Wieso fallen Regierungen in Afrika wie Dominosteine? Ein Überblick über die Militärputsche und ihre Gründe

Seit 2020 haben in Afrika neun Militärcoups stattgefunden. Warum? Wie war das früher? Und wohin führen die Putsche?

Samuel Misteli, Nairobi 8 min
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Haben Afrikanerinnen genug von Demokratie? Demonstrantinnen in Nigers Hauptstadt Niamey bekunden Ende August ihre Unterstützung für den Militärputsch.

Haben Afrikanerinnen genug von Demokratie? Demonstrantinnen in Nigers Hauptstadt Niamey bekunden Ende August ihre Unterstützung für den Militärputsch.

Mahamadou Hamidou / Reuters

Im Juli war Niger an der Reihe, wenige Wochen später Gabon. In Afrika fallen die Regierungen wie Dominosteine. Seit 2020 haben Militärs in sieben Ländern auf dem Kontinent erfolgreich geputscht, in Mali und Burkina Faso taten sie es sogar je zweimal. Uno-Generalsekretär António Guterres hat die Vorgänge als «Epidemie von Putschen» bezeichnet – er sagte das lange vor den beiden jüngsten Staatsstreichen.

Inzwischen stellt sich eher die Frage, wann die nächste Regierung stürzt – nicht ob. Mehrere Langzeitherrscher auf dem Kontinent sind offensichtlich nervös. Kameruns Präsident Paul Biya zum Beispiel, im Amt seit 1982, sortierte nach dem Putsch im Nachbarland Gabon wichtige Posten im Verteidigungsministerium neu.

In mehreren Ländern haben sich nach den Coups Jubelszenen auf den Strassen abgespielt. Laut Umfragedaten des panafrikanischen Meinungsforschungsinstituts Afrobarometer von Anfang Jahr sind nur 42 Prozent der Befragten in 20 afrikanischen Ländern der Meinung, das Militär dürfe in keinem Fall in die Politik eingreifen. 54 Prozent sind der Ansicht, Armeen dürften intervenieren, wenn gewählte Regierungen ihre Macht missbrauchten.

Was bedeutet das für die Demokratie in Afrika? Und wie konnte es so weit kommen, dass viele Afrikanerinnen und Afrikaner Männer in Uniformen gewählten Politikern vorziehen?

1. Chronologie: Eine Welle von Coups

Allein seit 2020 kam es in Westafrika und im Sudan zu neun Militärputschen

1
Putsch am 30. 8. 2023.
2
Putsch am 26. 7. 2023.
3
Putsch vom 30. 9. 2022 stürzt Putschisten vom 24. 1. 2022.
4
Putsch am 6. 9. 2021.
5
Putsch vom 24. 5. 2021 stürzt Putschisten vom 18. 8. 2020.
6
Putsch am 20. 4. 2021.
7
Putsch am 25. 10. 2021.

Das Epizentrum der afrikanischen Staatsstreiche der vergangenen drei Jahre ist der westafrikanische Sahel – jenes riesige Gebiet zwischen der Sahara im Norden und den Küstenstaaten im Süden, in dem sich jihadistische Aufständische über mehrere Staaten ausgebreitet haben. Sechs der neun Putsche seit 2020 haben in diesen Ländern stattgefunden. Militärs in Mali, Burkina Faso und Niger putschten, weil sie glaubten, dass die zivilen Regierungen keine Antwort auf die Sicherheitskrise hatten. Doch die Welle von Coups hat auch Länder ausserhalb des Sahel erfasst.

