Interview

«Wir befinden uns in einer existenziellen Krise» – UNRWA-Chef Lazzarini nimmt Stellung zu den Vorwürfen gegen das Hilfswerk

Die Anschuldigungen gegen das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge wiegen schwer. Im Interview erklärt der Generalkommissar Philippe Lazzarini, wie er das Vertrauen wiederherstellen will und weshalb er nicht zurücktritt.

Jonas Roth, Peter Rásonyi, Genf 147 Kommentare 6 min
Drucken
Der Schweizer Philippe Lazzarini ist seit 2020 Generalkommissar des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten.

Der Schweizer Philippe Lazzarini ist seit 2020 Generalkommissar des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten.

Karin Hofer / NZZ

Herr Lazzarini, laut der israelischen Armee gibt es unter dem Hauptquartier der UNRWA in Gaza ein Datenzentrum der Hamas, das an die Stromversorgung des Hilfswerks angeschlossen ist. Hatten Sie jemals Hinweise darauf, dass diese Kabel existieren?

Ich habe wie Sie am Wochenende aus den Medien von diesem Tunnel erfahren. Wir haben das Hauptquartier am 12. Oktober geräumt. In den letzten vier Monaten waren wir im Norden des Gazastreifens nicht mehr präsent. In den letzten zwei oder drei Jahren gab es auch auf der Stromrechnung nichts Verdächtiges. Aber ich bin kein Experte für den Energieverbrauch. In der Vergangenheit haben wir bei jeder Inspektion unserer Einrichtungen, bei der ein Tunnel entdeckt wurde, bei der Hamas Protest eingelegt und die israelische Armee informiert. Nach dem Krieg wird es eine Untersuchung brauchen, um die Wahrheit festzustellen.

Glauben Sie, dass die Anschuldigungen wahr sind?

Wir wissen nicht, ob es dort einen Tunnel gibt. Vorläufig handelt es sich um Informationen, die von einer Konfliktpartei zur Verfügung gestellt wurden und von Medien, die dabei waren. Wir hatten in der Vergangenheit mehrere Diskussionen mit Israel über mögliche Tunnel unter UNRWA-Gebäuden. Meine Antwort war immer: Wenn ihr Informationen habt, dann teilt sie mit uns.

Haben Sie dort Mitarbeiter, die die Behauptungen bestätigen könnten?

Nein. Das UNRWA-Hauptquartier in Gaza ist jetzt eher ein israelisches Militärgelände.

Sie haben angegeben, dass die letzte Inspektion des UNRWA-Geländes in Gaza im September 2023 durchgeführt wurde. Was wurde bei dieser Inspektion überprüft?

Wir nennen das Neutralitätsinspektionen. Sie werden in allen UNRWA-Gebäuden durchgeführt. Dabei wird etwa geprüft, dass es keine problematischen Slogans oder Karten an den Wänden gibt. Es wird auch untersucht, ob es Hohlräume gibt. In der Vergangenheit hatten wir ein- oder zweimal den Verdacht, dass es unter einem UNRWA-Gebäude einen Tunnel geben könnte. Jedes Mal haben wir sofort die israelischen Behörden informiert und bei der Hamas protestiert. Daraufhin wurden die Tunnel jeweils zugeschüttet. Für eine gewisse Zeit konnten wir aus finanziellen Gründen keine Inspektionen durchführen, aber seit die USA 2021 ihre Finanzierungsleistungen wiederaufgenommen haben, haben wieder Inspektionen stattgefunden.

In dieser Aufnahme vom 8. Februar sind israelische Soldaten auf dem Gelände des UNRWA-Hauptquartiers in Gaza zu sehen.

In dieser Aufnahme vom 8. Februar sind israelische Soldaten auf dem Gelände des UNRWA-Hauptquartiers in Gaza zu sehen.

