Die EU stellt Serbien ein halbes Ultimatum in der Kosovofrage

Angesichts des Krieges in der Ukraine will der Westen die Kosovofrage schnell ad acta legen. Jetzt wird der Druck auf die Parteien erhöht. Doch das allein wird nicht reichen.

Andreas Ernst 4 min
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Unter dem Blick der Väter: Präsident Aleksandar Vucic vor der Büste von Aleksandar Obrenovic, 1889 bis 1903 König von Serbien.

Unter dem Blick der Väter: Präsident Aleksandar Vucic vor der Büste von Aleksandar Obrenovic, 1889 bis 1903 König von Serbien.

Darko Vojinovic / AP

Serbien hat historische Erfahrungen mit Ultimaten. 1914, nach dem Attentat von Sarajevo, verlangte Österreich-Ungarn, dass Belgrad österreichische Ermittler ins Land lasse. 1999 forderten die Westmächte Serbien auf, die Kontrolle Kosovos der Nato zu überlassen. Beide Male lehnte Belgrad ab, und beide Male kam der Angriff.

Das erklärt vielleicht die heftige öffentliche Reaktion auf Präsident Aleksandar Vucics Fernsehansprache vom Wochenbeginn, wonach die «grossen fünf» ihm ein Ultimatum in der Kosovofrage gestellt haben. Die fünf Emissäre waren von der EU, den USA, Deutschland, Frankreich und Italien gesandt worden.

Die fünf, so Vucic, hätten ihm einen Entwurf für die Regelung der Beziehungen zu Kosovo unterbreitet und gemahnt: Lehne Serbien ab, müsse es mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen rechnen. Konkret: Stopp der EU-Beitrittsgespräche, Sistierung von EU-Zahlungen und Behinderung europäischer Investoren auf dem serbischen Markt. So weit die Darstellung von Vucic.

Dass es ein solches Ultimatum gibt, dementieren der französische Botschafter und seine deutsche Kollegin in Belgrad. Man wolle weder erpressen noch mit Sanktionen belegen, sagten die Diplomaten. Vielmehr solle zum Nutzen von Serben und Kosovaren ein Ausweg aus der verfahrenen Situation gefunden werden. Werde die Chance verpasst, habe das natürlich Konsequenzen. Ein halbes Ultimatum also?

Der Grundlagenvertrag von 1972 als Vorbild

Der Vorschlag auf dem Tisch ist in ähnlicher Form schon vor zehn Jahren ins Spiel gebracht worden. Er ist inspiriert vom Ausgleich zwischen der BRD und der DDR 1972, dem sogenannten Grundlagenvertrag. Die beiden Parteien anerkennen die Existenz des andern in den bestehenden Grenzen, verkehren wirtschaftlich und politisch miteinander, pflegen aber keine diplomatischen Beziehungen. Es geht im Kern um eine faktische, nicht aber juristische wechselseitige Anerkennung.

Für Kosovo wichtig ist vor allem der Passus, der besagt, dass Belgrad ihm keine Hindernisse beim Beitritt zu internationalen Organisationen in den Weg legen darf. Der Beitritt zu den Vereinten Nationen und zum Europarat wäre für Kosovo ein wichtiger Schritt zur Vollendung der sogenannten äusseren Staatsbildung. Knapp die Hälfte der Uno-Mitgliedstaaten anerkennt das Land nicht.

In seiner einstündigen, von dramatischen Pausen unterbrochenen Ansprache sagte Vucic, Serbien stünden schwere Zeiten bevor. Der Krieg in der Ukraine sei auch ein Krieg zwischen Europa und Russland. Deshalb steige der Druck auf Serbien, sich auf die Seite des Westens zu schlagen und Sanktionen gegen Russland zu ergreifen. Ausführlich verwies Vucic auf die grosse Bedeutung der engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland, die unentbehrlich seien und von denen Zehntausende Arbeitsplätze in Serbien abhingen.

Seinem Aufruf, das Land müsse nun zusammenstehen, wird die zersplitterte Opposition nicht folgen. Sie wirft Vucic vor, sich dem Ultimatum zu beugen und das Land zu verraten. Selbst in der eigenen Partei wird gemurrt. Aber niemand traut sich, den übermächtigen Präsidenten offen herauszufordern.

Auch Kosovos Regierungschef gerät unter Druck

Auch Vucics Gegenspieler, der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti, wird in die Zange genommen. Während die EU Belgrad bearbeitet, sind für Kosovo die Amerikaner zuständig. Weil Kurti sich strikt weigert, einen teilautonomen Verband serbischer Gemeinden in Kosovo zuzulassen, hat die amerikanische Botschaft das Heft in die Hand genommen und beginnt Konsultationen mit Parteien und NGO.

Ethnische Siedlungsgebiete in und um Kosovo

Ethnische Siedlungsgebiete in und um Kosovo

Für Kurti, der sich seit je im antikolonialistischen Befreiungskampf sieht, zuerst gegen Serbien, dann gegen das Uno-Protektorat, ist das eine ungeheure Provokation: Die Vertreter einer Grossmacht mischen sich direkt in die hoheitliche Kompetenz der Regierung ein. Doch offenen Widerstand gegen die USA kann er sich nicht leisten. Amerika ist in Kosovo populär und gilt als Garant der staatlichen Existenz.

Der Zangengriff des Westens in Bezug auf das jahrzehntelang verschleppte Kosovoproblem ist eindrücklich. Er zeugt vom Bewusstsein, dass angesichts der Konfrontation mit Russland eine Destabilisierung auf dem Balkan um jeden Preis verhindert werden muss. Mit vereinten Kräften soll durchgedrückt werden, was aus Sicht Brüssels und Washingtons ein Kompromiss ist: Serbien anerkennt de facto Kosovo, dafür räumt Kosovo «seinen» Serben Autonomie ein.

Doch der Ansatz hat zwei Haken. Aus serbischer Perspektive ist er kein Kompromiss, schliesslich ist klar, dass der faktischen Anerkennung die juristische folgen wird – das ist ja der Sinn des Plans. Und wichtiger noch: Der Westen hat zwar ein grosses Sanktionspotenzial, das er gegen Belgrad und Pristina einsetzen kann. Aber er hat kaum Anreize für deren Wohlverhalten anzubieten.

Was früher immer funktionierte, das Versprechen der EU-Mitgliedschaft, ist unglaubwürdig geworden. Serbien und Kosovo wissen, dass die Beitrittshürden unüberwindbar sind. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass die EU neue Formen der Integration für schwierige Staaten braucht, wenn sie strategisch erfolgreich handeln will.