Die Katalanen machen Brüssel zur politischen Kampfzone

45 000 Katalanen sind zu einer Grossdemonstration nach Brüssel gereist, um die Unabhängigkeitsfrage zu europäisieren. Der abgesetzte Regionalpräsident Puigdemont verfolgt dabei aber vor allem innenpolitische Ziele.

Niklaus Nuspliger, Brüssel
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Mit einer Grossdemonstration versuchen die Katalanen, die Unabhängigkeitsfrage zu europäisieren. (Bild: Francois Lenoir / Reuters)

Mit einer Grossdemonstration versuchen die Katalanen, die Unabhängigkeitsfrage zu europäisieren. (Bild: Francois Lenoir / Reuters)

In Brüssel gehören politische Kundgebungen zum Alltag. Einen Aufmarsch wie am Donnerstag aber erlebt die EU-Hauptstadt selten: 45 000 Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit sind nach Polizeiangaben durchs Europaviertel gezogen, angereist nach 15-stündiger Fahrt in Privatautos, Wohnmobilen und Reisebussen. Zum Vergleich: An einer Bauerndemo im Jahr 2015 oder einer Kundgebung von Gegnern des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA (TTIP) 2016 nahmen jeweils weniger als 10 000 Personen teil. Nun aber versinkt Brüssel an diesem nassgrauen Herbsttag in einem farbigen katalanischen Fahnenmeer – in Sprechchören und auf Transparenten forderten die Demonstranten, Europa möge angesichts des Schicksals der Katalanen endlich aufwachen.

Enttäuschte Hoffnungen

Die Demonstration ist ein weiterer Versuch, die katalanische Frage zu europäisieren. Der nach der unilateralen Unabhängigkeitserklärung abgesetzte Regionalpräsident Carles Puigdemont war Ende Oktober nach Brüssel geflüchtet. Sein Schicksal schlug in Belgien hohe Wellen. Und dass das Oberste Gericht Spaniens aus Furcht vor Vorbehalten der belgischen Justiz den Europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont zurückzog, interpretierte dieser als Zeichen dafür, dass Madrid Angst habe vor dem «Blick der Weltöffentlichkeit». Puigdemont kündigte an, zumindest bis zur Regionalwahl vom 21. Dezember in Belgien zu bleiben. Bis dahin will er Druck aufbauen, damit es sich Madrid nicht leisten könne, ihn im Falle eines Wahlsiegs und einer Rückkehr nach Barcelona ins Recht zu fassen.

Unmittelbare Auswirkungen auf die Agenda der Brüsseler Institutionen hat der Grossaufmarsch nicht. Doch der Verkehr ist im Europaviertel weitgehend lahmgelegt, die Eingänge von Bürogebäuden sind schwer zugänglich. Die Stimmung in den Strassen ist fröhlich und friedlich, aber die Wut auf Madrid ist gross. Die 73-jährige Josefina Illan ist mit ihrer Tochter, ihrem Schwager und ihrem Enkel aus Barcelona angereist. Da in Brüssel alle Unterkünfte ausgebucht waren, verbrachten sie die Nacht in Frankreich, viele Demonstranten campierten in Brüssel in Wohnwagen auf öffentlichen Parkplätzen. Josefina Illan hat für die spanische Regierung nur Schimpfwörter übrig, sie zieht Vergleiche zur Franco-Diktatur und fordert die Hilfe der EU. «Wir nehmen hier unsere Rechte als EU-Bürger wahr», sagt sie, «das Mindeste wäre eine Antwort.»

Ihre Enttäuschung über die Untätigkeit der EU tragen die Demonstranten auf der Zunge. Für den 37-jährigen Oswald aus der Stadt Lleida ist das Schweigen der EU Ausdruck einer «Wertekrise». «Europa steht für Demokratie und Bürgerrechte, lässt aber zu, dass man unsere Politiker ins Gefängnis steckt.» In der proeuropäisch ausgerichteten Unabhängigkeitsbewegung sei Ernüchterung eingekehrt. Auch Puigdemont mauserte sich vom Proeuropäer zum Skeptiker und bezeichnete die EU in einem Interview als «Klub dekadenter und veralteter Länder». Spanien und die EU-Kommission argumentieren, dass ein unabhängiges Katalonien nicht mehr Teil der EU wäre und ein neues Beitrittsgesuch stellen müsste. Nachdem sich Puigdemont lange gegen diese Argumentation gestellt hatte, fordert er nun ein Referendum über einen katalanischen EU-Austritt.

In der belgischen Kampfzone

Dass die Kundgebung die Haltung der EU ändern wird, glaubt Demonstrant Oswald nicht. Ohnehin ist die Europäisierung der Krise für Puigdemont und seine Mitstreiter zu einem Mittel des Wahlkampfs geworden – und Brüssel zur politischen Kampfzone. Fast jeden Tag gibt es im Europaparlament oder in den lokalen Kulturinstitutionen Lesungen, Konzerte oder Aktionen für und gegen Separatismus und Unabhängigkeit.

Viele Demonstranten führen flämische Fahnen mit, die nationalistische Aktivisten aus dem niederländischsprachigen Teil Belgiens verteilen. In der Menge sind auch Abgeordnete der Neu-Flämischen Allianz (N-VA), die einen Spagat zwischen Regierungsverantwortung auf Bundesebene und dem Ziel der flämischen Unabhängigkeit vollzieht. Der Rückzug des europäischen Haftbefehls gegen Puigdemont hat die katalanische Krise für Belgien innenpolitisch entschärft. Doch für die N-VA bleibt Solidarität mit den Katalanen eine wunderbare Gelegenheit, die nationalistische Thematik am Köcheln zu halten, ohne institutionelle Fragen in Belgien direkt anzusprechen.