Dylan Martinez / Reuters

Israel hat auch den Vorwurf erhoben, dass zwölf UNRWA-Mitarbeiter am Terroranschlag der Hamas beteiligt gewesen seien. Sie haben diese Mitarbeiter umgehend entlassen. Hat Israel Ihnen Beweise für diese Anschuldigungen geliefert?

Israel hat mir diese Vorwürfe am 18. Januar mitgeteilt. Ich war der Meinung, dass sie so schwerwiegend und schockierend sind, dass sie ein schnelles und sofortiges Handeln erfordern. Viele haben mich dafür kritisiert, dass diese Männer ohne ein ordentliches Verfahren entlassen wurden. Aber in einer Situation, in der der Ruf und die Fähigkeit, unser Mandat zu erfüllen, auf dem Spiel stehen, kann ich als Generalkommissar diese Entscheidung treffen. Wir haben bis jetzt nicht mehr als die Informationen und Behauptungen, die uns von Israel mitgeteilt wurden. Nun gibt es eine Untersuchung. Sie wird die Fakten feststellen müssen. Wenn sich diese Anschuldigungen als wahr herausstellen, muss es natürlich eine strafrechtliche Verfolgung geben.

Kooperiert Israel mit den Ermittlungen?

Bis jetzt haben wir von Israel nicht mehr Informationen erhalten als das, was mir damals mitgeteilt wurde. Ich weiss, dass eine Akte mit einigen Medien und anderen Mitgliedsstaaten der Uno geteilt wurde. Ich nehme an, dass das Untersuchungsteam jeden, der Fakten hat, auffordern wird, diese mitzuteilen.

Seit vielen Jahren gibt es Vorwürfe gegen UNRWA-Mitarbeiter, dass sie mit der Hamas zusammenarbeiten oder Antisemitismus verbreiten. Kontrollieren Sie Ihr Personal nicht ausreichend?

Wird Ihr Privatleben von der NZZ überwacht?

Nein, aber es gibt hier keine Terrororganisation wie die Hamas.

Wann immer wir Anschuldigungen erhalten, überprüfen wir, ob sie wahr sind. Seit ich bei der UNRWA bin, haben wir mehr als fünfzig Untersuchungen durchgeführt, und wenn ein Fehlverhalten vorlag, wurden angemessene Massnahmen ergriffen. Es stimmt nicht, dass die UNRWA nichts getan hat. Wir sind sicherlich jene Uno-Organisation, die am meisten in Fragen der Neutralität investiert hat. Zusätzlich hat nun Generalsekretär Guterres drei skandinavische Institute unter dem Vorsitz der ehemaligen französischen Ministerin Catherine Colonna beauftragt, alle internen Mechanismen im Zusammenhang mit dem Risikomanagement und der Neutralität zu prüfen. Sie werden alle Aspekte von der Nutzung von Social Media über Schulbücher bis hin zu den Tunnel-Vorwürfen untersuchen.

Viele Anschuldigungen in Bezug auf Schulbücher und bestimmte Mitarbeiter sind schon sehr alt. Sie kommen alle Jahre wieder auf. Kommt diese Untersuchung nicht viel zu spät?

Viele der Anschuldigungen wurden von uns schon vor langer Zeit angegangen. Aber niemand sieht das wirklich. Dabei muss man auch beachten, dass es sich bei den Schulbüchern um jene des Gastgebers handelt, der Palästinensischen Autonomiebehörde. Bevor man Schulbücher ändern kann, braucht man die Unterstützung des Gastgebers. Es ist in einem gespaltenen und emotionalen Kontext wie diesem sehr schwierig, die palästinensische und die israelische Sichtweise in Einklang zu bringen. Wir können mehr tun, um dieses Thema anzusprechen. Das ist wahr. Und das ist definitiv meine Absicht.

Mehrere Länder haben die Finanzierung der UNRWA eingestellt. Wie wollen Sie das Vertrauen der Regierungen wiedergewinnen?

