«Ukrainischer Terror» oder die eigene Luftverteidigung: Wer ist schuld am opferreichsten Angriff auf eine russische Stadt seit Kriegsbeginn?

In Belgorod sind am Samstag 25 Personen ums Leben gekommen. Moskau beschuldigt Kiew, verstrickt sich dabei aber in Widersprüche. Zu den offenen Fragen gehört auch, weshalb es so viele Tote gab.

Ivo Mijnssen, Wien 4 min
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Ein Mitglied der Feuerwehr in Belgorod löscht brennende Autos.

Ein Mitglied der Feuerwehr in Belgorod löscht brennende Autos.

Stringer / Reuters

Viele Bewohner von Belgorod erledigten ihre Besorgungen für die Neujahrsfeier, als die Explosionen sie jäh aus der Normalität rissen. Am frühen Samstagnachmittag schlugen verschiedene Objekte im Zentrum der russischen Grenzstadt ein. Sie töteten 25 Personen, auch Kinder, und verwundeten mehr als 100. Laut Angaben des Gouverneurs wurden zudem 44 Gebäude beschädigt und 50 Autos zerstört.

Der vom Kreml losgetretene Krieg in der Ukraine hat Belgorod damit in seiner vollen Brutalität erreicht. Die Gesellschaft wirkt geschockt, nicht zuletzt über die auf sozialen Netzwerken geteilten Videos: Sie zeigen brennende Fahrzeuge, neben denen Menschen in Blutlachen liegen. Frauen, Kinder schreien panisch auf und rennen verzweifelt weg vom Rauch und von den Trümmern.

Widersprüchliche Versionen aus Moskau und Kiew

Der Kreml und seine Propagandisten zögerten nur kurz, bevor sie die «ukrainischen Nazis» für den «Terrorangriff gegen die Zivilbevölkerung» verantwortlich machten. Das «Kiewer Regime» habe seine Wut über die Rückschläge an der Front an den einfachen Russen ausgelassen, heisst es aus dem Verteidigungsministerium. Es habe Belgorod deshalb bewusst mit Streumunition und Raketen beschossen.

Die Regierung in Kiew kommentierte die Explosionen bisher nicht. Quellen aus den Sicherheitsdiensten sprachen gegenüber ukrainischen Medien aber von einem Angriff mit Raketen auf militärische Ziele in der Region. Bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag hatten die Streitkräfte die präzedenzlose Zahl von über 70 Drohnen gegen Russland losgeschickt. Sie nahmen damit unter anderem eine Rüstungsfabrik ins Visier. Die Luftverteidigung fing weniger als die Hälfte ab.

«Diese Massnahmen sind die Folge des barbarischen Beschusses von Dnipro, Charkiw, Odessa und der Ermordung friedlicher Bürger», sagte ein Behördenvertreter gegenüber der News-Website rbk.ua. Er nahm damit Bezug auf die heftigste russische Raketenattacke seit Kriegsbeginn, der am Freitagmorgen über 40 Menschenleben zum Opfer gefallen waren. In der Nacht auf Sonntag forderten neue Angriffe 28 Verletzte in Charkiw.

Die anonymen ukrainischen Gesprächspartner streiten allerdings ab, als Vergeltung absichtlich Zivilisten ins Visier genommen zu haben. Es wäre dies ein Bruch mit der bisherigen Kriegsführung: Zwar geraten auch friedliche Bewohner frontnaher Regionen immer wieder unter Artilleriebeschuss, so etwa in der russisch besetzten Stadt Donezk. Wahllosen Raketenterror gegen Städte und deren zivile Infrastruktur übt aber nur Moskau aus – Dutzende Male seit Februar 2022.

Eine Frau schaut durch die zerborstenen Fenster ihrer Wohnung auf eine Strasse in Belgorod.

Eine Frau schaut durch die zerborstenen Fenster ihrer Wohnung auf eine Strasse in Belgorod.

