Der Fall George Santos: Wie der amerikanische Traum zum grossen Bluff verpuffte

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird jeder ermuntert, über sich hinauszuwachsen. Es geht nicht darum, woher man kommt, sondern, wohin man geht. Das ist befreiend, verleitet aber auch zu Schönfärberei, Hochstapelei und Betrug.

David Signer, Chicago 5 min
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Der republikanische Abgeordnete George Santos am jährlichen Treffen der Republican Jewish Coalition von 19. November 2022 in Las Vegas. Santos behauptete im Wahlkampf fälschlicherweise, er sei Jude.

Der republikanische Abgeordnete George Santos am jährlichen Treffen der Republican Jewish Coalition von 19. November 2022 in Las Vegas. Santos behauptete im Wahlkampf fälschlicherweise, er sei Jude.

Scott Olson / Getty

«Ich bin die Verkörperung des amerikanischen Traums», hatte der neu gewählte republikanische Abgeordnete George Santos während seiner Kampagne gesagt, in der er einen zusammenphantasierten Lebenslauf zum Besten gab. Er behauptete fälschlicherweise, er sei jüdisch und seine Grosseltern seien Holocaust-Überlebende, seine Mutter habe eine leitende Stelle in der Finanzbranche innegehabt und sei bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ums Leben gekommen, er habe einen Universitätsabschluss und habe an der Wall Street als Investor gearbeitet, verfüge über ein grosses Vermögen und sei Betreiber einer Tierschutzorganisation.

Die Beispiele Elizabeth Holmes und Anna Sorokin

Santos bezeichnet sich als homosexuell und lebt nach eigenen Angaben mit seinem Ehemann zusammen. Bis 2019 war er jedoch mit einer Frau verheiratet, von der er sich zwei Wochen vor Bekanntgabe seiner Kandidatur für ein Mandat im Repräsentantenhaus scheiden liess, was er nie erwähnte. Er stammt in Wirklichkeit aus einer katholischen Familie, seine Mutter war Putzfrau, und über höhere Bildung verfügt er nicht. Nach der Highschool verbrachte er mehrere Jahre in Brasilien, wo er offenbar als Dragqueen arbeitete.

Es ist faszinierend, dass Santos mit seinen Lügen so lange davonkam. Es wäre ein Leichtes gewesen, seine fabrizierte Biografie zu überprüfen. Aber offenbar bestand kein Bedürfnis danach. Sie klang schillernd, und man wollte sie glauben.

In der Schweiz wäre das nicht möglich, nur schon wegen ihrer Kleinräumigkeit. In den USA hingegen – bei Santos kam noch Brasilien dazu – kann man seine Spuren leichter verwischen. Es gehört geradezu zum guten Ton, nach einem Fehlschlag woanders von vorn zu beginnen und sich neu zu erfinden.

Gibt es darüber hinaus amerikanische Eigenarten, die Hochstapelei, Betrug und Figuren wie Santos begünstigen? Immerhin kommen einem rasch ähnliche Geschichten in den Sinn: Elizabeth Holmes, die es mit ihrer Laborfirma Theranos zur ersten Selfmade-Milliardärin der Welt brachte, aber letztes Jahr wegen Betrugs zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Oder Anna Sorokin, die sich als deutsche Erbin ausgab und vier Jahre lang in New York auf Kosten anderer eine Dolce Vita führte. Unter dem Titel «Inventing Anna» produzierte Netflix eine Miniserie über ihr unglaubliches Leben.

Einer der berühmtesten Hochstapler-Filme ist «Catch Me If You Can» mit Leonardo DiCaprio aus dem Jahr 2002. Er beruht auf der Lebensgeschichte des New Yorker Checkbetrügers Frank William Abagnale, der sich ohne Schulabschluss als falscher Pilot, Arzt und Rechtsanwalt ein Luxusleben gönnte und im Alter von 21 Jahren bereits einen Schaden von 2,5 Millionen Dollar angerichtet hatte. Heute ist er ein gutbezahlter Experte in Sachen Dokumentenfälschung.