Viele der Länder, mit denen ich in Kontakt stehe, sind bereit, zurückzukehren. Denn sie sind sich bewusst, welche Katastrophe es wäre, wenn die UNRWA ihr Mandat nicht mehr erfüllen könnte. Sie ist die einzige Organisation, die für eine der ärmsten Bevölkerungsgruppen regierungsähnliche Dienstleistungen erbringt. An dem Tag, an dem die Militäroperation beendet ist, werden wir es allein im Gazastreifen mit mehr als einer halben Million Mädchen und Jungen zu tun haben, die zutiefst traumatisiert sind. Und die internationale Gemeinschaft wird nicht in Rehabilitation und Wiederaufbau investieren, solange kein echtes politisches Paket auf dem Tisch liegt. Was ist die Alternative zur UNRWA? Es gibt keine Uno-Organisation, die direkte Bildungsarbeit leistet. Es gibt keine Nichtregierungsorganisation in dieser Grössenordnung. Die Idee hinter der UNRWA ist, dass wir unsere Aufgaben irgendwann an einen Staat übergeben können. Aber niemand weiss, wie das gehen könnte; es könnte noch Jahre dauern.

Mit Libanon und Jordanien gibt es Staaten, die in ihren Ländern einen Grossteil der UNRWA-Aufgaben übernehmen könnten.

Waren Sie kürzlich in Libanon? Ich würde nicht sagen, dass man in Libanon einen richtigen Staat hat. Und abgesehen von den technischen Aspekten haben Sie hier auch eine politische Dimension. Eine Abschaffung der UNRWA, wie sie heute von einigen angestrebt wird, würde dem palästinensischen Volk das Gefühl geben, verraten worden zu sein. Das hätte sicherlich auch Auswirkungen auf die künftigen Aussichten auf Selbstbestimmung.

Israel hat Sie zum Rücktritt aufgefordert, und Sie haben das bereits abgelehnt. Könnte die UNRWA mit einer neuen Führung nicht zeigen, dass sie die Kritik verstanden hat und bereit ist, Dinge zu ändern?

Ich berichte an die Uno-Generalversammlung und wurde vom Generalsekretär ernannt. Israel ist nur ein Mitgliedsstaat. Wir haben ein Management, das die Kritik versteht. Wir haben viel investiert, um in einem ausserordentlich komplexen Umfeld zu beheben, was behoben werden kann. Es ist, wie ich schon sagte, ein sehr gespaltenes und emotionales Umfeld. Wir haben eine Nulltoleranz für jede Abweichung von den Uno-Standards eingeführt. Dazu haben wir uns verpflichtet.

In Rafah leben Hunderttausende von Menschen in improvisierten Zeltstädten.

In Rafah leben Hunderttausende von Menschen in improvisierten Zeltstädten.

Mohammed Salem / Reuters

Aber die Lage ist doch sehr ernst für Ihre Organisation.

Wir befinden uns heute in einer existenziellen Krise. Ich glaube nicht, dass es vernünftig wäre, das Schiff zu einem solchen Zeitpunkt zu verlassen. Denn der Aufruf richtet sich nicht nur an meine Person. Es geht um die Auflösung der Agentur. Schon bevor die jüngsten Anschuldigungen publik wurden, gab es Debatten in Ausschüssen der Knesset, welche als Ziel nicht nur die Zerstörung der Hamas, sondern auch der UNRWA und ihres Mandats nannten. Mein Rücktritt würde daran nichts ändern, denn das Ziel bliebe bestehen.

Am Montag hat Israel Uno-Organisationen gebeten, bei der Evakuierung von Rafah vor der geplanten Offensive zu helfen. Erwägen Sie, die Evakuierung zu unterstützen?

