Australiens Ureinwohner sollen mehr Rechte bekommen. Warum kümmert sie das kaum?

Kriminell, drogensüchtig, arbeitslos: Der Alltag vieler Aborigines ist geprägt von Traumata, die wie Familienerbstücke von Generation zu Generation weitergereicht werden. Ein Besuch in Sydneys gefährlichstem Vorort

Ulrike Putz, Sydney 7 min
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Am 14. Oktober werden die 17 Millionen wahlberechtigten Australier darüber abstimmen, ob die Verfassung des Landes dahingehend geändert werden soll, dass die Aborigines in ihr als erste Bewohner des Kontinents erwähnt werden. Zudem sollen Aborigines ein beratendes Gremium in Canberra erhalten. Die Opposition ist gross.

Am 14. Oktober werden die 17 Millionen wahlberechtigten Australier darüber abstimmen, ob die Verfassung des Landes dahingehend geändert werden soll, dass die Aborigines in ihr als erste Bewohner des Kontinents erwähnt werden. Zudem sollen Aborigines ein beratendes Gremium in Canberra erhalten. Die Opposition ist gross.

Lisa Maree Williams / Bloomberg

Blacktown gilt als das härteste Viertel von Sydney. Rund 40 Kilometer westlich der berühmten Harbour Bridge liegt es Welten entfernt von den guten Wohnlagen der sonnenverwöhnten Metropole Australiens. In Blacktown leben diejenigen, die darum kämpfen, in Australien Fuss zu fassen: frisch eingewanderte Inder, vor dem Krieg und den Taliban geflohene Afghanen, Filipinos, die mit Studentenvisa einreisen, abtauchen und als illegal Eingewanderte die Jobs annehmen, die kein anderer machen will. Blacktown ist aber auch Heimat einer anderen Minderheit. Es ist die Stadt mit den meisten Aborigines des Landes.

Rund 80 Prozent der Aborigines in Australien leben – ganz entgegen dem Klischee – nicht in den roten Weiten des Outback, sondern als Prekariat in den schlechten Vierteln der Grossstädte Brisbane, Sydney und Melbourne. Und obwohl die Aborigines diesen südlichen Kontinent seit 65 000 Jahren bevölkern, kämpfen sie ebenso wie ihre frisch angekommenen Nachbarn darum, Fuss zu fassen im modernen Australien.

Die 12 000 Aborigines in Blacktown findet man in den Quartieren entlang des Marsden Park. Triste Holzhäuser auf kleinen Grundstücken, schütteres Gras, Maschendrahtzäune: Auch die australische Variante des sozialen Wohnungsbaus hat wenig Charme. Vor den Häusern lagern Autowracks und umgestürzte Einkaufswagen, dahinter franst die Stadt aus in struppiges Buschland. 70 Prozent der Anwohner hier gaben jüngst in einer Umfrage an, sich in ihrer eigenen Strasse nicht sicher zu fühlen. Kein Wunder, dass die Strassen an diesem Morgen menschenleer sind.

Sie schlief unter den Sternen – dann begann ihr Albtraum

Eine kleine Oase in der umliegenden Trostlosigkeit bietet «The Shed», die Hütte, ein auf dem Grundstück einer Kirche errichteter Männertreff. Bei Gesprächen im Stuhlkreis und mit vielen Tassen Tee versucht hier der Sozialarbeiter Donald Mulholand, indigenen Jungen und Männern den rechten Weg zu weisen. Es ist ein schwieriges Unterfangen: Die Söhne all der Einwanderergruppen, die in Blacktown ein australisches Zuhause finden, würden durch die aus der alten Heimat mitgebrachte Kultur geerdet, erklärt Mulholand. «Ihre Sprache, ihre Religion, ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Ethnie, das sind alles Leitplanken, die helfen, die meisten auf der Bahn zu halten.» Bei den Aborigines jedoch klaffe dort, wo die anderen Minderheiten Australiens die Quelle ihrer Kraft verorteten, ein grosses Loch.

Donald Mulholand.

Donald Mulholand.

Ulrike Putz

Um zu illustrieren, was er damit meint, erzählt Mulholand die Geschichte seiner Mutter, Rhoda Odgen. Geboren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, wuchs sie als Angehörige des Volkes der Gurindji im entlegenen Nordwesten Australiens auf. Als sie 12 Jahre alt war, lasen Mitglieder der weissen Kirchengemeinde im nächsten Ort sie auf der Strasse auf. «Meine Mutter ging mit ihrer Familie jagen, schlief unter Sternen, badete in den Bächen. Die Weissen verachteten das», sagt Mulholand. Ohne sich von ihren Eltern verabschieden zu können, wurde Rhoda ins 2700 Kilometer entfernte Sydney verfrachtet und dort in ein von Nonnen geleitetes Heim gesteckt.

