Für Russlands letzte liberale Hochschulen wird die Luft immer dünner

Die Festnahme des Rektors einer renommierten privaten Universität in Moskau illustriert den politischen Druck auf das Bildungswesen. Der Staat duldet immer weniger «Abweichler», vor allem wenn sie freiheitlich inspiriert sind.

Markus Ackeret, Moskau
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Für nichtstaatliche Hochschulen wird es immer schwieriger in Russland. Im Bild: der Turm der Staatlichen Universität Moskau.

Für nichtstaatliche Hochschulen wird es immer schwieriger in Russland. Im Bild: der Turm der Staatlichen Universität Moskau.

Leonid Faerberg / Imago

Sergei Sujew wurde am Montagabend von den russischen Sicherheitsbehörden direkt aus dem Spital geholt, wohin er sich wegen akuten Bluthochdrucks zur Behandlung begeben hatte, und 30 Stunden lang verhört. Der 67-Jährige wird verdächtigt, 21 Millionen Rubel (rund 260 000 Franken) an staatlichen Projektgeldern veruntreut zu haben. Am Mittwochabend schickte ihn das Gericht in den Hausarrest; möglicherweise hatten der öffentliche Druck und politische Verbindungen verhindert, dass dem Antrag nach Untersuchungshaft stattgegeben wurde.

Sergei Sujew.

Sergei Sujew.

PD

Sujews Schicksal bewegt das intellektuelle Moskau. Er ist Rektor einer der renommiertesten Privatuniversitäten Russlands, der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, deren Schicksal jetzt in der Schwebe ist. Sie gerät nicht zum ersten Mal in die staatlichen Mühlen: Vor drei Jahren stand die Zukunft der ungewöhnlichen, auf enger Partnerschaft mit der Universität Manchester beruhenden Universität nach der zeitweiligen Aberkennung ihrer Akkreditierung beim Bildungsministerium infrage. Sujews Weggefährten, Studierende und Dozenten der Universität, die ihn als geradlinigen, offenen und der Sache verpflichteten Wissenschafter kennen, veröffentlichten einen offenen Brief. In kürzester Zeit aktivierte sich ein grosses Unterstützungsnetz über die Hochschule hinaus.

Gefährlicher Umgang mit Staatsgeldern

Sujews Fall ist nicht eindeutig gelagert und zeigt, wie verwundbar gerade diejenigen Institutionen und deren Vertreter sind, die in staatlich dominiertem Umfeld ihren Grundsätzen treu bleiben. Manche Beobachter fühlen sich deshalb an den Fall des Regisseurs Kirill Serebrennikow erinnert: Auch diesem wurde die fehlerhafte Verwendung staatlicher Gelder vorgeworfen, aber dahinter steckte die Abneigung gegenüber der von ihm repräsentierten Kulturszene.

Es ist nicht klar, ob Sujew und seine Universität nur ein mehr oder weniger zufälliges Ziel der Ermittlungen wurden oder ob es der russische Sicherheitsapparat und seine politischen Stichwortgeber auf einen als störend empfundenen Akteur im Bildungsbereich abgesehen haben. Sicher ist, dass Russland derzeit eine Welle der Repression erlebt gegen all die Nischen, die der Kreml noch nicht kontrolliert.

Sujews Festnahme ging diejenige der Sberbank-Managerin und früheren stellvertretenden Bildungsministerin Marina Rakowa, ihres Lebensgefährten, mehrerer ihrer Mitarbeiter und Geschäftspartner sowie der Geschäftsführerin von Sujews Universität voraus. Rakowa wird Betrug in besonders grossem Umfang vorgeworfen. Sie soll als stellvertretende Ministerin und Verantwortliche für das «Nationale Projekt» im Bereich Bildung Gelder in der Höhe von 50 Millionen Rubel (rund 660 000 Franken) veruntreut haben. Ein Teil der Summe betrifft Projekte, für die die Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Finanzmittel bekam.

Wahlweise hiess es, das Vorgehen gegen Rakowa sei ein Zeichen an die Sberbank und deren Bildungsplattform oder habe mit persönlichen Animositäten aus der Zeit im Bildungsministerium zu tun. Die Universität und Sujew wären dann vor allem die Beispiele, an denen sich Rakowas angeblich verwerfliches Tun zeigen liesse.

