sowie für solche, die aussteigen, klingt die Transmutation also verlockend.

Was aber ist mit der Sicherheit, dem anderen wichtigen Einwand der Kernkraftgegner? Schliesslich müssen für das Atommüll-Recycling ja neue Reaktoren gebaut werden. Ait Abderrahim hat auf dieses Stichwort nur gewartet. «In Reaktoren nach dem Vorbild von Myrrha wird ein Super-GAU unmöglich sein. Warum? Weil es im Reaktor selber nicht genügend spaltbares Material gibt. Die Kernreaktion wird nur durch den Teilchenbeschleuniger aufrechterhalten. Schaltet man ihn ab, hört der Prozess auf. Und zwar sofort. In weniger als einer Millionstelsekunde.»

Seit die belgische Regierung vor drei Jahren beschlossen hat, Mittel in Höhe von 558 Millionen Euro für Myrrha bereitzustellen, arbeiten die Forscher mit Hochdruck an der Sicherheit des Systems. Beträgt die Länge des Testbeschleunigers in Louvain-la-Neuve nur 10 Meter, so sind für den Bau des echten Linearbeschleunigers in Mol 400 Meter geplant. 1,6 Milliarden Euro werden für das Gesamtprojekt benötigt. Vorerst sind an der Stelle, wo die Anlage künftig stehen wird, nur gefällte Bäume zu sehen.

Im Land des Atomiums

Ist es ein Zufall, dass sich die Zukunft der Kernenergie ausgerechnet im kleinen Belgien entscheiden könnte? Bergleute hatten schon in den 1920er Jahren in der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo Uranerz geschürft, das für die Herstellung von Radium gebraucht wurde. Für das Manhattan Project, also für den Bau der Atombombe, benötigten die USA in den 1940er Jahren grosse Mengen an Uran. Die anglo-belgische Bergbaugesellschaft lieferte es, wofür Belgien nach dem Krieg Zugang zur Nukleartechnologie für zivile Zwecke erhielt. Das führte 1952 zur Gründung des SCK CEN in Mol.

In dem für die Brüsseler Expo 58 errichteten Atomium spiegelte sich der damalige Fortschrittsoptimismus. Der erste Druckwasserreaktor, der ausserhalb der USA Strom produzierte, stand 1962 in Mol. Belgien gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Cern in Genf und zu den Erstunterzeichnern des Euratom-Vertrags, der eine Säule der europäischen Einigung wurde. Kommerzielle Kraftwerke baute das Land jedoch erst ab 1974, an den Standorten Tihange und Doel. Kurz darauf entstanden die ersten Anti-AKW-Gruppen.

Atommüll wird aus dem Forschungsreaktor in Mol Anfang der 1970er verladen.

Atommüll wird aus dem Forschungsreaktor in Mol Anfang der 1970er verladen.

AP

2003 beschloss die belgische Regierung, in der zum ersten Mal auch grüne Politiker sassen, bis zum Jahr 2025 aus der Atomkraft auszusteigen. Das blieb lange Zeit Konsens. Doch die globale Klimakrise veränderte die Debatte. Warum auf einen Energieträger, der stabil Strom liefere und kaum CO2 erzeuge, verzichtet werden sollte, fragte das wachsende Lager der Ausstiegsskeptiker. Und woher den Ersatz für die fossilen Brennstoffe nehmen, wenn der Energiebedarf noch wachsen werde?

Ende Dezember rettete Belgiens liberaler Ministerpräsident Alexander De Croo seine in dieser Frage völlig zerstrittene Sieben-Parteien-Koalition mit einem Kompromiss ins neue Jahr: Beim Abschalttermin für Doel und Tihange werde es bleiben. Zugleich solle der Staat aber in die Forschung an neuen Minireaktoren, sogenannten Small Modular Reactors (SMR), investieren. Ein Wiedereinstieg in die Kernenergie wäre damit keineswegs ausgeschlossen.

Gespaltener Kontinent

Dreht sich auch im Rest von Europa der Wind? Die EU-Kommission erzeugte jedenfalls zu Jahresbeginn einen grossen Wirbel, als sie ihr Regelwerk für «grüne» Geldanlagen veröffentlichte. Die Kommission kann den Mitgliedstaaten zwar nicht vorschreiben, wie sie Strom erzeugen sollen. Die Behörde hat sich aber vorgenommen, gezielt Investitionen in nachhaltige Bahnen zu lenken. Dass die Kernenergie auf dieser Liste als klimafreundlich eingestuft wurde, war ein klares Signal. Frankreich und eine Reihe ostmitteleuropäischer Staaten, die verstärkt in die Atomkraft investieren, reagierten entzückt. Deutschland, das in diesem Jahr seine letzten Meiler abschaltet, protestierte.

Atomphysiker Hamid Ait Abderrahim

Atomphysiker Hamid Ait Abderrahim

Klaas De Buysser

Der belgische Nuklearforscher Ait Abderrahim hat die Diskussion verfolgt. Er sagt, die Deutschen hätten eine demokratische Entscheidung getroffen, die er nicht infrage stellen wolle. Er stelle aber fest, dass die Forschung in der Lage sei, auf das Abfall- und Sicherheitsproblem eine Antwort zu geben. Seine persönliche Meinung? «Nur durch eine Kombination aus erneuerbaren Energieträgern und Kernreaktoren der nächsten Generation können wir die globale Klima- und Energiekrise bewältigen.»

Für die Zukunft hat sich «Monsieur Nucléaire» einige Gedanken gemacht. Er stellt sich die Gründung eines europäischen Transmutationssektors vor, in dem die Staaten ihre Kräfte bündeln. Und er rechnet vor, dass zur Verarbeitung des Atommülls aus derzeit 144 europäischen Kernkraftwerken eine «Flotte» aus 15 Transmutationsreaktoren notwendig wäre, welche eine Leistung von 6 Gigawatt an thermischer Energie erbringen müsse. Investitionen in der Höhe von 10 bis 15 Milliarden Euro seien für die Industrialisierung dieser Technologie notwendig. «Es ist meine Vision, dass die Atomkraft ihren Schrecken verliert und nachhaltig wird», sagt Ait Abderrahim.

Dem Brüssel-Korrespondenten Daniel Steinvorth auf Twitter folgen.

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