Ihre Muttersprache, ihr Glaube, alles, was mit ihrem früheren Leben zu tun hatte, war tabu. Kontakt zur eigenen Familie war verboten. Stattdessen erhielt Rhoda eine rudimentäre Schulbildung. Mit 18 wurde sie – wie damals üblich – aus dem Heim ins Leben entlassen. «Ein junges Mädchen ohne Geld, ohne Verwandte, ohne einen Anlaufpunkt, allein in der Grossstadt. Das konnte nur schiefgehen», sagte Mulholand. Rhoda heiratete den erstbesten Mann, einen Schotten. Innerhalb weniger Jahre gebar sie ihm fünf Söhne. Als ihr Mann sie verliess, rutschte sie in den Alkoholismus, landete mit ihren Kindern auf der Strasse. Mulholand war 9 Jahre alt, als die Wohlfahrt dann ihn und seine Brüder ins Heim steckten. «Das Trauma meiner Mutter strahlt auf mich ab», sagt er.

Rhodas Geschichte ist typisch: Etwa ein Drittel aller Aborigine-Kinder wurde zwischen 1910 und 1970 den Eltern weggenommen, das hat eine staatliche Studie zur Aufarbeitung der Ereignisse rund um die «gestohlenen Generationen», wie dieses düstere Kapitel der australischen Geschichte genannt wird, herausgearbeitet. Aborigines wurden für nicht würdig erachtet, ihre als primitiv verlachte Kultur an ihre Kinder weiterzugeben. Stattdessen sollten diese zu gefügigen Arbeitern herangezogen werden.

Rhodas Geschichte zeigt auch, dass das Unrecht, das den Aborigines angetan wurde, eben nicht vergangen ist. Die Vernichtungsfeldzüge der Siedler gegen die ersten Völker, die systematische Zerstörung der indigenen Traditionen, Sprachen und Lebensweisen und die mancherorts Apartheid-ähnliche Rassentrennung bis in die späten 1960er Jahre hinein hallen bis in die Gegenwart nach. Wenn 2023 die Lebenserwartung für Australier mit indigenen Wurzeln um zehn Jahre niedriger ist als die für ihre weissen Landsleute, dann muss man den Grund im Gestern suchen. Willentlich wurde damals eine bildungsferne Unterschicht geschaffen, deren Nachkommen Macht- und Hilflosigkeit als bewiesene Tatsache ansehen. So verharren viele in dem Elend, in dem sie aufwuchsen.

Drogen, Knast, Kunsttherapie

In dem von Mulholand geleiteten Männerzentrum sitzt an diesem heissen Frühsommertag – Australien steuert dank dem Wetterphänomen «El Niño» auf einen Rekordsommer zu – nur ein Besucher. Orrey Naden ist 36 und ganz in seine Aufgabe versunken: Mit einem feinen Pinsel malt er den Umriss eines weissen Kängurus auf eine schwarz grundierte Leinwand. Das Erlernen von indigenen Kulturtechniken und Kunsthandwerk ist zentraler Teil des Programms in «The Shed». Es soll Identität stiften, den jungen Männern Halt und ein Ziel geben.

Naden hat eine für sein Viertel klassische Karriere hinter sich, wie er erzählt: abgebrochene Schule, vier Kinder von zwei Frauen, erst rauchte er Marihuana, später Crystal Meth, irgendwann landete er für zwei Jahre im Knast wegen häuslicher Gewalt. Die Inhaftierungsraten unter Angehörigen der ersten Völker Australiens sind schockierend hoch. Aborigines – so nennt man die Angehörigen der auf dem Festland beheimateten Stämme – und Torres-Strait-Islanders – wie die Bewohner der zwischen Australien und Papua-Neuguinea gelegenen gleichnamigen Inseln genannt werden – machen nur drei Prozent der australischen Bevölkerung aus. In den Gefängnissen des Kontinents stellen sie jedoch knapp jeden dritten Häftling. Die Uno berechnete 2021, dass ein junger Aborigine mit grösserer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis denn an der Uni landet. Mehr als die Hälfte der Aborigines sind arbeitslos.

Gut sechs Monate in einer Entzugsklinik retteten Naden das Leben, wie er sagt. Sein Sozialarbeiter empfahl «The Shed», seitdem kommt Naden fast täglich hierher. Es wirkt etwas gezwungen, wenn ein erwachsener Mann versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen, indem er lernt, Speere zu schnitzen und Bundi, traditionelle Jagdkeulen, mit Brandmustern zu verzieren. Mulholand glaubt trotzdem, dass es hilft. Es gehe darum, die Aboriginalität – ein sperriger, aber wissenschaftlich korrekter Begriff – mit etwas Positivem zu füllen. Die Geschichten, die die Ureinwohner Australiens heute ihren Kindern und Enkeln erzählen könnten, seien geprägt von Verlust und entsetzlich negativ. Das müsse sich ändern.

Orrey Naden.

Orrey Naden.