Britisch-russische Hochschule

Die Interpretation, es komme den Behörden zumindest gerade recht, auch auf die Hochschule loszugehen, dürfte auch dann nicht falsch sein, wenn diese «nur» eine Art Kollateralschaden der Ermittlungen wäre. Die Schaninka, wie die sozialwissenschaftliche Universität nach ihrem Gründer und Spiritus Rector Teodor Shanin genannt wird, ist ein Hort des freien, unkonventionellen Denkens und Unterrichtens in einer konformistischen, vom Staat an kurzer Leine gehaltenen akademischen Welt in Russland.

Shanin, 1930 im damals polnischen Wilno (Vilnius) geboren und via Deportation nach Sibirien und viele Zwischenstationen nach Grossbritannien gekommen, war ein Marxist, Soziologe und Historiker mit Schwerpunkt Bauernschaft. Sein Projekt einer Universität in Moskau, die die besten Praktiken westlicher und russischer Hochschullehre vereint und eng mit europäischen und amerikanischen Bildungseinrichtungen kooperiert, passte ins Gründungsjahr 1995.

Der Ansatz ist zwar heute nicht weniger inspirierend als damals. Aber er wirkt wie ein Fremdkörper in einem gesellschaftspolitischen Umfeld, in dem die Orientierung an westlichen Ideen und Standards als «unrussisch» und verräterisch verstanden wird. Der Schritt zum «ausländischen Agenten» und zur «unerwünschten Organisation» ist nicht gross. Entsprechend hämisch kommentieren staatliche Medien das Verfahren gegen Sujew und verweisen genüsslich auf die Gelder, die die Schaninka einst von Strukturen des Financiers und Philanthropen George Soros bekommen hatte.

Verpönte Bastionen westlicher Werte

Professoren und Absolventen der Universität sind bekannte Soziologen, Historiker und Politologen, die als Kommentatoren eine zur Politik des Kremls meist oppositionelle Rolle einnehmen. Entsprechend steht die Schaninka als Multiplikator unter Generalverdacht. Aber nicht nur sie: Die Hochschullandschaft und die Wissenschaft spüren den Druck der Politik generell. Die nach westlichem Vorbild in den neunziger Jahren gegründeten Universitäten mit einem stark sozial- und geisteswissenschaftlichen Profil sind dem besonders ausgesetzt, weil sie als Bastionen der mittlerweile verpönten «liberalen» Werte gelten. Die Europäische Universität in St. Petersburg stand schon zweimal kurz vor der Schliessung.

Die grösste und renommierteste von diesen, die unter dem Namen Higher School of Economics (HSE) international bekannt ist, versuchte mit Anbiederung und Selbstzensur ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Als Konzession trennte sie sich von zahlreichen Professoren und Dozenten. Studenten und Lehrende mussten sich verpflichten, sich mit politischem Engagement zurückzuhalten. Gegen mehrere studentische Redaktoren des aufmüpfigen, ursprünglich als Studentenzeitung gegründeten Magazins «Doxa» läuft ein Strafverfahren.

Die Zugeständnisse der Hochschule verhinderten nicht, dass der ursprünglich aus dem Lager der sogenannten «Systemliberalen» stammende langjährige HSE-Rektor Jaroslaw Kusminow vor einigen Monaten zurücktreten musste. Der nächste könnte Wladimir Mau sein, ein liberaler Wirtschaftswissenschafter und Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst, mit der auch die Schaninka verbunden ist. Gegen verschiedene Mitarbeiter der Akademie wird derzeit ermittelt.

Der Fall Sujew ist wegen der einzigartigen Stellung der Schaninka im russischen Hochschulbetrieb besonders brisant. Aber selbst wenn die Hochschule noch einmal davonkäme, dürfte der Druck auf den Bildungsbereich weiter steigen. Ein Gesetz zur staatlichen Regulierung jeglicher ausseruniversitärer und ausserschulischer «Aufklärungsarbeit» im Frühjahr und Präsident Putins Ansage, die Kontrolle im Bildungswesen besser durchzusetzen, zeigen an, dass der Kreml auch in diesem Bereich keine Grauzonen mehr dulden will.