Feindbild Frankreich: Demonstranten in Malis Hauptstadt Bamako verbrennen ein Kartonbild des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Feindbild Frankreich: Demonstranten in Malis Hauptstadt Bamako verbrennen ein Kartonbild des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Paul Lorgerie / Reuters
  • 18. August 2020: Mali. Teile der Armee putschen erfolgreich gegen Präsident Ibrahim Boubacar Keita. Zuvor hatten während Monaten Strassenproteste gegen Keita stattgefunden. Die Demonstranten warfen der Regierung Korruption und Versagen im Kampf gegen den Terrorismus vor.
  • 20. April 2021: Tschad. Idriss Déby, der Tschad seit drei Jahrzehnten regiert, wird bei einem Truppenbesuch durch Schüsse von Rebellen getötet. In der Folge übernimmt ein Militärrat die Macht, er löst Regierung und Parlament auf. An der Spitze des Rats steht Débys Sohn Mahamat.
  • 24. Mai 2021: Mali. Offiziere um den Oberst Assimi Goïta putschen gegen die Übergangsregierung (deren Vizepräsident Goïta zu diesem Zeitpunkt ist). Vorangegangen sind Spannungen innerhalb des Gremiums. Goïta führt seither eine Junta. Sie bricht mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die 5000 Soldaten im Land stationiert hat. An ihrer Stelle holt die Junta russische Wagner-Kämpfer ins Land.
  • 6. September 2021: Guinea. Militärs um den Oberst Mamady Doumbouya putschen gegen den unbeliebten Präsidenten Alpha Condé, der seit 2010 regiert. Condé war einmal ein demokratischer Hoffnungsträger gewesen, war aber zunehmend autoritär geworden und hatte 2020 die Verfassung per Referendum abändern lassen, um für eine dritte Amtszeit zu kandidieren.
  • 25. Oktober 2021: Sudan. Das Militär putscht gegen eine Übergangsregierung, die 2019 nach dem Sturz von Diktator Omar al-Bashir eingesetzt worden war. Die Armee stoppt so den Prozess der Transition zur Demokratie. Sie fürchtet unter anderem den Verlust wirtschaftlicher Privilegien. Im Frühling 2023 kommt es im Sudan zum Bürgerkrieg.
  • 24. Januar 2022: Burkina Faso. Die Armee putscht gegen Präsident Roch Marc Christian Kaboré. Die verantwortlichen Offiziere begründen den Coup damit, dass die Regierung das Militär im Kampf gegen die Jihadisten nicht genügend unterstützt habe.
  • 30. September 2022: Burkina Faso. Wieder putschen Militärs in Burkina Faso, ein Juntaführer ersetzt einen anderen. Der neue heisst Ibrahim Traoré. Er geht denselben Weg wie die Junta im Nachbarland Mali, nähert sich Russland an und weist französische Soldaten aus dem Land.
  • 26. Juli 2023: Niger. Die Präsidentengarde putscht gegen Präsident Mohamed Bazoum. Er galt als Hoffnungsträger des Westens im Sahel, unter anderem die USA und Frankreich haben Soldaten in Niger stationiert. Möglicher Auslöser des Putsches war, dass die Armee denselben Weg wie die Nachbarländer Mali und Burkina Faso gehen wollte: mit dem Westen brechen, dessen Militärhilfe in den Jahren zuvor wenig Erfolg gezeigt hatte.
  • 30. August 2023: Gabon: Eine Gruppe von Offizieren verkündet im nationalen Fernsehen, Präsident Ali Bongo sei abgesetzt, das Resultat der Präsidentenwahl, die wenige Tage zuvor stattgefunden hatte, sei annulliert. Bei der Wahl hatte Präsident Bongo mit Kniffen versucht, die Herrschaft seiner Familie zu verlängern, die mehr als fünfzig Jahre dauerte.

2. Die Gründe: Wieso all die Coups?

Das mögliche Ende einer selbstherrlichen Dynastie: Wahlplakat des gestürzten gabonesischen Präsidenten Ali Bongo in der Hauptstadt Libreville.

Das mögliche Ende einer selbstherrlichen Dynastie: Wahlplakat des gestürzten gabonesischen Präsidenten Ali Bongo in der Hauptstadt Libreville.

Yves Laurent / AP

Die Ursachen der Coups sind je nach Land verschieden: In den Sahelstaaten führte die Sicherheitskrise dazu, dass sich die Armeen und die zivilen Regierungen überwarfen; im Sudan wollte die Armee eine Demokratisierung stoppen, die ihre Machtposition gefährdete; in Guinea und Gabon entfernten Militärs unbeliebte Präsidenten, die sich mit fragwürdigen Wahlen und Referenden an der Macht hielten.

Es gibt aber zwei wichtige Erklärungen für die Häufung von Putschen: Erstens glauben die Putschisten, Regierungen ungestraft entfernen zu können. Zweitens profitieren die Putschisten in fast allen Ländern davon, dass grosse Teile der Bevölkerung wütend auf eine politische Elite sind, die sie für selbstherrlich und unfähig halten.