«Nichts ist unmöglich»

Es gibt in den USA bekanntlich den etwas naiv anmutenden Mythos vom Selfmademan, der es aus eigener Kraft vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft hat. Tatsächlich ist die soziale Mobilität in Amerika allerdings geringer als in Europa. Das allgegenwärtige Credo, das man schon den Kindern eintrichtert, lautet: Glaube an dich, dann schaffst du es! Es ist ein Zelebrieren der Machbarkeit («Get the job done!») und des Selbstbewusstseins («Yes, we can!»).

Manchmal ist es jedoch ein fliessender Übergang von Meritokratie, also dem Erfolg durch Arbeit und Intelligenz, zu magischem Denken im Sinne von: Du musst es nur genug wollen, dann wird es wahr. Slogans wie «Nothing is impossible» suggerieren, dass es keine Grenzen gebe. Von dieser Illusion ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Bluff und Betrug. Nicht umsonst lautet eine weitere beliebte Redensart «Fake it till you make it» (sinngemäss: Tu so als ob – bis es gelingt). Bescheidenheit ist in den USA nicht unbedingt eine Tugend; eher verzeiht man jemandem vieles, solange er den Eindruck erweckt, er strebe optimistisch und kraftvoll nach vorn.

George Santos verlässt das Capitol und erklärt auf Nachfrage der Reporter, er werde trotz dem Druck von verschiedenen Seiten nicht zurücktreten (12. Januar 2023).

George Santos verlässt das Capitol und erklärt auf Nachfrage der Reporter, er werde trotz dem Druck von verschiedenen Seiten nicht zurücktreten (12. Januar 2023).

Win McNamee / Getty

Der von Santos bewunderte Donald Trump ist ein Paradebeispiel für einen solchen «Macher», der es mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt, dafür aber unterhaltsam und zupackend wirkt. Es ist bezeichnend, dass Trump als einen seiner Lehrmeister immer wieder Norman Vincent Peale erwähnt.

Positives Denken, Neugeist-Bewegung und Postmoderne

Peale war ein Geistlicher und Autor des Bestsellers «Die Kraft des positiven Denkens» aus dem Jahr 1952. Er gehört zur in den USA einflussreichen Neugeist-Bewegung (New Thought), die nicht nur davon ausgeht, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist (und umgekehrt jeder Erfolgreiche seinen Erfolg verdient hat), sondern auch, dass man durch geistige Kraft die Wirklichkeit umformen kann.

Von diesem religiös-philosophischen Idealismus – zu dem auch Übungen im Visualisieren des Erstrebten gehören, mit denen man die Verwirklichung beschwört – ist es ein kleiner Schritt zu Wunschdenken und Verleugnung der objektiven Realität. Man wird an «Die Welt als Wille und Vorstellung» von Arthur Schopenhauer erinnert oder an Pippi Langstrumpfs «Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt».

Möglich, dass Trump mit seinen Lügen die Messlatte des politisch Erlaubten tiefer legte. Hinzu kommt Realpolitik: Die Republikaner wollen Santos nicht absetzen, weil ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus sowieso schon knapp ist und sein New Yorker Wahlkreis eher den Demokraten zuneigt. Zudem gehört er zum rechten Parteiflügel, der nun überproportional viel Macht besitzt und von dem der erst im 15. Durchgang gewählte Speaker Kevin McCarthy abhängt.

Vor allem aber vermischt sich die uramerikanisch-christliche Vorstellung, dass der Glaube Berge versetze, heutzutage mit einer postmodernen Relativierung der Wirklichkeit als blossem «Konstrukt» und «Diskurs». Dazu passt, dass selbst das Geschlecht fluid und eine Frage der Wahl wird. Wer wollte es dem «kreativen» Santos also verargen, wenn er noch einen Schritt weiter geht und auch die eigene Biografie zur Erfindung erklärt? Damit schafft er es zu allem anderen auch noch, das eher republikanische Mantra vom Selfmademan mit einem eher demokratischen und woken Touch von Diversität zu versehen. Mehr «American Dream» geht kaum.