Ulrike Putz

«Für mein Leben macht das alles keinen Unterschied»

Während die Aborigines in Blacktown darum ringen, sich ihre verlorengegangene Identität wieder anzueignen, sind Verweise auf die Kultur der Ureinwohner im Rest von Australien derzeit sehr en vogue. Bei keiner Sportveranstaltung darf ein von Indigenen vollzogenes «Welcome to Country»-Ritual fehlen, jeder Elternabend an australischen Schulen beginnt damit, dass «die traditionellen Besitzer des Landes und deren Älteste» gewürdigt werden. Gemeinden wie Blacktown zahlen Aborigine-Älteste dafür, dass sie einmal die Woche beim Kaffeeklatsch aus ihrem Leben erzählen. Junge Leute und Schulklassen schauen gern vorbei und lauschen den Gruselgeschichten aus scheinbar längst vergangenen Zeiten.

Doch wie tief der Respekt gegenüber den Ureinwohnern bei ihren weissen Landsleuten tatsächlich sitzt, scheint im Licht der jüngsten Entwicklungen fraglich: Am 14. Oktober werden die 17 Millionen wahlberechtigten Australier in einem Referendum darüber abstimmen, ob die 1901 geschriebene Verfassung des Landes dahingehend geändert werden soll, dass die Aborigines in ihr als erste Bewohner und traditionelle Besitzer des Kontinents erwähnt werden. Bis jetzt fehlt in dem Dokument jeder Hinweis darauf, dass Australien bei Ankunft der ersten Flotte mit englischen Strafgefangenen 1788 nicht etwa die «terra nullius», das Niemandsland, war, als das die Briten es deklarierten.

Wie gross ist der Respekt der Australier gegenüber den Ureinwohnern? Das soll eine Abstimmung am 14. Oktober zeigen.

Wie gross ist der Respekt der Australier gegenüber den Ureinwohnern? Das soll eine Abstimmung am 14. Oktober zeigen.

Lisa Maree Williams / Getty

Wird das Referendum angenommen, dann wird dem Parlament künftig ein aus Aborigines bestehendes Beratergremium beigeordnet sein. Doch dass die Aborigines künftig eine Stimme in Canberra haben – das fragliche Gremium soll «The Voice» heissen –, erscheint wenige Tage vor der Volksbefragung höchst unwahrscheinlich. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Verfassungsänderung scheitern wird. Das liegt einerseits daran, dass die Kampagne für die Annahme des Referendums flügellahm daherkommt. Andererseits haben sich die Gegner der Änderung nicht gescheut, sich Rassismus der längst ausgestorben geglaubten Art zunutze zu machen. Wenn einer der Wortführer der Nein-Kampagne, der ehemalige Staatsminister Gary Johns, unter Applaus im Wahlkampf fordert, dass Aborigine-Kinder «früh aus ihrer Gemeinschaft entfernt werden und eine schwere, schwere kulturelle Intervention benötigen», zeigt sich, dass Teile der Gesellschaft noch lange nicht umgedacht haben.

«The Voice» ist auch unter den Aborigines umstritten – wenn sie denn überhaupt Thema ist. Das Desinteresse und die teilweise Ablehnung verwundern erst einmal: Man sollte meinen, dass die Angehörigen der sogenannten First Nations darauf brennen, zu ihrem Recht zu kommen. Und tatsächlich sprechen sich viele prominente Aborigines für «The Voice» aus. Andere wettern dagegen, behaupten, die ersten Völker würden für eine rein symbolische Stimme alle weiteren Ansprüche auf Land und Wiedergutmachung aufgeben müssen. Viele Australier fühlen sich vor dem Referendum schlecht informiert, nicht wenige glauben daher auch Latrinenparolen – die Aborigines sind da keine Ausnahme.

In Blacktown scheint jede Leidenschaft für ein Pro oder Contra von Fatalismus und Apathie überlagert. Orrey Naden weiss noch nicht, ob er – trotz der in Australien herrschenden Wahlpflicht – überhaupt wählen gehen wird: «Für mein Leben macht das alles keinen Unterschied.» Die drei Ältesten, die im Blacktown Arts Centre Kaffeeklatsch halten, sind nur mässig begeistert. «Es wäre schon ganz nett, in der Verfassung erwähnt zu werden», sagt Uncle Wes Marne, der vor 101 Jahren in Queensland geboren wurde. Eine Stimme allein könne jedoch keinen Wandel zum Besseren bringen: «Das kann nur die Zeit, und von der ist noch nicht genug vergangen.» Der Sozialarbeiter Mulholand schliesslich fürchtet, dass die Debatte um «The Voice» schon jetzt mehr Schaden als Nutzen gebracht hat: «Den Leuten wurde in den vergangenen Wochen eingeredet, dass wir Schwarzen uns die Macht im Land unter den Nagel reissen wollen», sagt er. «Dafür werden wir zahlen.»

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