Evakuierung wohin? Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza. Die Bevölkerung ist bereits mehrfach umgezogen. Mehr als 100 000 Menschen wurden entweder getötet, verletzt oder sind vermisst. Im Gazastreifen sind fast 18 000 Kinder zu Waisen geworden. Und das in nur vier Monaten. Als ich vor vier Wochen in Gaza war, sah ich ein Meer von behelfsmässigen Plastikzelten für Hunderttausende von Menschen. Wohin sollen sie evakuiert werden? In den Norden? Der Norden ist mit nicht explodierten Sprengkörpern verseucht. Man kann die Bevölkerung nicht dorthin bringen. Dort herrscht akute Unterernährung, eine Hungersnot droht. Es gibt keinen Ort, an den man evakuieren kann.

Zur Person

Philippe Lazzarini

Philippe Lazzarini

Der Genfer führt das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) seit 2020. Zuvor arbeitete Lazzarini im Uno-Büro für die Koordination humanitärer Hilfe (Ocha) sowie für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
147 Kommentare
daniel strolz

Israel ist nur ein Migliedsstaat der UNO-Vollversammlung. Wer sich so äussert zeigt keinerlei Respekt noch Interesse für sein Gegenüber. Israel ist die wichtigste Partei in diesem Konflikt und Herrn Lazzarini ist es egal was Israel denkt. Daneben sagt er nichts was wir schon wissen. Die UNRWA macht alles richtig und will mehr Geld. Dass die UNRWA aber seit 75 Jahren nichts bewegt hat, lässt ihn völlig kalt. Dass das UNRWA eine Parallelorganisation zum UNHCR ist und doppelt soviel Geld zur Verfügung hat und den Flüchtlingsstatus pflegt anstatt zu integrieren ist ihm anscheinend auch egal. Das Ägypten und Jordanien eine Unterstützung seiner ehemaligen Staatsbürger blockiert scheint ebensowenig zu interessieren wie das die arabische Welt sich weigert 2 Millionen arabische Flüchtlinge aus Gaza aufzunehmen wohingegen Europa bereits rund 6 Millionen Ukrainer aufgenommen hat. Ich denke die restlichen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Magreb, etc. die Europa aufgenommen hat müssen an dieser Stelle nicht extra erwähnt werden. OHerr Lazzarini, wie bei jeder maroden Firma: treten sie zurück und schliessen Sie ab! Die Gelder können in jedem anderen Hilfswerk besser verwendet werden.

Frank Pinter

Hr Lazzarini sagt es selber: Die UNRWA erledigt die Arbeit anstatt der zuständigen Verwaltungen und sorgt für Schulen und public service. Dank dieses crowding outs muss sich Hamas  "nur" noch um den Bau von Tunnels, Propaganda, Waffenbeschaffung und Sold von Kämpfern kümmern. Ausserdem schaut die UNRWA aus Nachlässigkeit oder ideologischer Verbundenheit weg, wenn eigene Mitarbeiter Hamas-Kämpfer sind oder sie Infrastruktur mit ihr teilt. Es ist unglaubwürdig zu behaupten, dass die UNRWA es nicht merkt, wenn ein Rechenzentrum an ihrem Stromnetz betrieben wird! Als Direktor muss Hr Lazzarini kein Stromexperte sein, aber dafür sorgen, dass sein Management Stromrechnungen kontrolliert.  Lazzarini stört es kaum, dass in seinen Schulen mit verhetzenden Lehrmitteln zu Gewalt und Hass angestiftet wird. Er verweist lakonisch darauf, dass die Meinungen dazu divers seien und er keinen Einfluss auf die Lehrmittel hat. Nur schon für diese Aussage hat er eine fristlose Entlassung verdient. Die UNRWA verlängert den  Konflikt künstlich, indem sie sämtliche Nachkommen der schon meist verstorbenen Flüchtlinge von 1948 absurderweise ebenfalls als solche einstuft. Dies wird von keiner anderen Organisation inkl.  UNHCR praktiziert.  Ed ist wohl besser, wenn die UNRWA aufgelöst und ihre Kernaufgaben ins UNHCR überführt werden. Public service muss durch die bestehenden lokalen Regierung erbracht werden. Geberstaaten können Mittel ihnen direkt überweisen. 

Andere Autoren