Imago

Die Widersprüche der russischen Darstellung

Die inkohärente und unglaubwürdige russische Informationspolitik trägt wenig zur Klärung dessen bei, was in Belgorod geschah. Auch die früher oft aktivistischen kremlnahen Militärblogger geben lediglich die offizielle Version des Verteidigungsministeriums wieder.

Diese behauptet etwa, dass von Tschechien gelieferte Mehrfachraketenwerfer des Typs RM-70 Vampire für den Beschuss verantwortlich seien. Allerdings beträgt deren Reichweite lediglich 20 Kilometer – 15 weniger als die Distanz zwischen Belgorod und der ukrainischen Grenze. Die Osint-Analysten von The Intel Crab weisen auch die Behauptung der Russen zurück, dass der ukrainische Mehrfachraketenwerfer Wilcha die Stadt beschossen habe. Dieser hätte zwar eine grössere Reichweite, doch seien die auf Video festgehaltenen Explosionen zu klein für dessen schwere Raketen.

Die Schäden durch russische Angriffe in Charkiw sind erheblich grösser als die Schäden in Belgorod.

Die Schäden durch russische Angriffe in Charkiw sind erheblich grösser als die Schäden in Belgorod.

Stringer / Reuters

Zudem änderten die Russen im Verlauf des Samstags ihre Darstellung. Sowohl die Stadtverwaltung als auch das Verteidigungsministerium meldeten zunächst, die Explosionen im Zentrum Belgorods seien durch herabfallende Trümmerteile ausgelöst worden. Diese stammten von zerstörten Raketen. «Unsere Luftverteidigung hat sie alle abgeschossen!», verkündeten die lokalen Behörden Mitte Nachmittag noch triumphierend. Einige Stunden später hiess es, die Ukrainer hätten bewusst auf die Innenstadt gezielt.

Dies lässt sich zwar nicht ausschliessen. Doch wie The Intel Crab auf X schreibt, sind auf keinem Bild aus Belgorod Krater zu sehen, die Raketen oder schwere Artillerie bei einem direkten Einschlag hinterlassen würden. Die anonymen Quellen in den ukrainischen Sicherheitsdiensten führen die Explosionen in der Stadt auf «unprofessionelles Handeln der russischen Luftverteidigung» zurück.

Das ukrainische Portal «Euromaidan Press» publizierte am Sonntag eine Analyse, welche dieser Version weitere Plausibilität verleiht: Demnach galten die Attacken mit Drohnen und Mehrfachraketenwerfern am Wochenende Positionen, aus denen die Russen die ukrainischen Städte angegriffen hatten. Charkiw war primär mit S-300-Raketen beschossen worden, die im Gegensatz zu Marschflugkörpern nicht aus grosser Distanz abgefeuert werden können. Eine dieser Stellungen soll sich direkt bei Belgorod befinden, was erklären könnte, weshalb die Trümmer über der Stadt niedergingen.

Die Tücken der Luftverteidigung

Für viele Ukrainer dürfte diese oft tödliche und tragische Begleiterscheinung der Luftverteidigung ein Déjà-vu darstellen: Auch sie beklagen immer wieder Opfer durch Trümmerteile, obschon etwa das Patriot-System über Kiew bisher alle gegnerischen Raketen abgeschossen hat. Militärische und zivile Ziele lassen sich nicht sauber trennen, und auch die Ukrainer nehmen «Kollateralschäden» in Kauf.

Dennoch schockiert die grosse Zahl der Toten in Belgorod – zumal die Grössenordnung des Angriffs kaum mit den gezielten russischen Hightech-Raketenattacken auf ukrainische Städte zu vergleichen ist. Sie könnte mit dem grossen Verkehrsaufkommen in der Innenstadt kurz vor dem Feiertag zu tun haben, möglicherweise aber auch damit, dass laut Medienberichten viele Schutzräume nicht zugänglich waren. Klarheit würden Bilder der Trümmer schaffen. Diese sind bisher aber nicht in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Das stärkt das Vertrauen in die Behauptungen des Kremls nicht.