  • Coups führen zu mehr Coups. Je länger die Liste der Länder wird, in denen Militärs erfolgreich putschen, desto eher glauben mögliche Nachahmer, dass auch sie erfolgreich sein können. Dass die Putschisten so erfolgreich sind, liegt unter anderem daran, dass der internationale Druck nicht ausgereicht hat, um sie dazu zu bewegen, die Macht so rasch als möglich wieder abzugeben. Malis Putschführer Assimi Goïta führt das Land seit mehr als zwei Jahren. Nach dem Putsch in Niger reagierte das Ausland energischer. Die Regionalorganisation Ecowas drohte mit einer Militärinvasion. Dass sie diese tatsächlich durchführt, ist aber unwahrscheinlich. Leere Drohungen lassen das Ausland noch ohnmächtiger erscheinen.
  • Wut auf die Elite. Die Putschisten werden dadurch bestärkt, dass sie in den meisten Ländern grosse Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten. Diese rührt daher, dass die Bevölkerung in vielen afrikanischen Ländern genug hat von zivilen Regierungen, die alle paar Jahre vordergründig demokratische Wahlen durchführen lassen, dazwischen aber mehr für sich selber und ihr Umfeld sorgen als dafür, ihr Land aufzubauen. Die meisten gestürzten Regierungen galten als korrupt oder bestenfalls als Scheindemokratien. Das gilt selbst für Niger, dessen Regierung im Westen oft als Vorbild für die Region dargestellt wurde. Tatsächlich war auch sie 2021 in einer fragwürdigen Wahl an die Macht gekommen und erstickte oppositionelle Kritik. Viele Afrikanerinnen und Afrikaner werfen den westlichen Partnern (und vor allem Frankreich) vor, diese Regierungen unterstützt zu haben, weil sie ihren Interessen dienten. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Putschisten sich ihre Beliebtheit sichern, indem sie Stimmung gegen den Westen und insbesondere Frankreich machen.
Polizisten in Nigers Hauptstadt Niamey verbarrikadieren die Strasse, die zur französischen Militärbasis führt.

Polizisten in Nigers Hauptstadt Niamey verbarrikadieren die Strasse, die zur französischen Militärbasis führt.

Issifou Djibo / EPA

3. Rückblick: Eine frühere Welle von Coups

Die gegenwärtige Welle von Coups in Afrika ist nicht so ungewöhnlich, wie sie erscheint. Die meisten afrikanischen Länder wurden um 1960 unabhängig. In den folgenden Jahrzehnten kam es zu zahlreichen Coups: Bis 2000 waren es durchschnittlich vier Putschversuche pro Jahr. Nigeria allein, das bevölkerungsreichste afrikanische Land, erlebte fünf Coups und wurde von 1966 bis 1999 fast ununterbrochen von Militärs regiert.

Die Putsche nach der Unabhängigkeit waren so zahlreich, weil die Regierungen in den meisten Ländern enttäuschten. Viele Afrikanerinnen und Afrikaner hatten grosse Hoffnungen, dass ihre Länder befreit vom Joch des Kolonialismus endlich Wohlstand schaffen würden. Das geschah nicht oder nur sehr langsam, was unter anderem daran lag, dass sich viele der jungen Regierungen als unfähig oder korrupt erwiesen. Die Coups wurden auch dadurch begünstigt, dass die staatlichen Institutionen schwach waren und es wenig Mechanismen gab, die Interventionen durch das Militär hätten stoppen können.

Die erste Welle von Coups ging um 1990 stark zurück. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam stattdessen eine Welle der Demokratisierung. In vielen Ländern fanden kompetitive Wahlen statt. Wenige Afrikanerinnen und Afrikaner trauerten den Militärführern nach, denn diese hatten sich als noch unfähiger – und gewalttätiger – als die zivilen Regierungen erwiesen. Auch sie hatten nicht mehr Wohlstand geschaffen – und waren häufig nicht weniger korrupt.

In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts halbierte sich die Zahl der Coups in Afrika noch einmal. Die Entwicklung wurde auch dadurch begünstigt, dass die Afrikanische Union und die Ecowas Abschreckungsmassnahmen gegen Coups erliessen. Regierungen, die durch Putsche an die Macht kamen, wurden gezwungen, strikte Zeitpläne für die Rückkehr zu ziviler Herrschaft zu entwerfen.

Anfang des 21. Jahrhunderts ging die Zahl der Putsche in Afrika stark zurück

Erfolgreiche und gescheiterte Putschversuche in Afrika 1960–2019
Erfolgreich
Gescheitert

In den vergangenen Jahren hat das Pendel zurückgeschlagen: Die Putsche häufen sich, weil zivile Regierungen abermals enttäuschen und manche Staaten noch immer zu schwach sind, um militärische Interventionen zu verhindern.

4. Fazit: Ein Zyklus, der bald endet?

Russische Flaggen im Sortiment: ein Strassenverkäufer in Malis Hauptstadt Bamako.

Russische Flaggen im Sortiment: ein Strassenverkäufer in Malis Hauptstadt Bamako.

Nicolas Remene / Imago

Die gegenwärtige Welle von Coups in Afrika ist beunruhigend, und es könnte noch schlimmer kommen. Es gibt zahlreiche Staaten in Afrika, in denen unbeliebte und undemokratische Präsidenten auf wackligem Fundament regieren. Es ist kein Zufall, dass Kameruns 90-jähriger Präsident Paul Biya, der üblicherweise wenig Enthusiasmus für die Staatsgeschäfte zeigt, nach dem Putsch in Gabon in Aktivismus verfiel und sein Verteidigungsministerium neu aufstellte.

Wenige trauern den gefallenen Präsidenten nach. Das Problem ist aber, dass die Militärs in den meisten Fällen noch schlechtere Staatslenker sind als die gestürzten zivilen Regierungen. Das zeigt sich zum Beispiel im Sahel. In Mali hat es die Militärregierung in zwei Jahren nicht geschafft, die Sicherheitslage zu verbessern, obwohl dies ihre Kernkompetenz sein müsste. Die Zahl der im Konflikt Getöteten ist gestiegen, die jihadistischen Gruppen haben ihr Einflussgebiet ausgeweitet. Zudem bricht im Norden des Landes ein Konflikt mit separatistischen Tuareg-Gruppen neu auf. Im Sudan hat das Militär das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, der mehrere Millionen Menschen vertrieben hat.

Man könnte aufgrund der Jubelszenen nach den Coups und der Umfragen, die auf Toleranz für Militärinterventionen hinweisen, davon ausgehen, dass Afrikanerinnen und Afrikaner genug haben von Demokratie. Tatsächlich zeigen Umfragen (wiederum vom angesehenen Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer) konstant, dass sich eine grosse Mehrheit in Afrika die Demokratie als Staatsform wünscht. Die Umfragen zeigen aber auch, dass eine (wachsende) Mehrheit unzufrieden damit ist, wie Demokratie in ihren Ländern funktioniert. Man kann die Unterstützung für die Putsche deshalb so verstehen, dass die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner genug haben von Scheindemokratien – zum Beispiel von Wahlen, in denen die Sieger zum Vorneherein feststehen.

Es ist wahrscheinlich, dass die gegenwärtige Welle an Coups ein historischer Zyklus ist, der enden wird. Vermutlich wird er nicht Jahrzehnte dauern, wie die Coup-Welle nach 1960. Viele der Demonstranten, die gerade den Putschisten zujubeln, sind so jung, dass sie die früheren Putschregierungen nicht erlebt haben. Sie werden sehen, dass diese keinen Fortschritt bringen.

Die grosse Frage ist, ob es den zivilen Regierungen bei der nächsten Chance gelingt, einen besseren Job zu machen. So zu regieren, dass ihre Politik das ganze Land begünstigt, nicht nur ihr Umfeld. Es gibt zivilgesellschaftliche Bewegungen in vielen afrikanischen Ländern, die fähige Politiker hervorbringen können.

Es gibt auch weiterhin eine Rolle für den Westen, den die gegenwärtige Welle von Coups gerade aus Teilen Afrikas zu vertreiben scheint. Es wird möglicherweise eine bescheidenere Rolle sein, die den Wunsch nach Selbstbestimmung und die öffentliche Meinung in afrikanischen Ländern respektiert. Die bisherige Politik, Scheinwahlen zu akzeptieren, wenn diese genehme Präsidenten an der Macht hielten, hat sich als kurzsichtig erwiesen. Sie fördert mittelfristig die Instabilität – und die Coups.

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